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Das Menschheitsideal "Demokratie" ist am Ende

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 30

Selten waren sich Menschen so einig wie darüber: Die Demokratie ist eine der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Und in vielen Gegenden der Welt träumen Menschen davon, dass bei ihnen zu Hause endlich demokratische Verhältnisse einkehren.

Teil 29: Wozu überhaupt noch Demokratie? [1]

Während in Europa, den USA und in Japan die Demokratien versteinert und erstarrt sind, wünschen sich in der vordemokratischen Welt Arabiens, Afrikas und Asiens viele Menschen nichts sehnlicher als demokratische Verhältnisse und erhoffen von ihnen Erlösung von allem Übel.

Der Idee nach sind Demokratien Gebilde voller lebendiger Teilnahme der Völker an der politischen Wirklichkeit. In ihnen nimmt der Wille der Mehrheit eines Volks konkrete Gestalt an. Sie sind ein Menschheitsideal, solange sie das Gemeinwohl der Bevölkerung verwirklichen und die Chance auf ein erfülltes Leben für so viele Menschen wie möglich bieten. Die Demokratie ist das Menschheitsideal schlechthin.

Wer in einem demokratischen Staat leben darf, schätzt sich glücklich. Das Leben in einer Diktatur ist unerträglich. Das Fehlen an Demokratie rechtfertigt Revolutionen - und sogar Kriege.

Einig sind die meisten Menschen auch darüber, dass es aufregend und erhebend ist mitzuerleben, wenn ein Land aus der Diktatur in demokratische Verhältnisse aufbricht. Ein unbekanntes Hochgefühl erfasst die Menschen. Eine großartige Epoche nimmt ihren Anfang. Und die Zeitgenossen können sagen, sie seien dabei gewesen.

Merkwürdig nur, dass in keiner einzigen etablierten und entwickelten Demokratie noch Spuren dieser Hochstimmung zu spüren sind. In den entwickelten Demokratien dieser Welt herrscht Zorn auf die Politik und die Politiker. Politikverdrossenheit gehört dort zur Alltagskultur. Die meisten Menschen schimpfen auf die Politiker. Viele hassen sie, fast alle verachten sie.

Ja, in einigen demokratischen Staaten wie den USA oder Deutschland haben sich mit "Occupy" oder "Attac" fast vorrevolutionäre Strömungen gebildet. Sie haben keinerlei Aussicht, sich jemals zu vollen Revolutionen zu entwickeln, signalisieren jedoch gleichwohl, dass die Geduld der demokratisch beherrschten Bevölkerungen am Ende ist.

Könnte es sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung es einfach nicht mehr zu schätzen weiß, welche Kostbarkeit ihr da einst in den Schoß gefallen ist? Dass die Menschen nach Jahren demokratischer Praxis bloß abgestumpft sind?

Eindeutig: nein. Das politische System in allen etablierten Demokratien ist "gekippt" - und mit ihm die Stimmung der Menschen. Ein über Jahrzehnte schleichender Prozess des Verfalls einst lebendiger Demokratien hat dazu geführt, dass sich eine volksfeindliche Herrschaft von Berufspolitikern, die in politischen Parteien organisiert sind und ihre Macht mit ihrer Hilfe gewinnen und erhalten, über das Volk verfestigt hat.

Es ist eine politische Kaste mit eigenen Gewohnheiten, Ressourcen, Interessen und klarer Abgrenzung vom Rest der Bevölkerung. Sie dient auch nicht der Mehrheit der Bevölkerung, sondern nur der verschwindend kleinen Minderheit der Reichen und Superreichen. Sie sind die willigen Helfer und Helfershelfer des Kapitals.

Und so herrscht allenthalben ein merkwürdiger Gegensatz: Alle Menschen lieben die Demokratie als Prinzip und Ideal. Aber über den demokratischen Alltag sind sie entsetzt, ja angewidert. Doch der politische Alltag ist die wahre Realität, nicht die Utopie.

Das demokratische Ideal ist zum Herrschaftsinstrument mutiert

Von demokratischen Wahlen halten die Zeitgenossen nicht viel. Die politischen Parteien finden sie primitiv. Abgeordnete machen sowieso, was sie wollen, wenn sie erst einmal im Amt sind. Wahlkämpfe, in denen Kandidaten sich landauf, landab zeigen, bombastische Sprüche klopfen, von Plakaten aufs doofe Volk grienen, Hände schütteln, Kinder küssen und billige Redensarten verbreiten, verabscheuen sie. Über Parlamentarier, die komfortable Diäten und sonstige Vergünstigungen kassieren, Plenarsitzungen schwänzen, mit den Lobbyisten kungeln und sich nebenher zusätzliche Geldquellen auftun, denken die Bürger nichts Gutes.

