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Das Menschenbild: Zentraler Baustein der Gesellschaft

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sind mehr vom Menschenbild bestimmt, als es auf den ersten Blick zu sein scheint. Mit grundlegenden Folgen. Eine Spurensuche (Teil 1)

"Jeder hat eine Theorie über die menschliche Natur. Jeder muss das Handeln anderer antizipieren, und das heißt, dass wir alle Theorien über die Triebfedern menschlichen Verhaltens haben müssen," gibt der Harvard-Psychologe Steven Pinker über die zentrale Bedeutung des Menschenbildes und unserer Vorstellung von der menschlichen Natur zu bedenken.

Tatsächlich hat wohl jeder Mensch eine eigene Vorstellung von der Natur des Menschen. Unser jeweiliges Menschenbild stellt eine Art Richtschnur für unser eigenes Verhalten dar. Aber dieses Menschenbild spiegelt auch unsere Erwartungshaltung, die wir vom Verhalten anderer Menschen haben. Beides hängt sehr eng zusammen, da unsere Verhaltensweisen in vielen Situationen im Hinblick auf das erwartete Verhalten der anderen - oftmals uns unbekannter - Menschen getroffen werden. Oder, wie der Historiker Rutger Bregman schreibt:

Es gibt nur wenige Vorstellungen, die die Welt so sehr beeinflussen wie unser Menschenbild.

Menschenbild auch in der Wissenschaft von zentraler Bedeutung

Das Menschenbild hat nicht nur im Hinblick auf den einzelnen Menschen eine existentielle Bedeutung, sondern ist auch in vielen Bereichen des Lebens entscheidend. Zahllose Bereiche des Lebens sind von Entscheidungen bestimmt, die Menschen aufgrund ihres Menschenbildes fällen. Wenn der Mensch von Natur aus egoistisch ist, sollte es beispielsweise das Ziel der Erziehung sein, dem Egoismus Grenzen zu setzen; dem Kind sind dann Schritt für Schritt die gesellschaftlichen Normen für das Zusammenleben zu erklären und anzuerziehen.

Wenn der Mensch von Natur aus aber eher altruistisch ist, sollte das Hauptziel der Erziehung darin bestehen, die natürlichen Anlagen des Menschen möglichst frei zur Entfaltung zu bringen. Ist der Mensch von Natur aus ein Konkurrenzwesen und wird besonders nachhaltig durch Konkurrenz motiviert, dann sind Schulnoten ausgesprochen sinnvoll. Ebenso jede andere Form, die den Vergleich der Schüler untereinander ermöglicht und den Wettbewerb antreibt.

Falls aber der Mensch von Natur aus eher kooperativ ist, dann erweist sich gemeinsames Lernen als optimale Lernform und die Notengebung als zweifelhafte, vielleicht sogar destruktive Motivation. Und nicht zuletzt: Ist der Mensch von Natur aus materialistisch, stellt die Konsumgesellschaft eine Selbstverständlichkeit dar. Ist der Mensch jedoch eher genügsam und teilend, dann erscheint eine nachhaltige Wirtschaft, die sich auf die Produktion zentraler Bedürfnisse konzentriert, anstatt bewusst Überfluss zu erzeugen, nicht nur aus ökologischer Sicht sinnvoll, sondern schlicht der Natur des Menschen angemessen.

Das Menschenbild ist auch in der Wissenschaft von zentraler Bedeutung. "Nichts ist so entscheidend für den Stil eines Rechtszeitalters wie die Auffassung vom Menschen, an der es sich orientiert," erklärte beispielsweise der Jurist Gustav Radbruch vor fast einhundert Jahren. Auch andere Wissenschaften basieren zwingend auf einem Menschenbild: Psychologie, Soziologie, Theologie, Pädagogik, Kriminologie oder Wirtschaftswissenschaft (um nur einige zu nennen) stützen sich auf ein Menschenbild, auch wenn selbstverständlich die Menschenbilder, die in einer Wissenschaft benutzt werden, durchaus sehr unterschiedlicher Natur sein können.

