Das Jahr der Grenzverletzungen
Bild: UnreifeKirsche, CC BY-SA 3.0
Grenzen trennen und teilen nicht nur, sie markieren auch RĂ€nder und Enden. Sie wirken nach innen und auĂen. Wie wir auf die Zerstörung staatlicher Grenzen und die Ăberschreitung der Limits mentaler Belastbarkeit gleichsam reagieren können.
PhĂ€nomene wie Freiheit sind ursĂ€chlich auf Grenzen und deren Ăberwindung rĂŒckfĂŒhrbar. Ethik und Moral hingegen grĂŒnden auf deren Anerkennung. Es existieren sichtbare physische GrenzverlĂ€ufe, aber auch unsichtbare Begrenzungen, Barrieren und Schranken, wie etwa jene eingeschrĂ€nkter MobilitĂ€t zwischen sozialen Gruppen.
Indem Grenzen nach auĂen exkludieren, suggerieren sie â oftmals fĂ€lschlich â, das Ganze nach innen zusammenzuhalten und fĂŒr IntegritĂ€t zu sorgen. Doch vielfach bleiben Begrenzungen auch im Innen bestehen: sichtbare und unsichtbare, transparente TrennwĂ€nde als unerbittliche glĂ€serne Decken.
Nicht-Orte der Grenze
Wie flĂŒchtige Punkte der Ăbergabe sind Grenzen weder Teil des einen noch des anderen, Ă€hnlich wie das zwischen Demarkationslinien liegende Niemandsland. Grenzen trugen in der Antike mehrere Bedeutungen: zum einen reprĂ€sentierten sie das rĂ€umliche Ende, zum anderen das rĂ€umlich-zeitliche Enden im Sinne eines Zieles, woraus sich schlieĂlich auch das Denken des Ăbergangs von einem Zustand zum nĂ€chsten ergab.
Seit den Vorsokratikern, im Besonderen Anaximandros, wurde nicht nur die Begrenztheit, sondern auch deren Gegenteil, die vollstĂ€ndige Abwesenheit von Grenzen, die absolute Unbegrenztheit diskutiert. Diesem UnbeschrĂ€nkten lagen kosmogonische Vorstellungen des Grenzenlosen, zeitlich Ewigen, Unendlichen und UnzĂ€hlbaren zugrunde. Ăhnlich dem gegenwĂ€rtigen Freiheitsbegriff konnte sich das UnbeschrĂ€nkte durch den Wegfall von Begrenzung zu seiner Vollendung entfalten.
Positiv gewendet kann daher die Grenze nicht nur als Endpunkt verstanden werden, sondern auch als jener Punkt, von dem aus alles einen ermöglichenden Ausgang nimmt. Die UrsprĂŒnglichkeit des Anbeginns, von dem aus ein Fortgang erfolgt, zĂ€hlt zu den schwer fassbaren Grenzbereichen. Auch die Gegenwart, als verbindende und gleichzeitig trennende Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft zĂ€hlt zu jenen PhĂ€nomenen, die einem schwierig zu lokalisierenden Grenzverlauf entspricht.
Die verschiedenen Arten von Grenzen aufgrund rĂ€umlicher oder zeitlicher Wahrnehmung können hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Dimensionen klar und unmissverstĂ€ndlich vorgestellt werden. DemgegenĂŒber sind allmĂ€hliche Ănderungen innerhalb eines Kontinuums, in welchem die Grenzen flieĂend werden, viel schwieriger zu denken, wie der deutsche Philosoph Franz Brentano [1] zeigte.
Gleichzeitig markieren sie jedoch jenen Anbeginn, von dem aus die meisten Menschen beabsichtigen, in eine verheiĂungsvolle Zukunft zu starten, von dem aus sie PlĂ€ne schmieden.
Politische Demarkationslinien und TransitrÀume
WĂ€hrend gesetzte oder gezogene Grenzen zumeist gewaltvolle Begrenzungen reprĂ€sentieren, entstehen flieĂende GrenzverlĂ€ufe oftmals von selbst. In der Natur ergeben sich solche hĂ€ufig aus der Verringerung der Distanz verschiedener Populationen zueinander, wodurch LebensrĂ€ume entstehen, Gebiete mit gewachsenen, teils unscharfen, umstrittenen Grenzen.
Im Zuge des Zivilisationsprozesses entstanden unzÀhlige diffuse Einfassungen im heterogenen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext. Bis hin zu sozialen Zutrittsschwellen, sprachlichen, kulturellen und ethnischen Begrenzungen der Anerkennung und Zugehörigkeit reicht die Vielfalt des PhÀnomens.
Viele dieser Barrieren und Schwellen wurden im Laufe der Kulturgeschichte nicht beseitigt, sondern nur transformiert. Erst das dialogische Ăberwinden dieser Grenzen fĂŒhrt letztlich zum Verstehen von BeweggrĂŒnden der jeweils Anderen, jenseits der Barriere. Vielfach sind es scharfe soziale Kanten von access, die Inneres vom marginalisierten AuĂerhalb trennen und dadurch dessen Chancen limitieren.