Aus dem einstigen Ideal ist ein Herrschaftssystem geworden, in dem eine besonders üble und unfähige Spezies von Berufspolitikern sich an den Schalthebeln der politischen Macht bequem eingerichtet hat, ihre eigenen und eigennützigen Interessen verfolgt und sich aus staatlichen Mitteln komfortabel versorgt.

Das politische System ist so weit erstarrt, dass die von der Bevölkerung losgelösten Berufspolitiker noch nicht einmal mehr so zu tun brauchen, als verträten sie das Gemeinwohl. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Sie sind eine politische Kaste für sich, die sich weitgehend von der breiten Bevölkerung losgelöst hat.

Die entwickelten Demokratien der Endzeit sind eine gigantische Fehlkonstruktion, die laufend Krisen und Katastrophen erzeugt und nicht in der Lage ist, auch nur einfache Probleme pragmatisch und nachhaltig zu lösen. Sie richten sich in stets wachsendem Maße gegen die eigene Bevölkerung.

Selbst für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass es den vereinten Anstrengungen der Politik in den entwickelten Demokratien gelingen sollte, die Staatsschulden noch einmal so weit unter Kontrolle zu bringen, dass die Demokratien nicht an die Wand gefahren werden, bleibt die Herrschaft von unfähigen und eigennützigen Berufspolitikern unangetastet. Und die sind außer Stande, eine Volkswirtschaft vernünftig zu organisieren und verstehen sich nur darauf, die ihnen anvertrauten Gelder der Steuerzahler zum Fenster hinauszuwerfen. Und weil das so ist, kommt die nächste Strukturkrise noch sicherer als das Amen in der Kirche.

Dass dies überhaupt so lange möglich war, ist nur dem Umstand zu danken, dass die Ochlokraten sich an sehr stabilen und höchst leistungsfähigen Wirtschaftssystemen vergehen. Aber der Leistungsfähigkeit der arbeitenden und wirtschaftenden Menschen steht eine politische Kaste von nichtsnutzigen, absolut unfähigen Schmarotzern gegenüber, die das stabile Wirtschaftssystem mit vereinten Kräften ruinieren.

In der Entwicklung praktisch aller demokratischen Systeme in der Phase ihres Niedergangs offenbart sich immer deutlicher ein Systemdefizit der Demokratien. Wenn Demokraten sich diesem Systemdefizit noch nicht einmal stellen, wird die Entwicklung erbarmungslos über sie hinwegrollen. Und dann werden die entwickelten Demokratien in den Abgrund stürzen, an dessen Rand sie heute längst stehen.

Es hat keinen Zweck, vor den Strukturproblemen demokratischer Systeme die Augen zu verschließen, nur weil man sich nicht nachsagen lassen will, man sei kein ordentlicher Demokrat. Die Ursache der Vielzahl von Krisen und Katastrophen der Gegenwart ist das System der politischen Willensbildung in den entwickelten parlamentarisch-repräsentativen Demokratien.

Sie stehen heute am Rande des Zusammenbruchs. Möglich, dass der sich noch eine Weile hinzieht und dass es auch wieder mal gelingen wird, mit einer Serie von Krisengipfeln einen Aufschub zu bewerkstelligen.

Aber die Strukturkrise lässt sich durch Gipfelkosmetik nicht aus der Welt schaffen. Der Zusammenbruch der entwickelten repräsentativen Demokratien ist unvermeidlich, weil die Eigendynamik der demokratischen Systeme unausweichlich auf den Kollaps zusteuert.

In den Worten [2] der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy geht es "nicht um das Thema der Demokratie als Utopie, die alle ‚sich entwickelnden’ Gesellschaften anstreben sollten….":

Vielmehr richtet sich die Frage nach dem Leben nach der Demokratie an diejenigen von uns, die in demokratischen Gesellschaften leben oder in Ländern, die vorgeben, demokratisch zu sein, und sie impliziert keineswegs den Rückgriff auf ältere, zweifelhafte Modelle totalitärer oder autoritärer Herrschaft. Allerdings verweist sie auf die Notwendigkeit einer gewissen strukturellen Anpassung des Systems repräsentativer Demokratie, in dem es zu viel Repräsentanz und zu wenig Demokratie gibt.

Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper meinte einst, die Frage, wer herrschen solle - ein Diktator, eine Elite oder das Volk - sei falsch gestellt. Stattdessen müsse man fragen: Gibt es Regierungsformen, die es erlauben, eine verwerfliche oder auch nur inkompetente Regierung loszuwerden?

Demokratien sind moralisch überlegen, weil man schlechte Regierungen abwählen kann.

Demokratien sind also nicht Volksherrschaften, sondern sie sind in erster Linie gegen eine Diktatur gerüstete Institutionen. Sie erlauben keine diktaturähnliche Herrschaft, keine Akkumulation von Macht, sondern sie versuchen, die Staatsgewalt zu beschränken. Entscheidend ist, dass eine Demokratie in diesem Sinn die Möglichkeit offen hält, die Regierung ohne Blutvergießen loswerden zu können, wenn sie ihre Rechte und Pflichten verletzt; aber auch sonst, wenn wir ihre Politik als schlecht oder verfehlt beurteilen.

In den entwickelten Demokratien herrscht das Volk nicht mehr

In den entwickelten Demokratien haben wir heute ein ganz und gar anderes Problem. Eindeutig kann keine mehr Rede davon sein, dass dort das Volk herrscht. Aber ebenso eindeutig haben die meisten Demokratien keine verwerfliche Tyrannenherrschaft. Im Gegenteil, es sind sogar Regierungsformen, die es im Prinzip möglich machen, eine verwerfliche oder auch nur inkompetente Regierung ohne Blutvergießen loszuwerden.

Aber das nützt nichts; denn was kommt danach? Eine ähnliche Regierung, die im Prinzip kaum einen Deut besser ist, als die vorangegangene, weil sie aus demselben Personenkreis rekrutiert wird. Ihre Mitglieder sind durch die gleichen Rekrutierungsmechanismen gelaufen, haben die gleichen Ochsentouren in den politischen Parteien hinter sich und sind ähnlich inkompetent wie ihre Vorgänger.

Auf die jeweilige Regierung in den entwickelten Demokratien kommt es kaum noch an. Das politische System ist marode. Die Regierungen sind eingebettet in ein System der politischen Herrschaft, das sich zunehmend gegen die gesamte Bevölkerung wendet.

Da hilft es kaum, wenn man eine Regierung abwählen kann. Die nächste wird nicht besser. Das ganze System muss grundlegend geändert werden und vom Kopf auf wirklich demokratische Füße gestellt werden.

Der US-Politikwissenschaftler Yascha Mounk vergleicht [3] die gegenwärtige Endzeit der Demokratie mit dem Ende des Mittelalters:

Damals gab es keinen Gottesbeweis mehr, auf den sich die meisten Gelehrten hätten einigen können. Aber es gab noch ein Restvertrauen darin, dass es Gott geben muss. So ähnlich geht es uns heute mit der Demokratie. Wir wissen nicht mehr so richtig, warum Demokratie als einzige Regimeform legitim sein soll. Aber wir glauben irgendwie noch immer daran, dass die Demokratie das einzig Gute und Wahre ist. Demokratie ist zu einem leeren Slogan verkommen, an den wir quasireligiöse Gefühle binden.

Gibt es eine Lösung in lebendiger Demokratie?

Außer den Politikern, für die das System der entwickelten repräsentativen Demokratien einfach eine fabelhafte Sache ist, in der sie geschäftig paradieren und die eigene Versorgung organisieren können, spricht so gut wie niemand mehr ernsthaft davon, dass wir eine lebendige, funktionierende Demokratie haben.

Ist also im Umkehrschluss alles Heil in der direkten Demokratie zu finden?

Zunächst einmal bleibt festzuhalten: Eine direkte Demokratie in Reinkultur gibt es nirgends und hat es nirgends je gegeben. Ob es die bei den in der Steinzeit streunenden Jäger- und Sammlerhorden je gab, ist irrelevant und wohl auch unwahrscheinlich. Auch die vielzitierte Attische Demokratie war keine Demokratie im modernen Sinn. Ja, selbst wenn sie eine gewesen wäre, war sie die Erscheinung eines fernen Zeitalters und ohne Relevanz für die heutige Zeit.

Starke Elemente direkter Demokratie gibt es heute nur in einigen amerikanischen Bundesstaaten wie Oregon und vor allem in der Schweiz. Aber auch dort herrscht ein Mischsystem: Das politische System der Schweiz ist bestenfalls eine halbdirekte Demokratie, in der das Volk zu einem gehörigen Teil auch durch das gewählte Parlament repräsentiert wird.