Zwischen Hobbes und Rousseau

Eine große Debatte der westlichen Zivilisation bildet seit einigen Jahrhunderten die Frage, ob der Mensch kooperativ geboren und später durch die Gesellschaft verdorben wird oder zunächst egoistisch ist, bevor er von der Gesellschaft erzogen wird. Als Hauptvertreter der beiden Schulen kann man mit einiger Berechtigung Jean-Jacques Rousseau und Thomas Hobbes bezeichnen.

Der englische Staatsphilosoph, der sein Hauptwerk "Leviathan" Mitte des 17. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Englischen Bürgerkriegs schrieb, bezeichnete den Naturzustand des Menschen als den "Krieg alle gegen alle, ein immerwährender Krieg, da er aus dem Hin und Her zwischen von Natur aus gleichen Kräften besteht, ein verständlicher Krieg, da natürlich der Mensch des Menschen Feind ist."

Sein Pendant Rousseau sah im Zeitalter der Aufklärung den Menschen deutlich optimistischer und formulierte in seinem "Diskurs über die Ungleichheit" ein Jahrhundert später:

Und solange er dem inneren Antrieb des Mitleids nicht widersteht, wird er niemals einen anderen Menschen noch selbst irgendeinem empfindenden Wesen etwas zuleide tun, ausgenommen in dem legitimen Fall, in dem seine Erhaltung betroffen ist und er deshalb verpflichtet ist, sich selbst den Vorzug zu geben.

Das Menschenbild im Zeitalter des Kapitalismus

"Einige Kritiker werfen dem Kapitalismus vor, ein egoistisches System zu sein. Aber der Egoismus ist nicht im Kapitalismus - er ist in der Natur des Menschen," argumentiert der Sachbuchautor Dinesh D’Souza. Es lässt sich kaum bestreiten, dass in Zeiten des globalisierten Kapitalismus das Menschenbild von Thomas Hobbes vorherrscht.

Aufbauend auf dem immer wieder zitierten Aussage von Adam Smith: "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihrer Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil" haben viele Wirtschaftswissenschaftler im 20. Jahrhundert die Maximierung des Eigennutzes als Haupteigenschaft des Menschen ausgemacht.

So deklarierte Francis Edgeworth [1] kurz und bündig: "Das erste Prinzip der Wirtschaftslehre besagt, dass jeden Akteur allein das Eigeninteresse antreibt" und der Nobelpreisträger Gary Becker schrieb:

So wird angenommen, dass das Eigeninteresse alle anderen Motive dominiert. (...) Die Dominanz des Eigeninteresses und das Fortbestehen eines gewissen Wohlwollens sind üblicherweise mit dem Hinweis auf die "menschliche Natur" oder mit entsprechenden Argumenten, die das Problem nur umgehen, erklärt worden.

Gary Becker

Eigeninteresse spielt auch eine zentrale Rolle im Modell des Homo Oeconomicus, welches in der Wirtschaftswissenschaft viele Anhänger hat. Bruno Frey beschreibt dies:

Der Agent der volkswirtschaftlichen Theorie ist rational, egoistisch, und seine Präferenzen verändern sich nicht.

Der Kapitalismus scheint diesem Menschenbild perfekt zu entsprechen, da er aufgrund seines Leistungsgedankens den Egoismus des Menschen anspricht und in einer Konkurrenzsituation des Marktes sicherstellen will, dass sich die besten Leistungen durchsetzen.

Eine andere wissenschaftliche Achse, die das Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen stützt, bildet die Evolutionsbiologie. Richard Dawkins betont in seinem Buch "Das egoistische Gen", welches bei einer Umfrage der britische Royal Society über die einflussreichsten wissenschaftlichen Bücher aller Zeiten auf dem Spitzenplatz landete, kurz und bündig: "Dieser Egoismus des Gens wird gewöhnlich egoistisches Verhalten hervorrufen."

