Das Internet hat Körper und Seele unserer Kinder gebissen
Elektronisches Heroin? - In China geht die Angst vor dem Internet um
Lun Xun, "grand old man" der modernen chinesischen Literatur, veröffentlichte 1918 seine bekannte Erzählung Das Tagebuch eines Verrückten und charakterisierte darin die als feindlich empfundene Wirklichkeit Chinas symbolisch als eine Gesellschaft, die mehr als viertausend Jahre lang eine Welt von Menschenfressern war und immer geblieben sei. Er appellierte an die Zeitgenossen: "Beseitigt die Menschenfresser!" - Es war dies ein "Aufruf zum Kampf" - und zwar im gleichen Sinne wie der Aufruf des Verrückten, der am Ende seines Tagebuchs schrieb: "Rettet, rettet die Kinder...", denn er wusste, dass es in der Welt der Zukunft für Menschenfresser keinen Platz geben würde. Der gleiche Aufruf ertönt, will man der Presse glauben, inzwischen wieder - im Internetzeitalter, und zwar "aus dem Mund einer verzweifelten chinesischen Mutter": Rettet die Kinder!
Blutrünstige Bestien und kleiner Internet-Wurm
Im Chinesischen gibt es eine Redewendung tan hu se bian, was so viel heißt wie: schon beim Wort 'Tiger' erblassen, oder: man bekommt es schon mit der Angst zu tun, wenn etwas Schreckliches auch nur erwähnt wird. In der chinesischen Debatte über das Internet in China sieht man ab und zu eine 'neue Redewendung' - tan wang se bian, auf Deutsch: schon beim Wort 'Internet' erblassen. Gemeint sind damit die Eltern und Lehrer, wenn sie über 'Kinder und Internet' sprechen. In diesem Zusammenhang taucht oft auch noch eine andere Redewendung auf: honshui mengshou, wörtlich: verheerende Fluten und blutrünstige Bestien. Hier ist von einem drohenden Unheil die Rede.
In den Augen vieler Eltern und Lehrer stellt das Internet in der Tat eine schreckliche Gefahr für die Kinder dar, die sozusagen den Online-Spielen verfallen sind. Außerdem machen die erotischen Angebote und das neue Phänomen der Cyber-Liebe die Erwachsenen fassungslos. All das erfüllt sie mit panischer Furcht. Hinzu kommen noch die 'Gewalt' und das angeblich 'Reaktionäre' in den Internetangeboten; diese wirkliche oder vermeintliche Ballung von Schattenseiten wird dann bisweilen ausgedrückt mit der chinesischen Metaphorik der Farben, als Weiß (bösartig und unheilvoll), Gelb (Sex bzw. Erotik) und Schwarz (Gewalt).
Dem CNNIC-Bericht (7/2003) zufolge machen Schüler unter 18 Jahren 17,1% aller chinesischen Internetnutzer aus; in der Rubrik 'Beruf der User' sind Schüler oder Studenten mit 30,1% die größte Gruppe. Eine umfassende Umfrage in Peking zeigt, dass 81,3% der Mittel- und Grundschüler ins Internet gehen, 22% mehr als in der Vergleichsgruppe der Erwachsenen der Hauptstadt. Dabei nutzen sich 70% der Schüler Chatrooms, während 40% der jungen Internetnutzer Stammgäste der erotischen Websites sind. Eine ähnliche Umfrage in Shanghai zeigt noch, dass 70% der Schüler gern ins Internet gehen, um online zu spielen; hingegen nutzen 52,6% der Schülerinnen lieber den Chatroom.
Ein Schüler sagte beim Interview:
Wer noch nicht einmal ins Internet gegangen ist, wird einfach ausgelacht. Daher gibt man sich gerne als 'xiao wang chong', also 'kleiner Internet-Wurm'. Besonders beim Online-Spiel wird man nie müde - und spielt jeden Tag bis zum Umfallen.
Vor diesem Hintergrund spricht man nun sogar von einer Art "elektronischem Heroin" für Kinder. Eine Mutter aus Peking erzählt, was ihre Tochter ihr verraten hat:
Ich kann mich einfach nicht mehr beherrschen und fühle mich schlecht, wenn ich einen Tag nicht ins Internet gehe. Jeden Tag muss ich drin sein, wenn auch nur für einen Augenblick.
Seitdem die Tochter auf das Chatten versessen ist, sanken ihre Leistungen in der Schule zusehends. Jeder Überredungsversuch aber erwies sich als fruchtlos. Für diese Mutter ist Internet nicht mehr ein Medium, das angeblich das Denken der Menschen des 21. Jahrhunderts verändert. Es ist einfach eine Art 'Opium' für die Jugendlichen. In den Augen vieler Eltern ist das Internet tatsächlich ein soziales Problem, das kritische Dimensionen erreicht hat, geworden.