Die Schweizerinnen und Schweizer wählen alle vier Jahre ihr Parlament und stimmen seit gut 150 Jahren im Schnitt drei- bis viermal pro Jahr als letzte politische Instanz über diverse Sachfragen auf allen Ebenen ab - in der Gemeinde, im Kanton und auf Bundesebene.

Das bedeutet konkret: Die Vielzahl der Nachteile von repräsentativen Demokratien und das Übergewicht der Eigeninteressen und des Eigenlebens der Repräsentanten sind in der Schweiz zwar abgemildert, aber gleichwohl vorhanden. Die politische Kaste, die in den entwickelten repräsentativen Demokratien vom Volk losgelöst ihr Eigenleben führt und ihre Eigeninteressen durchsetzt, wird in der Schweiz wirksam in Schach gehalten.

Eine Mehrheit des Volks und der Kantone muss jede Verfassungsänderung durch ein obligatorisches Referendum gutheißen (Volks- und Ständemehr). Darüber hinaus gibt es Volksreferendum und die Volksinitiative. Durch ein Referendum können die Schweizer aktiv in den Gesetzgebungsprozess eingreifen. Sie haben das Recht, über Parlamentsbeschlüsse nachträglich abzustimmen.

Volk und Stände müssen obligatorisch abstimmen über Änderungen der Bundesverfassung; den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften; für dringlich erklärte Bundesgesetze, die keine Verfassungsgrundlage haben und deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt. Über diese Bundesgesetze müssen die Stimmberechtigten innerhalb eines Jahres nach deren Annahme durch die Bundesversammlung entscheiden.

Viele Bestimmungen in der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft müssen regelmäßig angepasst werden wie zum Beispiel die Zinssätze der Mehrwertsteuer. Auch Vorschläge zum Beitritt der Schweiz zu supranationalen Strukturen müssen dem Stimmvolk vorgelegt werden und die doppelte Mehrheit von Volk (Volksmehr) und Kantonen (Ständemehr) erhalten, um überhaupt in Kraft zu treten.

Das fakultative Referendum kann gegen alle Gesetze oder Gesetzesänderungen ergriffen werden. Damit das Volk nachträglich über einen Entscheid des Parlaments entscheiden kann, müssen das mindestens 50.000 Personen bis spätestens 100 Tage nach Publikation des entsprechenden Textes mit ihrer Unterschrift bei der Bundeskanzlei verlangen. Dafür braucht ein fakultatives Referendum nur eine einfache Mehrheit des Stimmvolks. Mit ihrer Unterschrift können 100.000 Stimmberechtigte mit einer Volksinitiative innerhalb von 18 Monaten verlangen, dass die Verfassung in einzelnen Punkten geändert wird.

Bevor die Änderungen in Kraft treten, durchläuft jede Volksinitiative einen mehrstufigen Prozess. Wird das Begehren für gültig erklärt, berät zuerst der Bundesrat über dessen Inhalt, danach die eidgenössischen Räte. Handelt es sich um eine umstrittene Vorlage, die das Parlament spaltet, kann sich dieser Prozess über einige Jahre hinziehen.

In manchen Fällen erarbeiten die Räte einen direkten Gegenvorschlag, der als Alternative zur ursprünglichen Forderung der Initiative gemeinsam mit dieser zur Abstimmung kommt. Das Stimmvolk kann dann entscheiden, welche Version umgesetzt werden soll. Um angenommen zu werden, benötigen sowohl Volksinitiative wie der Gegenvorschlag das doppelte Mehr (Volk und Stände).

Das Parlament kann sich aber auch für einen indirekten Gegenvorschlag aussprechen, der auf Gesetzesebene geregelt wird. Dann kommt lediglich die Volksinitiative zur Abstimmung. Wird sie abgelehnt, kommt automatisch der Gegenvorschlag zum Zug. Es sei denn, gegen diesen wird erfolgreich das Referendum ergriffen. Es kann aber auch vorkommen, dass das Initiativkomitee mit dem Gegenvorschlag einverstanden ist und seine Volksinitiative zurückzieht.

Seit ihrer Einführung in die Bundesverfassung 1891 wurden bis 2014 insgesamt 426 Volksinitiativen ergriffen. Von den 310 formell zu Stande gekommenen Volksinitiativen kamen 186 an die Urnen. 4 wurden für ungültig erklärt, 2 wurden abgeschrieben und 93 zurückgezogen. 19 Initiativen sind gegenwärtig anhängig.

Volk und Stände haben insgesamt nur 20 Volksinitiativen angenommen. Die allererste war 1893 übrigens die antisemitische Volksinitiative "für ein Verbot des Schlachtens ohne vorherige Betäubung" (Schächtverbot).