Das Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen spielt aktuell auch in zahllosen anderen Wissenschaften und Wissenschaftszweigen eine grundlegende Rolle. Die Grundlage der Spieltheorie beispielsweise, einer mathematischen Theorie, die rationales Entscheidungsverhalten modelliert, wurde von John von Neumann gelegt. Als Erklärung, warum egoistisches Verhalten in seinen Theorien zugrunde liegt, erklärt er kategorisch:

Es ist genauso töricht, sich darüber zu beschweren, dass die Menschen egoistisch und verräterisch sind, wie darüber, dass das magnetische Feld nicht zunimmt, wenn das elektrische Feld keine Krümmung hat. Beides sind Naturgesetze.

Die Public Choice Theorie bzw. die ökonomische Theorie der Politik, die sich mit politischem Verhalten und Entscheidungsprozessen beschäftigt und seit den Thatcher- und Reaganjahren den Mainstream erreicht hat, nutzt als Grundannahme die Maximierung des Eigennutzes. Der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Anthony Downs stellt hierbei klar:

Wann immer wir von rationalem Verhalten sprechen, meinen wir immer rationales Verhalten, das primär auf egoistische Ziele ausgerichtet ist.

Die Austauschtheorie, die insbesondere in der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaft genutzt wird, erklärt das menschliche Verhalten in sozialen Beziehungen auf Grundlage von Belohnungen und Kosten und rückt damit ebenso die zentrale Bedeutung des Eigennutzes ins Zentrum.

Nicht zuletzt spielt auch in der Psychologie dieses Menschenbild eine zentrale Rolle. 1975 brachte der Vorsitzende des amerikanischen Psychologenverbands dies auf den Punkt:

Psychologie und Psychiatrie (…) beschreiben den Menschen nicht nur als ein Wesen, das von egoistischen Wünschen gesteuert wird, sondern sie lehren implizit oder explizit, dass er so zu sein hat.

Die Liste der Wissenschaften, die auf dem Bild eines egoistischen und auf Konkurrenz ausgerichteten Menschen basiert, ist lang und erhebt in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit.

Konsequenzen des kapitalistischen Menschenbildes

Der US-Mikrobiologe Garrett Hardin schrieb 1968 den vielbeachteten Artikel The Tragedy of the Commons [2] (Deutsch: Die Tragik der Allmende), in dem er die Idee von frei verfügbaren Ressourcen, die von allen genutzt werden können, für gescheitert erklärte.

Er bemühte dazu das Bild einer Weidefläche, der Allmende, auf der alle Bauern ihr Vieh weiden lassen. Die Allmende, so Hardin, werde über kurz oder lang abgeweidet und zerstört, da der Mensch als Egoist nicht am Erhalt des Gemeinguts interessiert sei.

Hardins Artikel, der ein zentrales Argument für die Privatisierung darstellt, betonte die zersetzende Gefahr des Trittbrettfahrens. Aufgrund ihres Egoismus erliegen Menschen Schritt für Schritt der Versuch zum Trittbrettfahrer zu werden. Ein weiteres Argument, dass der menschliche Egoismus zwangsläufig das Gemeinwohl zerstöre bzw. eine kollektive Handlung verhindere, lieferte 1968 der Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson.

Seiner Analyse nach gibt es drei Fälle bei dieser Frage zu berücksichtigen: (1) Wenn jeder trittbrettfährt, wird das gemeinsame Projekt nicht stattfinden, also macht es keinen Unterschied aus, wenn ich keinen Beitrag leiste. (2) Wenn niemand außer mir trittbrettfährt, wird das gemeinsame Projekt stattfinden, also macht es wieder keinen Unterschied aus, wenn ich keinen Beitrag leiste. In beiden Fällen ziehe ich den Schluss, dass ich Trittbrett fahren sollte. Aber was, wenn sich einige Menschen als Trittbrettfahrer verhalten und andere ihren Beitrag leisten. Dann sollte ich laut Olson nur dann trittbrettfahren, wenn die anderen sicherstellen, dass das Projekt auch ohne meinen Beitrag stattfinden kann.