Vermisst wegen Internet
Seit einiger Zeit wird in den chinesischen Medien immer wieder berichtet, wie die Internet-Sucht Schüler zu extremen Verhaltensformen treibt: So sollen 6 Jugendliche im Alter von 15 bis 16 aus der Stadt Wuhan die Schule abgebrochen und, um genügend Geld für den Internetcafé-Besuch zusammenzubekommen, Raubdelikte begangen haben. Ein 13jähriger Junge aus Chengdu erlitt nach einem 25stündigen Aufenthalt in einer Wangba (Internetcafé) eine Netzhautablösung. Er hatte zuvor in der Schule um 2 Tage Krankenurlaub gebeten und zu Hause vorgegeben, an einem Schulausflug teilzunehmen. Es scheint um Rekorde zu gehen: Ein 14jähriger Junge aus Dezhou hat 40 Stunden in einer Wangba verbracht, die auch Kost und Logis anbietet, bis er schließlich neben dem Computer in Ohnmacht fiel. Ein anderer Junge aus der Provinz Zhejiang hat drei Nächte hindurch online verbracht und, weil danach sein Vater ihm verbot, zum Internetcafé zu gehen, sprang er aus dem Fenster und hat sich so seinem Internet-Traum geopfert.
Es wird auch immer wieder von Fällen des wangluo shizong'an (vermisst wegen Internet) berichtet: So haben im vorigen Jahr zwei 14jährige Schulmädchen aus Shanghai mit den Chatroom-Namen "Stoffpuppe" und "Schnellflocke" Cyber-Freunde kennen gelernt und ohne Abschied ihre Familien verlassen. Erst durch eine landesweite, aufsehenerregende Suchaktion, durchgeführt auf mehr als 800 Websites, angeführt von Lycos.cn, sind sie nach 34 Tagen gefunden worden. Der 15jährige Xiaoxiao aus Peking war zwei Monate lang spurlos verschwunden, um Tag und Nacht in einer Wangba zu bleiben. Infolge einer Cyber-Liebe verließ ein Mädchen aus Hunan die Familie, ging nach Baotou, um dort ihre Liebe kennen zu lernen. Was die Leser am meisten in Erschütterung versetzt, ist die Verabredung nach einer platonischen aber spritzigen Cyber-Liebesaffäre, wenn es dabei zu einer Vergewaltigung kommt, oder gar zu mehrfachen Vergewaltigungen durch den vermeintlichen Cyber-Freund und seine Kumpane: Eine 14jährige Cyber-Freundin wurde fünf Tage lang Opfer von sieben Männern. Solche Berichte sind inzwischen schon keine Seltenheit mehr.
In der Tat hat das als wanglian (Cyber-Liebe, vgl. Wanglian)) bekannt gewordene 'Massenphänomen' unter den Internetnutzern die Minderjährigen auch nicht verschont: Eine 17jährige aus Neijiang hat im Internet einen Gleichaltrigen mit dem Namen 'Kleiner General' kennen gelernt und wurde von der heftigen Liebesoffensive innerhalb von fünf Tagen gefangengenommen. Wie viele Chinesen an yuanfen (Schicksalsfügung) glaubend, brach sie auf, ohne sich in der Schule zu entschuldigen, und fuhr nach Changzhou. Nach einer Reise von ca. 1800 km fand sie aber einen 12Jährigen vor - einen Grundschüler! Wenn man in bezug auf die Kinder das Internet mit 'Tigern' und 'Bestien' vergleicht, so versteht sich von selbst die folgende Aussage: "Das Internet hat Körper und Seele unserer Kinder gebissen."
Das sind natürlich nur Extremfälle. Was vielen Eltern am meisten Sorgen macht, ist das Online-Spiel, ein Spiel ohne Ende, dergestalt, dass man fast nicht mehr ans Essen und Schlafen denkt. Spielsalons sind weniger geworden, dafür sind die Internetcafés entstanden, seufzen manche Eltern: Das sei aber noch schlimmer! Nach einer Statistik sind 70% der Internetcafés-Besucher Studenten und Schüler, in der Nähe von Universitäten und Schulen sind es sogar 90%. Die Mittel- und Grundschüler wollen, obwohl sie - wenigstens in den besser verdienenden Familien - nicht selten zu Hause auch Internet-Verbindung haben, einfach hier die Stimmung erleben und zum Beispiel interaktiv mit dem Kumpel nebenan online spielen. Man kann hier im Cyberspace kämpfen und sich dabei austoben.