Die jüngsten sechs Volksinitiativen haben auch über die Schweiz hinaus Aufsehen erregt: die Eidgenössische Volksinitiative "gegen den Bau von Minaretten" (2009), die Initiative "für die Ausschaffung krimineller Ausländer" (2010), die Initiative "Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen" (2012), "gegen die Abzockerei" (2013 ), die Initiativen "gegen die Masseneinwanderung" und die Volksinitiative "Pädophile sollen nicht mehr mit Kindern arbeiten dürfen" (beide 2014).

Die Zahl angenommener Volksinitiativen hat in den letzten Jahren zugenommen. Während zwischen 1891 und 2003 nur 13 Initiativen angenommen wurden, waren es zwischen 2004 und 2014 sogar 9.

Zwischen 1848 und 2014 wurden in der Schweiz insgesamt 176 fakultative Referenden zur Abstimmung zugelassen. 98 wurden angenommen, das Stimmvolk lehnte das bekämpfte Gesetz also ab. Die anderen 78 Referenden wurden abgelehnt. Im selben Zeitraum wurden von 217 obligatorischen Referenden 162 von Volk und Ständen angenommen, während die restlichen 55 abgelehnt wurden.

Referenden und Volksinitiativen erzeugen eine eigentümliche Wechselwirkung im politischen System der Schweiz. Referenden fungieren eher als Bremser von Parlamentsentscheiden, die Volksinitiativen dagegen als Beschleuniger bei allen Fragen, die das Parlament nicht behandeln will. Die Volksinitiativen bieten politischen und sozialen Bewegungen die Möglichkeit, Mehrheiten für ihre Anliegen zu gewinnen.

Mit der Gefahr eines Referendums vor Augen arbeiten Regierung und Parlament meist auf einen möglichst breiten Konsens hin, wenn sie ein Gesetz durchbringen wollen. Man muss immer damit rechnen, dass die Unzufriedenheit über einen beschränkten Kreis hinausgeht und dann besteht die Gefahr, dass das Volk ein Projekt ablehnt.

Angelegt in diesem System ist eine Kultur des Konsenses und des Kompromisses, die sich in dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen "Kuhschweizern" und "Sauschwaben" (= Deutschen) niederschlägt. Die Sauschwaben hauen drauf, setzen sich aggressiv durch und drohen immer gleich mit dem Einmarsch der Kavallerie. Die Schweizer suchen stets den Konsens und Kompromiss und verhalten sich konziliant im Umgang auch mit Vertretern entgegengesetzter Standpunkte. Beide verstehen nicht wirklich, was in den Köpfen der anderen vorgeht.

Volksinitiativen bringen Themen zur Sprache, die im Parlament gar nicht erörtert werden. Und mitunter bekommen einige Initianten ihre Ideen oder Teile davon durch einen Gegenvorschlag des Parlaments erfüllt. Im Idealfall ergänzen Volk und Parlamentarier einander.

In seltenen Fällen erhält eine Volksinitiative, die von der Mehrheit des Parlaments abgelehnt wurde, aber auch in der Abstimmung das doppelte Mehr. So die von dem parteilosen Unternehmer Thomas Minder eingereichte "Abzocker-Initiative", die es Aktionären erlaubt, die Gehälter von Topmanagern zu begrenzen. Sie wurde 2013 mit 68 Prozent der Stimmen und von allen Kantonen angenommen.

In einer Demokratie nach Schweizer Muster sind neue Gesetze im Allgemeinen breit abgestützt, aber sie verlangsamt mitunter auch die Prozesse der politischen Willensbildung durch den eingebauten Zwang zum Kompromiss. Alle Beteiligten verzichten deshalb darauf, auf umstrittenen Punkten zu beharren, damit nicht die ganze Gesetzesvorlage scheitert. In dem System werden auch Minderheiten oder gar die politischen Gegner nicht einfach untergebuttert.

Die Gegner kritisieren das System mitunter als langsam und schwerfällig. Bis aus einer erfolgreichen Volksinitiative ein Gesetz wird, können mehrere Jahre vergehen. Auch Referenden können politische oder soziale Veränderungen ungebührlich hinauszögern.

Als in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt werden sollte, stimmte das Parlament der Vorlage bereits 1959 zu. Aber eine Mehrheit der Männer lehnte sie in einem Referendum ab. Erst 12 Jahre später, 1971, ließen sich die Schweizer Männer dazu herab, ihren Frauen das Stimmrecht zu gewähren.