Mit einer größeren Gruppe von Egoisten scheint es nicht möglich, Gemeinwohl zu erschaffen. Hatte nicht schon Dawkins davor gewarnt:

Wenn es nur einen einzigen eigennützigen Rebellen gibt, der entschlossen ist, den Altruismus der übrigen auszunutzen, so wird er per definitionem mit größerer Wahrscheinlichkeit als sie überleben und Nachkommen haben. (…) Nach mehreren Generationen dieser natürlichen Auslese wird die "altruistische Gruppe" von egoistischen Individuen wimmeln und von einer egoistischen Gruppe nicht zu unterscheiden sein.

Richard Dawkins

Ein passendes Beispiel für Hardins, Olsons und Dawkins Argumentation, dass Trittbrettfahrer zwangsläufig das Gemeinwohl zerstören, scheint der Sozialstaat zu sein, der immer mehr über Schulden finanziert werden musste. Lädt der Wohlfahrtsstaat nicht geradewegs dazu ein, auf das Trittbrett zu steigen und ohne eigene Leistung sich von den Leistungen anderen gutgläubigen Menschen als "Sozialschmarotzer" und "Drückeberger" in der "sozialen Hängematte" tragen zu lassen?

Tatsächlich wurde der fundamentale Wandel von Arbeits- und Sozialpolitik insbesondere durch die Gefahr des sogenannten Trittbrettfahrens begründet, die erstmals Ende der 1960er Jahre als Faktum ausgemacht wurde. Mit Beginn der Jahre von Thatcher und Reagan bedienten sich die Regierungen in den angelsächsischen Ländern zunehmend des Menschenbildes, das von Egoisten und Konkurrenzwesen beherrscht wurde.

Menschen erschienen nicht mehr als soziale Wesen, die in solidarischer Anstrengung ein Sicherheitsnetz für alle spannen, sondern als eine unbestimmte Menge von zumindest potentiellen Egoisten, die den Einzelnen nicht schützen, sondern gefährden konnten, indem sie den Beitrag des Einzelnen zur Solidargemeinschaft, dem Gemeinwohl, als Trittbrettfahrer ausnutzten.

In Deutschland ist dieser Trend spätestens mit der Reform der sozialen Sicherungssysteme und der Einführung von Hartz IV festzustellen. Unter dem Motto "Fördern und Fordern" sollte der "aktivierende Staat" den Bürger gerade im Hinblick auf den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherung zu Eigenverantwortung anleiten und so die Gefahr des Trittbrettfahrers meistern.

Ganz in diesem Sinne hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder seine "Agenda 2010" mit der Feststellung [3] begründet: "Eine Mentalität der Selbstbedienung hat das Gefühl der Solidarität verdrängt." Deshalb lautet der Lösungsvorschlag und der damit einhergehende grundlegende Wandel zur bisherigen Politik:

Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.

Gerhard Schröder

Dies erscheint auf den ersten Blick nachvollziehbar. Da der Solidargedanke aufgrund der Trittbrettfahrer genau das zerstört, was er erreichen will: Gerechtigkeit. Daher ist der Appell an die Eigenverantwortung das in dieser Logik eigentlich gerechte Prinzip. Der Aufruf zur Eigenverantwortung erscheint dabei gleichermaßen als Auflösung des Solidargedankens und dem Einläuten einer neuen Epoche, in der Gerechtigkeit keine soziale Dimension mehr hat, sondern jeder für seinen eigenen Schutz verantwortlich ist. Frei nach dem Motto: "Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht".

Die Gemeinschaft kommt nur noch für den absoluten Minimalschutz gemäß des Subsidaritätsprinzips auf.

Eine Welt der Anreize

Um die angestrebte Eigenverantwortung zu erreichen, spricht der aktivierende Staat gezielt den Eigennutz des Bürgers an, der gemäß des New Public Management häufiger auch als Kunde bezeichnet wird. Den Menschen werden Anreize insbesondere finanzieller Natur, für das zu fördernde Verhalten in Aussicht bzw. Strafen, insbesondere finanzieller Natur, angedroht, falls das geforderte Verhalten nicht an den Tag gelegt wird.