Generationskonflikt?
Viele Eltern wissen schon, dass das Internet eigentlich eine ideale Plattform anbietet zum Lernen, zur Erweiterung des Blickfeldes, zum Austausch, oder auch für's sogenannte Entertainment. Angesichts der Tatsache aber, dass nicht wenige Schüler wegen ihrer "Internet-Sucht" ihre schulische Arbeit und die Hausaufgaben vernachlässigen oder sogar die Schule unterbrechen, kommen immer mehr Eltern zu der Schlussfolgerung, dass das Internet für ihre Kinder eher ein zweischneidiges Schwert ist. Und zur Zeit sieht diese Gruppe von Eltern und Lehrern im Internet selbstverständlich mehr Nachteile als Vorteile. Ist der Schaden größer als der Nutzen oder umgekehrt? Eine Umfrage zeigt das Ergebnis: 24,22% der gefragten Eltern und Lehrer finden den Schaden größer, während 39,75% der Gefragten sich für den Nutzen entschieden und die anderen 36,03% unentschlossen sind.
Die Eltern und Lehrer, welche Internet-Müll 'Weiß-Gelb-Schwarz' ablehnen, fühlen sich oft machtlos. In ihren Augen hat das Internet in gewisser Hinsicht eine Art Generationskonflikt ausgelöst oder die bestehende Schlucht zwischen den Generationen vergrößert. Die Mitschüler von "Stoffpuppe" und "Schnellflocke" sagen zum Beispiel:
Wir gehen auch gerne ins Internet, fühlen uns dann reifer und selbständiger. Aber was verschiedene Auslöser von Kummer angeht, den wir infolge des Internet erfahren haben, so können wir deswegen weder Lehrer noch Eltern fragen. Sie haben doch keine Ahnung!
Die Eltern der heutigen Schüler sind meistens in den 50er oder 60er Jahren geboren und haben wegen der 'Kulturrevolution' keine vollständige Schulerziehung hinter sich. So setzen sie große Hoffnungen in ihre Kinder, die mindestens mehr Büchern entnommene Kenntnisse als sie haben, und kaufen ihnen einen Computer, was für die meisten chinesischen Haushalte immer noch ein teuerer Spaß ist. Was die Kinder damit machen, ist dann deren Sache. Wenn es um IT geht, können sie sich nur überfragt fühlen. Und sehr oft müssen sie zugeben, dass sie heutzutage immer weniger von den Kindern wissen, die hingegen immer mehr von ihren Eltern wissen. Was die Eltern interessiert, sind nur die Leistungen ihrer Kinder in der Schule. Wenn die Kinder eine Art Depression spüren, so bildet das Internet einen idealen Kanal dafür, sich Luft zu machen und im Netz den Gefühlen und Launen freien Lauf zu lassen.
Es ist sehr leicht möglich, dass die Kinder, wenn sie schon vom Internet 'besessen' sind, in einer illusorischen oder imaginären Welt herumirren. (Sie finden im Netz angeblich eine Cyber-Stütze und Cyber-Trost.) Was tun? Einige Pädagogen und Soziologen schlagen vor: Die Eltern sollten sich dem Trend der Welt anpassen, ihre Kenntnisse erneuern und zusammen mit den Kindern neue Sachen lernen, damit eine Basis für gleichberechtigten Gedankenaustausch aufgebaut würde. Denn in bezug auf Kenntnisse und Information sei jene einstmals gegebene Autorität der traditionellen Familie schon längst nicht mehr da. Nur aufgrund einer gemeinsamen Sprache und mit Hilfe ihrer Lebenserfahrungen könnten die Eltern ihre Kinder 'anleiten'.
Ist das ein Wunschdenken? Die Mutter, die in einem Zeitungs-Artikel "Rettet die Kinder" rief, ist eine 46jährige Frau aus der Stadt Rikaze (Gyangtse) in Tibet. Sie sieht ihren 11jährigen Sohn oft Tage lang nicht, weil er sich in irgendeinem Raum der zehn registrierten Internetcafés der immer noch sehr rückständigen Stadt aufhält. Schafft sie es? Wo kann sie ihre Kenntnisse erneuern? Sie kommt wohl kaum dorthin, wo fast 90% der Besucher Schüler sind und gerade online spielen: "Nach der Schule komme ich hierher. Das ist meine obligatorische Hausaufgabe", sagt einer von ihnen.
Weigui Fang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des medienwissenschaftlich-sinologischen Forschungsprojekts "Das Internet in China" an der Universität Trier