Auch das verfassungsgemäß gebotene "doppelte Mehr" begünstigt oft die kleineren eher konservativen Kantone. Eklatant geschah das 1992, als die Schweizerinnen und Schweizer über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu befinden hatten.

Gegner und Befürworter erzielten zwar nahezu die gleiche Stimmenzahl, eine erdrückende Mehrzahl der Kantone (16 zu 7) lehnte jedoch den Beitritt ab. Jede Reform des Systems muss auch von den kleinen Kantonen gutgeheißen werden. Und die sind kaum geneigt, auf diese Gleichbehandlung bei Abstimmungen zu verzichten.

In einer direkten Demokratie haben die politischen Parteien gewöhnlich deutlich weniger Macht als in einer repräsentativen Demokratie. Volksentscheide über Sachfragen laufen weder zeitlich noch thematisch parallel zu den Wahlen der Repräsentativorgane.

Die Bestechung von Politikern oder die Ausnutzung von persönlichen kommt in der direkten Demokratie kaum vor, da das Volk Entscheidungen leicht aufheben kann. Die undemokratischen Auswirkungen der 5-Prozent-Hürde auf die Regierungsbildung werden unwichtiger. Gegenseitige Blockademöglichkeiten von Bundestag und Bundesrat sind ebenfalls wegen der Möglichkeit von Volksentscheiden stark eingeschränkt.

Sicherlich ist es ein großer Vorteil, dass die Bevölkerung wesentlich effektiver und schneller über aktuelle Gesetzesentwürfe mitentscheiden kann. Für Lügen und haltlose Versprechungen im Wahlkampf, die in allen repräsentativen Demokratien fester Bestandteil der politischen Kultur sind, ist in einer direkten Demokratie kaum Platz; denn die Bürger können Gesetzentwürfe jederzeit ablehnen. Die Politik ist gut beraten, auf lügenhafte leere Versprechungen zu verzichten.

Die politische Kultur der direkten Demokratie bestärkt ihre Bürger in der Gewissheit, dass sie bei Entscheidungen ein gewichtiges Wort mitzureden haben und ihre Meinung Gewicht hat. Das ist schon etwas sehr grundlegend anderes als die Erkenntnis, dass man alle vier Jahre zur Wahl gehen darf.

Der Schweizer Bundesrat Arnold Koller beschreibt die Situation so:

Ihr (unserer direkten Demokratie; Einf. d. Red.) kommt meines Erachtens eine wachsende Bedeutung zu für unsere nationale Identität. Durch Volksabstimmungen über wichtige Sachfragen erlebt sich die Schweiz fast permanent als politische Gemeinschaft und Nation. Selten nehmen wir die Stimmung in den anderen Landesteilen so deutlich wahr wie an Abstimmungswochenenden. Die direkte Demokratie ist also weit mehr als ein Verfahren zur Entscheidungsfindung, sie macht die Schweiz für die Bürgerinnen und Bürger erfahrbar. Sie verhindert auch, dass politische Konflikte unter den Teppich gekehrt werden. Nichts hält unser Land mehr zusammen als unsere direkte Demokratie.

Die direkte Demokratie führt vor allem auch dazu, dass die breite Bevölkerung die politischen Entscheidungen akzeptiert, in die Entscheidungsprozesse eingebunden ist und sich auch aktiv mit den Argumenten der Gegenseite vertraut macht. Grundsätzlich dürfte es auch für unterlegene Minderheiten leichter sein, das Urteil einer Mehrheit der Bürger zu akzeptieren als nur das Urteil der Mehrheit von 200 National- und 46 Ständeräten.

Da die Bürger verantwortliche Entscheidungen mittragen, sind sie eher bereit, sich in der Politik zu engagieren. Eigenverantwortung in überschaubaren Räumen ist die beste Voraussetzung für politisches Engagement.

Die Schweizerinnen und Schweizer kontrollieren über die Steuern sogar die Staatsfinanzen und verhalten sich dabei wider Erwarten und allen Unkenrufen über die Unfähigkeit der Bürger erstaunlich verantwortungsbewusst. In repräsentativen Demokratien ist ja die Überzeugung weit verbreitet, das Wahlvolk sei zu blöd, verantwortungsbewusst über öffentliche Finanzen zu entscheiden. Das Gegenteil ist wahr: Die gewählten Repräsentanten hantieren verantwortungslos mit den ihnen anvertrauten Geldern.