"Anreize sind der Eckpfeiler des modernen Lebens" und "Der typische Ökonom glaubt, dass die Welt noch kein Problem erfunden hat, das er nicht lösen könnte, wenn er freie Hand hätte, das passende Schema von Anreizen zu konstruieren," schwärmen die Autoren des Bestsellers "Freakonomics".

Die Gemeinschaft der Ich-AGs

"Das Leitbild der Zukunft ist das Individuum als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge. Diese Einsicht muss geweckt, Eigeninitiative und Selbstverantwortung, also das Unternehmerische in der Gesellschaft müssen stärker entfaltet werden," formulierte der Abschlussbericht der "Kommission für Zukunftsfragen Bayern - Sachsen" bereits im Jahr 1997.

Das unternehmerische Selbst, das spätestens mit den deutschen Reformen und der sogenannten Ich-AG Einzug im Land und vor allem im Arbeitsmarkt fand, "ist ein Abkömmling des Homo oeconomicus, jenes anthropologischen Konstrukts, auf dem die Wirtschaftswissenschaften ihre Modellierungen des menschlichen Verhaltens aufbauen," wie der Soziologe Ulrich Bröckling zu bedenken gibt.

Die Betonung der Eigenverantwortung für das eigene berufliche Schicksal führt zur Auflösung der menschlichen Gemeinschaft. Denn durch die "Gründung" jeder Ich-AG werden für den betreffenden Menschen seine Mitmenschen, die andern Ich-AGs, zu gefährlichen Konkurrenten.

Laura Glauser schreibt hierzu:

Zentral für diesen Diskurs ist die Idee eines aktiven individuellen Subjekts, das gemäß seiner marktförmigen Bestimmung zweckrational handelt, um erfolgreich zu sein. Für diesen Erfolg ist jeder selbst verantwortlich, weshalb die Selbstständigkeit verknüpft mit dem Appell der Eigenverantwortlichkeit zu weiteren zentralen Elementen dieses Diskurses wird. Dabei ist das Subjekt immer auf sich allein gestellt, es wird als im Wortsinne a-soziales Wesen gedacht, ihm fehlt jeglicher gesellschaftlicher Zusammenhang. So wird ein Selbstverständnis etabliert, das Menschen zueinander in ein Konkurrenzverhältnis stellt, weshalb der wirtschaftliche Markt zur Arena des gesamten Lebens wird, was die kapitalistische Qualität des Diskurses verdeutlicht.

Das Bild des egoistischen Menschen führt jedoch nicht nur zu einer Veränderung der menschlichen Gesellschaft, sondern auch dazu, dass Menschen bewusst nicht mehr nach Gemeinsamkeiten mit ihren Mitmenschen suchen, sondern notgedrungen nach den Unterschieden.

"Der Wettbewerb verbindet universelle Vergleichbarkeit und den Zwang zur Differenz; er totalisiert und individualisiert zugleich: Jeder Einzelne muss sich in der Verfolgung seines Nutzens mit allen anderen messen, und er kann seinen Nutzen nur in dem Maße steigern, in dem er sich von seinen Mitbewerbern abhebt und für sich beziehungsweise für das, was er in den Tauschprozess einbringt, ein Alleinstellungsmerkmal geltend machen kann," erklärt Ulrich Bröckling.

Frei nach dem Motto von Tom Peters, Autor des Buches "TOP 50 Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die Ich AG": "Seien Sie besonders … oder Sie werden ausgesondert."

Rankings und Konkurrenzkampf beherrschen das Leben

"Ein großes, globales Rennen hat begonnen: die Weltmärkte werden neu verteilt, ebenso die Chancen auf Wohlstand im 21. Jahrhundert. Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen, in Wissenschaft und Technik, bei der Erschließung neuer Märkte," forderte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog von der deutschen Bevölkerung [4] ein.