Scheinbar triviale ĂbergĂ€nge von einem Territorium zu einem anderen sind zwar rĂ€umlich fassbar, oftmals jedoch Prozesse, deren zeitliche Erstreckung ungewiss ist. Wie der zwischen zwei GrenzzĂ€unen gelegene, mit der Bezeichnung Niemandsland versehene Streifen, ist auch sein korrespondierendes GegenstĂŒck, der Transitbereich, ein raumzeitlicher Ort des Ăbergangs, des Dazwischen.
FĂŒr Durchreisende wirken Grenzziehungen in dieser Zone der Leere auf den ersten Blick unerheblich, da der Raum des Dazwischen weder zum Herkunfts- noch zum Ankunftsort zĂ€hlt, terra nullius.
In solchen neutralen Transitzonen finden daher zumeist nur reduzierte Formen des Austausches statt: ein aneinander Vorbeistreifen von Zugehörigen jeweils ferner oder entgegengesetzter Orte jenseits der Grenze, jedoch kein Verweilen, kein Leben, kein Gehören-zu, nur uneigentliches, vorlÀufiges Begegnen.
Kriege zerstören GegenrÀume
Gesellschaftlich errichtete Barrieren ökonomischer, politischer oder religiöser Provenienz, mit der diesen innewohnenden latenten Gewalt, wirken aus der Innenperspektive wie ein Zusammenhalt Gleichgesinnter gegen ein gedachtes AuĂen.
Die negativen Begleiterscheinungen des Nationalismus etwa, der sich vielfach als scheinbar neutrale Interessengemeinschaft maskiert, mĂŒnden in der Neuerrichtung schattenloser Grenzen. Auch innerstaatliche Demarkationslinien werden â wie kĂŒrzlich vonseiten des US-amerikanischen Supreme-Court [2] â infrage gestellt und leichtfertig ĂŒberschritten, wie rĂŒckwĂ€rtsgewandte GrenzĂŒbertritte.
Das EinreiĂen von GrenzzĂ€unen kann dem Ausbruch dienen, wie der "Fall der Mauer" 1989 eindrucksvoll zeigte. Das durchbrechende Ăberschreiten von Begrenzungen mĂŒndet jedoch zumeist in Gegengewalt, im Extremfall in Kriegen.
Nicht nur die bellizistische Gegenwart Europas ist ein Beispiel dafĂŒr, auch die gewaltdurchsetzten Kolonisatoren â jene der vergangenen Jahrhunderte und die gegenwĂ€rtigen â ĂŒbertraten und ĂŒbertreten sichtbare und unsichtbare Grenzlinien.
Deren Folgewirkungen und ErschĂŒtterungen sind unĂŒbersehbar und bleiben als Ăberreste noch Jahrhunderte spĂ€ter in Form von Schranken und EinschrĂ€nkungen bestehen: als politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bruchlinien menschlichen Zusammenlebens.
Doch nicht nur nationalstaatliche Grenzen wurden in diesem abgelaufenen Jahr gewaltvoll eingerissen. Auch die unfassliche Grenze von 100 Millionen Menschen weltweit [3] â unter diesen Millionen an Kindern â wurde ĂŒberschritten.
Ăber 100 Millionen, die aufgrund von Kriegen, struktureller Gewalt, kontinuierlicher Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung sowie Hungersnöten und Naturkatastrophen ihr Heim verloren und zu internationaler sowie innerstaatlicher Flucht gezwungen wurden.
Es bestĂŒrzt, wie vonseiten autoritĂ€rer Regime und totalitĂ€rer Theokratien [4] auf Tagesbasis gesellschaftliche Schranken ĂŒberschritten werden und es erfĂŒllt mit Hoffnung, mit welch bewundernswerter Zivilcourage, Gegengewalt und Opferbereitschaft diese Grenzverletzungen beantwortet und bekĂ€mpft werden.
Mittlerweile wurden auch die gesamtgesellschaftlichen Limits mentaler Belastbarkeit vielerorts in Europa ĂŒberschritten. Diese Ăberbelastung mĂŒndete â ĂŒber sĂ€mtliche gesellschaftlichen Sinusmilieus hinweg â in ErschöpfungszustĂ€nden und in weiterer Folge im groĂflĂ€chigen Zusammenbruch konstruktiver Kommunikation. Der RĂŒckzug von zielgerichteter, dynamischer AktivitĂ€t, samt Debatten und Dialogen, zu reaktivem Handeln und passiver Aggression mutet an wie ersatzloses Zerbrechen von Unterredungen.
Das menschliche Leben droht fortan im Dazwischen zu verlaufen, in einem schmalen Grenzstreifen zwischen erratischer AktivitÀt und resignativem Stillstand. Ein durchwegs uneigentliches Fortsetzen lÀstiger Lebenswirklichkeit, das sich vieler Menschen zu bemÀchtigen droht; nur wenige werden dem Sog der Entindividualisierung widerstehen.
Dem Aufbau und der StĂ€rkung von Resilienz und Zuversicht gilt es daher kĂŒnftig höchste individuelle und politische Aufmerksamkeit zu widmen.
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler. Er ist Autor von "LĂŒge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes" (2022), "Verbalradikalismus" (2. Aufl., 2021) und "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" (2020).
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Links in diesem Artikel:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Brentano
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Roe_v._Wade
[3] https://news.un.org/en/story/2022/12/1131957
[4] https://www.bbc.com/news/world-middle-east-64062900
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