Während die Repräsentanten in den repräsentativen Demokratien halt- und schamlos das Geld der Bürger fehlleiten und verprassen, erlegt sich das Schweizer Volk Zurückhaltung auf: In den Worten des früheren Nationalrats Heinz Allenspach:

Politiker denken zu oft nicht in Generationen; ihr Gesichtsfeld umfasst höchstens eine vierjährige Legislaturperiode. Deshalb fordern sie trotz düsterer Zukunftsperspektiven den weiteren Ausbau des Sozialstaates (...). Die Beispiele zeigen, dass es viele Politiker und auch Bundesräte kaum groß kümmert, wie groß das Defizit (...) im Jahre 2010 sein wird. Wichtiger ist ihnen das Heute und die Zeit bis zu den nächsten Wahlen.

Das ist die Erfahrung, die man mit dem verantwortungslosen Ausgabegebaren der Politiker in allen repräsentativen Demokratien macht.

Die beiden Schweizer Experten für ökonomische Glücksforschung, Bruno S. Frey und Alois Stutzer, lieferten 1999 erstmals empirische Belege für ihre These, dass direkte Demokratie nicht nur eine Reihe politischer und demokratiebezogener Vorteile hat, sondern eine viel umfassendere positive Wirkung mit sich bringt. Aus einem Vergleich der 26 Kantone schlussfolgerten sie: Direkte Demokratie macht die Leute glücklich!

Frey und Stutzer führen die höhere Lebenszufriedenheit - ihr Indikator für individuelles Glück - in stark direkt-demokratischen Kantonen auf zwei Faktoren zurück. Erstens erhöht die direkte Demokratie die Kontrolle über den politischen Prozess. Deshalb liegen die politischen Ergebnisse näher an den Präferenzen der Bevölkerung. Die Zufriedenheit mit den demokratischen Resultaten steigert auch das persönliche Glücksgefühl. Zweitens erhöht die pure Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger direkt am politischen Prozess teilnehmen können, deren Lebenszufriedenheit.

Kein Zweifel: Auch das Schweizer Mischsystem ist keine Insel der Seligen. Aber es ist ein Modell, das viele Schwächen der repräsentativen Demokratien nicht hat. Es gibt darin auch viele Fehlentscheidungen. So hat gerade dieser Tage eine Volksinitiative im Aargau durchgesetzt, dass fortan die Kinder in den Kindergärten nur noch Mundart und kein Schriftdeutsch sprechen dürfen. Ein Rückfall in finsterste Provinzialität und für Kinder, die später einmal den Aargau verlassen werden, eine Garantie für Rückständigkeit.

Allerdings sollten die Völker in repräsentativen Demokratien nicht gar zu viel Hoffnung in Elemente der direkten Demokratie setzen. In der Schweiz sind diese Modelle in kleinen Räumen und über einen jahrhundertelangen Prozess sehr organisch gewachsen. Man kann sie einem repräsentativen System nicht einfach aufpropfen.

Das geht auch deshalb nicht, weil jede Variation von direkter Demokratie die Macht der politischen Repräsentanten einschränkt. Das werden die nicht freiwillig mit sich machen lassen. Und wenn sie doch Formen der direkten Demokratie einführen, dann nutzen sie die als reine Akklamationsveranstaltungen - so wie die SPD das in verschiedenen Fällen gemacht, zuletzt bei der Abstimmung über den Koalitionsvertrag.

Das war ein Riesenkontrakt mit 134 Druckseiten. Die SPD-Mitglieder hatten nur die Möglichkeit dafür oder dagegen zu sein, so wie auch sonst bei politischen Wahlen in repräsentativen Demokratien: eine pauschale Zustimmung zu einer Partei, egal was die später macht. So funktioniert direkte Demokratie eben nicht.

Elemente einer direkten Demokratie sind in repräsentativen politischen Systemen entweder gar nicht oder nur als Farce, als Karikatur ihrer selbst durchsetzbar. Das ist die traurige Realität. Es bleibt nur, weiter sehnsüchtig in die Schweiz zu schauen und zu hoffen, dass wenigstens Minimalelemente der direkten Demokratie sich in repräsentativen Gebilden durchsetzen lassen. Groß ist die Hoffnung nicht.

Man wird ja wohl noch träumen dürfen

In seiner Parabel "Die Stadt der Sehenden" entwirft der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago die utopische Vision einer wirklich demokratischen Wirklichkeit.

An einem verregneten Sonntag gehen die Bürger der Hauptstadt eines demokratischen Landes nicht zur Wahl. Die Wahlhelfer werden nervös, die Politiker telefonieren wild umher, im leeren Wahllokal macht sich eine verzweifelte Stimmung breit. Doch dann, am späten Nachmittag, klart das Wetter auf, scharenweise strömen Wähler herbei, die Politiker atmen auf.