Der Soziologe Meinhard Miegel bemerkt [5] über dieses Wettrennen ironisch:

Er beginnt in der Kita, setzt sich in der Schule und im Erwerbsleben fort und endet selbst im Alter nicht. Das ganze Leben ist durchdrungen von Wettbewerb. Spätestens seit Anbruch des Kapitalismus ist er das gesellschaftliche Leitbild. Gesellschaften, die auf sich halten, sind Wettbewerbsgesellschaften. Diese Gesellschaften haben es weit gebracht. Zumindest sind sie erfolgreicher und in der Regel materiell wohlhabender als andere. Ein Hoch auf den Wettbewerb!

Tatsächlich scheint es keinen Zweifel zu geben, dass sich das Bild des Menschen als Konkurrenzwesen heute durchgesetzt hat. Es scheint schlicht seiner Natur zu entsprechen. Konkurrenz ist auch das zentrale Merkmal des Neoliberalismus, wie der Guardian-Journalist George Monbiot in seinem Versuch schreibt, dieses widersprüchliche Phänomen zu definieren [6]:

Der Neoliberalismus betrachtet den Wettbewerb als das bestimmende Merkmal der menschlichen Beziehungen. Er definiert die Bürger neu als Verbraucher, deren demokratische Entscheidungen am besten durch Kauf und Verkauf getroffen werden, ein Prozess, der Verdienste belohnt und Ineffizienz bestraft. Er behauptet, dass "der Markt" Vorteile bietet, die durch Planung nie erreicht werden könnten.

Die Idee, möglichst viele Bereiche des menschlichen Lebens in einen Wettbewerb zu verwandeln und so die Leistung des Einzelnen durch den ständigen Konkurrenzkampf zu steigern, wie es offenbar auch in der Evolution vorgesehen ist, hat sich inzwischen vielerorts durchgesetzt.

Bewertungen, Vergleiche und Rankings sind zunehmend unsere täglichen Begleiter. Inzwischen sind wir es gewohnt, häufig und vieles zu bewerten: Schulen, Universitäten, Hotels, Restaurants, Ebay-Verkäufer, Filme, Bücher und zu guter Letzt bewertet die Schufa unsere Kreditwürdigkeit. Zu nennen wären auch die zahlreichen unterschiedlichen Indexes, die eine bestimmte Qualität eines Landes in einen weltweiten Vergleich stellen.

Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie, weist auf den Konkurrenzkampf und die extrinsische Motivation hin, die dem stetigen Bewerten und Vergleichen innewohnen:

Vergleichsoperationen sorgen dafür, dass wir immer wieder aufgefordert und motiviert werden, uns mit anderen ins Verhältnis zu setzen, nicht in geselliger oder kooperativer Absicht, sondern im Kontext von Konkurrenz und wechselseitiger Überbietung.

Ein besonders extremes Beispiel des Konkurrenzkampfes heißt "Forced Distribution". Es wurde von Jack Welch, dem ehemaligen Chef von General Electric, in die Welt des Management eingeführt. Dieser entwickelte die Formel "20-70-10". Jedes Jahr erhielten die besten 20 Prozent der Mitarbeiter, die sogenannten "High Performer" oder "Stars", die sie zur Dankbarkeit verpflichtenden Boni.

70 Prozent der Mitarbeiter landeten auf einem Mittelplatz [7], was allerdings für sie keine Konsequenzen hatte, während die schwächsten 10 Prozent, die sogenannten "Low Performer" oder "Lemons", ihre Entlassung erhielten.

Nur durch einen beständigen Konkurrenzkampf, der den Siegeswillen des Einzelnen anspricht, und der sogar bewusst unter Mitgliedern des gleichen Teams durchgeführt wurde, erschien es Jack Welch möglich sicherzustellen, dass seine Mitarbeiter sich jeden Tag weiter entwickelten und niemals stehen blieben. Die Verdoppelung der Unternehmensgewinne zwischen 1995 und dem Jahr 2000 führte Welch maßgeblich auf den Erfolg von "Forced Distribution" [8] zurück.

