Das Leben nach dem Einschlag der fiskalischen Neutronenbombe
Seite 2: "Faktisch so pleite wie Griechenland"
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Detroit hat verschiedene Privatisierungsorgien über sich ergehen lassen müssen. Welche Effekte hat das auf die Bevölkerung?
Katja Kullmann: Gerade zum vergangenen Weihnachtsfest hat die Stadtverwaltung angekündigt, weitere 1.000 Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen und das Gehalt der verbliebenen Beschäftigten um weitere zehn Prozent zu kürzen. Faktisch ist Detroit so pleite wie Griechenland. Für die Anwohner hat das, abgesehen von der Arbeitslosigkeit, gravierende Folgen.
Am auffälligsten ist es bei der Schulfrage: Allein 2011 wurden 60 öffentliche Grundschulen im Detroiter Stadtgebiet geschlossen. Die Kinder aus den betroffenen Gegenden werden jetzt mit Schulbussen quer durch die Stadt zu anderen Schulen verfrachtet, wo bis zu 45 Kinder in einer Klasse sitzen. Und das, obwohl die Schwänzer- und Abbrecherquote sowieso schon wahnsinnig hoch ist. Nun setzt man diese Kinder aus den ärmsten Familien also in Busse, die manchmal über eine Stunde unterwegs sind, und zwängt sie dann mit Kindern zusammen, die aus ganz anderen Gang-Vierteln kommen. Für die Mütter, die ich gesprochen habe, eine davon zieht als Alleinerziehende fünf minderjährige Kinder auf, ist das eine Katastrophe. Man spricht in Detroit von einer Zukunft als "kreativer Wissensstandort" und schränkt gleichzeitig die Chancen auf eine gescheite Schulbildung für die Mehrheit der Kinder weiter ein.
Das angebliche Geheimrezept nennt sich "charter schools". Das sind Schulen, die von privaten Trägern finanziert werden und nun an den neuerdings gefragteren Ecken in früheren Polizeistationen oder Firmengebäuden eingerichtet werden, oft sehr gut ausgestattet. Die Kinder werden per Losverfahren aufgenommen. Die sei doch ein vollkommen "demokratisches" Prinzip, bekam ich immer wieder zu hören. Zunächst ist der Besuch dieser Privatschulen auch kostenlos für jeden. Aber es steht den Schulen frei, eines Tages auch Gebühren zu erheben. Für diese Fälle gebe es ja ein sehr gut ausgebildetes Stipendien-System in den USA, erklärte man mir zur Beruhigung. Tja - so wird ein Arme-Leute-Kind künftig womöglich bei einem Stiftungs-Gönner darum bitten müssen, eine ordentliche Schule besuchen zu dürfen.
Wie sieht es mit dem öffentlichen Verkehrsnetz aus und wird dieses von der Bevölkerung benützt?
Katja Kullmann: Das Gemeine ist, dass Detroit vollkommen auf Autos ausgerichtet ist, über 5.000 Kilometer Straßen ziehen sich durch die Stadt. Wer sich kein Auto leisten kann, hängt praktisch fest. Deshalb ist das öffentliche Bussystem so wichtig für die Anwohner. Aber auch hier wird ständig gekürzt. Zuletzt wurden wieder über 130 Busfahrer entlassen. Das führt dazu, dass manche Linien eingestellt werden, bestimmte Gegenden werden gar nicht mehr angefahren. Eine arbeitslose Frau hat mir erklärt, was das bedeutet: Wenn sie denn endlich mal ein Vorstellungsgespräch ergattert hat irgendwo, muss sie immer erst mal die Anfahrt organisieren. Sie, die wirklich kaum Geld hat, musste sich sogar schon mal ein Taxi buchen, um zu einem Job-Interview zu kommen. Bis zur nächsten Bushaltestelle sei es jetzt sehr weit, erklärte sie, oft kämen die Busse zu spät oder auch mal gar nicht - bei einem wichtigen Termin könne man sich nicht auf sie verlassen. Und so bezahlt diese Frau also jede kleine Chance, doch wieder mal ins Gespräch für einen Job zu kommen, mit einem ungeheuren Aufwand und mit Dollars, die sie eigentlich gar nicht hat beziehungsweise für ganz andere Dinge bräuchte.