Es lag wohl am schlechten Wetter. Die Wahlurnen sind plötzlich voller Stimmzettel, die Welt scheint wieder in Ordnung - bis die Stimmen ausgezählt werden: Über 70 Prozent der Stimmzettel sind weiß. Ungültig.

Saramago schildert das friedliche Aufbegehren mündiger Bürger und die Weigerung der Regierenden, ihre Niederlage zu akzeptieren.

Politik in Demokratien ist ein bloßes Mittel zum Machterhalt. Die Minister in der Stadt der Sehenden sind demokratisch gewählte Herrscher mit absolutistischen Allüren, kritikunfähig und korrupt. Um das Ergebnis des Wahltags vergessen zu machen und zur Normalität zurückzukehren, ordnet die Regierung Neuwahlen an.

Doch nun sind sogar 83 Prozent der Zettel weiß. Je offensichtlicher die Handlungsunfähigkeit der Politik, desto stärker das Wissen der Bürger, dass sie keine wirkliche Wahl haben und sie nur noch aus dem Gefühl heraus wählen, man müsse sein Bürgerrecht wenigstens pro forma wahrnehmen.

Jetzt sieht sich die Regierung "gezwungen", den Ausnahmezustand zu verhängen. Seinen "lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern" empfiehlt der Premierminister Zerknirschung und Reue. Die aufständische Stadt wird abgeriegelt. Das Militär rückt ein, Panzer fahren durch die Straßen. Schon bald sind die ersten Todesopfer zu beklagen. Verhaftungen, Gewalt und Folter gehören rasch zum Alltag. Die Regierung ist unwirsch über das freche Volk.

Schließlich verlässt die Regierung mit all ihren Behörden die Stadt und ihre Terroristen. Was tut man nicht alles, um die Demokratie zu schützen?

Die Selbstherrlichkeit einer demokratisch gewählten Regierung führt zur Abschaffung der Demokratie. Wenn das Volk die Herrschenden nicht mehr wählt, dann müssen diese es zu seinem eigenen Schutz bekämpfen.

Vorbei sind auch die Zeiten, in denen noch das Brecht-Wort galt: Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?

Doch die Hoffnung der Regierung, es werde Chaos ausbrechen und die reumütigen Bürger kämen auf allen Vieren in den sicheren Hafen der bestehenden Verhältnisse zurückgekrochen, trügt; denn in der Stadt ohne demokratische Regierung geschieht Unerwartetes: Das Chaos bleibt aus. Die Wähler und die Nichtwähler arrangieren sich friedlich miteinander und ohne Staatsapparat.

Offensichtlich ist das Volk fähig zu einem Frieden ohne Regierung und Polizei, zu Ordnung und Organisation ohne Politiker. Als die Hauptstadtbewohner, die nicht weiß gewählt haben, aus der Stadt fliehen wollen, jedoch an der Grenze verdächtigt werden, "Weiße" zu sein, und zurückgeschickt werden, helfen ihnen die echten "Weißen", ihre Sachen wieder in die Wohnungen zu tragen: "Ein jeder hatte es für sich entschieden, es gab keine Anzeichen für einen Aufruf von höherer Stelle…"

Als die Müllmänner in einen vom Innenminister angeordneten Streik treten, reinigen die Hausfrauen ihre Straßen selbst. Das Fehlen der Polizei führt nicht zu erhöhten Unfallzahlen, die Verbrechensquote sinkt eher - und die politische Meinung wird in ebenso spontanen wie friedlichen Demonstrationen vorgebracht, was den Präsidenten zu dem entsetzten Ausruf veranlasst: "Demonstrationen haben noch nie etwas gebracht, sonst hätten wir sie doch niemals genehmigt."

Und so lautet wohl Saramagos Utopie: Der Mensch kann sich mehrheitlich und direkt für das Gute entscheiden, ohne den Umweg über die Politik und ihre Repräsentanten. Wahre Freiheit braucht keinen Staatsapparat - und sei er noch so demokratisch -, sondern die moralische Integrität der Bürger, und Toleranz ist die Mutter der Ordnung, nicht die Staatsgewalt.

Es ist wahrscheinlich eine viel zu naive, allzu weltfremde Utopie. Ein schöner Traum. Aber man wird ja wohl noch träumen dürfen…


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[2] http://www.literaturfestival.com/intern/reden/arundhatiroy_dt
[3] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/yascha-mounk-harvard-ueber-die-krise-der-demokratie-a-973808.html