Das Leben ist ein Markt

Das Bild des Menschen als Egoisten und Konkurrenzwesen breitete sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend auf die unterschiedlichsten Bereiche des menschlichen Lebens aus: in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Ein Hauptgrund hierfür dürfte die Arbeit von Gary Becker sein, der 1992 den Wirtschaftsnobelpreis erhielt.

Beckers zentrale These war seine Überzeugung, dass der sogenannte ökonomische Ansatz auf alle Gebiete des Lebens ausgeweitet werden konnte. Auch und gerade auf Fragestellungen, die traditionell der Soziologie und der Psychologie vorbehalten waren:

In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, dass der ökonomische Ansatz so umfassend ist, dass er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist, sei es nun Verhalten, das monetär messbar ist oder unterstellte "Schatten"-Preise hat, seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, seien es wichtige oder nebensächliche Entscheidungen, handele es sich um emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler.

Gary Becker

Die Welt, die durch die grundsätzliche Maximierung des Eigennutzens bestimmt wird, erscheint im ökonomischen Denken als ein einziger Markt. In dieser Schablone denkend schlug Becker beispielsweise 1987 vor, dass das Einwanderungsrecht in die USA an die Meistbietenden versteigert werden sollte.

Seine Idee erinnerte an den Juristen und Wirtschaftswissenschaftler Richard Posner, der bereits 1978 sich für einen Adoptionsmarkt aussprach, der Babys an die Meistbietenden vermittelte. Oder an Kenneth Boulding, der 1964 vorschlug, zur Kontrolle der Überbevölkerung ein System handelbarer Fortpflanzungslizenzen einzuführen. Im Jahr 2009 machte Becker dann den Vorschlag das Asylrecht an Flüchtlinge für eine höhere Geldsumme zu verkaufen, um zeitraubende Untersuchungen zu vermeiden.

Es ist keine Frage: das kapitalistische Menschenbild bestimmt in hohem Maße unsere Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. In zweiten Teil dieses Artikels, "Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung", wird eine gravierende Diskrepanz zwischen diesem herrschenden Menschenbild und der Wirklichkeit festgestellt und die bedenklichen Konsequenzen dieser Diskrepanz aufgezeigt.

Teil 2: Das Menschenbild, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung [9]

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: "Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen" [10].

Literatur

Jonathan Aldred: Der korrumpierte Mensch

Gary S. Becker: Ökonomische Erklärung menschliches Verhaltens

Rutger Bregman: Im Grunde gut

Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Richard Dawkins: Das egoistische Gen.

Laura Glauser: Das Projekt des unternehmerischen Selbst

Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken

Steffen Mau: Das metrische Selbst

Steven Pinker: Das unbeschriebene Blatt

Gustav Radbruch: Der Mensch im Recht

Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe

Michael J. Sandel: Was man für Geld nicht kaufen kann

Michael Tomasello: Warum wir kooperieren


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6037281

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.jstor.org/stable/2264946?seq=1
[2] http://www.garretthardinsociety.org/articles/art_tragedy_of_the_commons.html
[3] https://gerhard-schroeder.de/2003/03/14/regierungserklarung-agenda-2010/
[4] http://www.stern.de/politik/deutschland/roman-herzog-durch-deutschland-muss-ein-ruck-gehen-521364.html
[5] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article177950034/Zerstoererischer-Kampf-Wir-wettbewerben-uns-zu-Tode.html
[6] https://www.theguardian.com/books/2016/apr/15/neoliberalism-ideology-problem-george-monbiot
[7] http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/internetkonzern-yahoo-mayer-veraergert-mitarbeiter-a-933051.html
[8] https://www.cbsnews.com/news/what-is-forced-ranking/
[9] https://www.heise.de/tp/features/Das-Menschenbild-eine-sich-selbst-erfuellende-Prophezeiung-6037283.html
[10] https://www.westendverlag.de/buch/die-wiederentdeckung-des-menschen/