"Subprime Mortage Crisis"
Wie hat Detroit unter der gegenwärtigen Wirtschaftskrise zu leiden?
Katja Kullmann: In Detroit wurde einst das Fließband erfunden - und nun ist die Stadt ein Vorreiter für das, was wir auch in Europa den Post-Fordismus nennen. Ehemals solide Arbeitsplätze fallen weg oder werden umgewandelt in "flexibilisierte" Erwerbsverhältnisse. Das gilt auch für die alte Automobilindustrie. Es werden ja weiterhin Autos in Detroit hergestellt. Aber auch bei diesen großen alten Arbeitgebern weht jetzt ein neuer Wind: Entlassene Arbeiter werden nach einer gewissen Karenz wieder eingestellt - jetzt aber als Leih- oder Aushilfskräfte zu deutlich schlechteren Konditionen. Es gibt Schätzungen, nach denen mindestens ein Drittel der verbliebenen Beschäftigten in der Auto-Industrie unter post-fordistischen Vorgaben arbeitet - die Arbeit ist im Kern zwar dieselbe, die Entlohnung und soziale Absicherung aber weitgehend ausgehöhlt.
Auch die so genannte Kreditblase hat in Detroit zugeschlagen. Subprime Mortage Crisis heißt es im Fachjargon. Es bedeutet, verkürzt gesagt, dass die Bankschulden, die der jeweilige Hausbesitzer zurückzahlen muss, oft deutlich höher liegen als die Immobilie wert ist. An die elf Millionen Wohnhäuser, etwa ein Viertel aller US-Eigenheime, sollen derzeit "unter Wasser stehen", das heißt, die Bewohner können die Raten nicht mehr zahlen. Im vergangenen Jahr gab es mehr als eine Million Zwangsversteigerungen in den USA, allein in Detroit soll es an die 20.000 Haushalte getroffen haben.
" Bestimmte Gegenden sollen ganz bewusst aufgegeben werden"
Sie schreiben, ein Viertel der Fläche von Detroit ist komplett verwaist und teilweise haben sich Füchse und Waschbären den Lebensraum zurückerobert. Was macht die Stadt mit solchen Vierteln? Leben dort überhaupt keine Menschen mehr?
Katja Kullmann: Eine ganze Reihe eifriger und wohlmeinender Stadtplaner erproben in Detroit jetzt eine ganz neue Strategie. Ein gezielter Rückzug, ein sanft gesteuerter Schrumpfungsprozess wird dabei angestrebt. Bestimmte Gegenden, in denen nur noch sehr wenige Menschen ohne große Lobby wohnen, sollen ganz bewusst aufgegeben werden. Dort werden nach und nach nicht nur die Buslinien eingestellt, auch die Straßenbeleuchtung wird eingeschränkt undsoweiter. Es gibt Gerüchte, nach denen nicht einmal Krankenwagen diese Gegenden noch verlässlich anfahren. Ich habe viele Geschichten gehört, nach denen junge Männer nach gewaltsamen Auseinandersetzungen auf offener Straße verblutet sind, weil einfach keine Ambulanz rechtzeitig aufgetaucht ist.
Die Stadtplaner - ich habe einen sehr freundlichen und aufgeschlossenen Urban-Studies-Professor der örtlichen Wayne State University kennen gelernt - müssen sehen, wie sie mit einem städtischen Budget von Nullkommanull weitermachen können. Es kostet zum Beispiel ein Wahnsinnsgeld, riesige Gebiete, die fast menschenleer sind, noch am Strom- und Abwassernetz zu halten. Also plädieren auch die Stadtsoziologen in Detroit dafür, sich ganz auf bestimmte Entwicklungsgebiete, so genannte demonstration areas im Stadtgebiet zu konzentrieren. Dort soll es weiterhin städtische Investitionen geben, in der Hoffnung, dass nach und nach alle irgendwie näher zusammenrücken und in diesen potenziell erblühenden Vierteln wieder mehr soziales Leben stattfindet, ein gesundes Gemeinwesen neu erwächst.
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