Das Minimal Genome Project
Auf dem Weg zur Herstellung von maßgeschneiderten künstlichen Mikroorganismen aus der Retorte?
Schon zu Beginn des Jahres hatte der Molekularbiologe Craig Venter angekündigt (Nachbau des Lebens), dass es möglich sein könnte, aufgrund der Forschung, die in dem von ihm gegründeten Institute for Genomic Research (TIGR) betrieben wird, neue maßgeschneiderte Lebewesen aus der Retorte zu schaffen, ohne lediglich wie bislang üblich das Genom etwa eines Mikroorganismus zu manipulieren. Jetzt wurde der Ansatz des "Minimal Genome Project" in dem Artikel "Global Transposon Mutagenesis and a Minimal Mycoplasma Genome" in Science von den Wissenschaftlern ausgeführt und durch einen Bericht über die ethische Bewertung der Synthetisierung von neuen Organismen ergänzt.
Craig Venter von Celera Genomics ist bislang vor allem deswegen bekannt geworden, weil er in einen Wettlauf mit dem öffentlich geförderten Human Genome Project eingetreten ist, wer schneller das menschliche Genom sequenzieren kann. Dabei kann es um viel Geld in der boomenden Bio-Technologie gehen, aber die Gefahr besteht auch, dass die Wissenschaft behindert wird, wenn Gene patentiert und nur gegen Lizenzen weiter erforscht werden können. Bei Celera und in TIGR werden auch die Genome von anderen Lebewesen sequenziert. Für das Minimal Genome Project hat man sich das Genom des einfachsten bekannten Mikroorganismus vorgenommen. Mycoplasma genitalium ist ein Bakterium, das im menschlichen Genitalbereich lebt, zumindest keine bekannten Krankheiten verursacht und dessen Genom lediglich 480 Gene enthält. Das menschliche Genom beispielsweise besteht aus 80000 bis 120000 Genen.
Die Idee hinter dem Minimal Genome Project ist einfach: Mit der Hilfe von Transposonen, einer DNA-Sequenz, die sich an einer neuen Stelle im Genom einbauen kann, ohne mit dem Zielort eine Ähnlichkeit zu besitzen, werden nacheinander einzelne Gene entfernt und beobachtet, ob der Organismus weiterhin lebensfähig ist. Das ist bei 480 Genen noch überschaubar. Hat man die Gene herausgefunden, die der Organismus besitzen muss, um überleben zu können, so kennt man nach Ansicht der Wissenschaftler sozusagen die genetische Minimalausstattung für Leben und könnte so im Prinzip die Möglichkeit haben, aus diesen molekularen Grundbausteinen neue Organismen zu entwickeln, denen man zusätzlich Gene für bestimmte gewünschte Eigenschaften einbaut.
Allerdings ist die Lage für das reduktive Verfahren in Wirklichkeit ein wenig komplizierter, denn viele Gene sind redundant, deswegen aber nicht notwendigerweise auch unnötig. So kann man beispielsweise manchmal eines von zwei solchen redundanten Genen ohne Probleme entfernen, aber nicht beide gleichzeitig. Lebewesen sind nicht "sauber" ingenieurtechnisch konstruiert, was möglicherweise auch die Chancen begrenzen könnte, beliebige neue Organismen aus der Retorte zu schaffen. Mit der Kombination eines Korrekturfaktors für Redundanz kamen die Wissenschaftler zu der Schätzung, dass von den 480 Genen 265 bis 350 Gene für das Bakterium notwendig sind, um in Laborbedingungen leben zu können. Das glaubt man auch aus der Untersuchung eines nahen Verwandten von M. genitalium bestätigen zu können. M. Pneumoniae hat zwar 200 Gene mehr, aber die restlichen 480 Gene sind dieselben wie bei M. genitalium, woraus man schloss, dass die 200 zusätzlichen nicht essentiell für Leben seien.
Viele dieser notwendigen Gene sind bereits bekannt, aber es stellte sich heraus, dass immerhin ein Drittel der notwendigen Gene noch vollkommen unbekannt sind. Man weiß also nicht, welche Aufgabe sie haben: "Unsere Ergebnisse", so Venter, "zeigen, dass die Mehrzahl der 111 Gene mit unbekannter Funktion, die in unseren Experimenten nicht entfernt wurden, essentiell sind. Die Existenz von so vielen Genen mit unbekannter Funktion unter den essentiellen Genen der einfachsten bekannten Zelle legt nahe, dass noch nicht alle elementaren molekularen Mechanismen, die dem zellulären Leben zugrunde liegen, bekannt sind."
Interessant ist dabei auch die Bestätigung der Erkenntnis, dass Gene alleine noch nicht Leben definieren. Organismen sind auf eine Umwelt angewiesen, die beispielsweise die klimatischen Bedingungen oder die Nährstoffe aufweist, für die der Organismus genetisch ausgestattet ist. Eine "molekulare Definition des Lebens", wie sie Venter aus seinem Ansatz entwickeln will, wird daher auch immer den Lebensraum mitberücksichtigen müssen. Leben ist, wie Venter sagt, daher "kontextsensitiv", was natürlich auch dann eine wichtige Rolle spielt, wenn man es schaffen würde, aus den molekularen Grundbausteinen tatsächlich Organismen und damit Leben zusammenbauen zu können.
Der nächste Schritt des Minimal Genome Project wäre natürlich, aus den entdeckten Grundbausteinen ein neues künstliches Bakterium zu schaffen, wozu erst einmal ein künstliches Chromosom hergestellt werden müsste, das die Gene enthält. An solchen künstlichen Chromosomen wird in vielen Forschungslaboren bereits gearbeitet. Sie könnten etwa beim Klonen oder auch bei etwaigen Eingriffen in die menschliche Keimbahn eine Rolle spielen, weil sie verhindern, dass gentechnisch manipulierte Eigenschaften eines Genoms sich auf die nächste Generation vererben, und weil sie einen gezielteren Einbau neuer Gene ermöglichen (Grgory Stock: Die Aussichten für gentechnische Eingriffe in die menschliche Keimbahn).
Könnte man also solche künstlichen Chromosomen mit den lebensnotwendigen Genen herstellen, könnte man sie in natürliche oder künstliche Zellen einführen - und hätte damit einen neuen Organismus geschaffen. Den notwendigen Genen könnte man zusätzliche Gene hinzufügen, um so Zellen für bestimmte Eigenschaften zu entwickeln, also beispielsweise, dass sie für Menschen zur Therapie benötigte Proteine herstellen oder bestimmte Materialien wie radioaktive Abfälle abbauen. Der Markt wäre sicherlich gigantisch und vielsprechend, aber die Bedenken sind auch höher als bei gentechnisch manipulierten Organismen, bei denen nur einzelne Gene eingefügt wurden. Was könnte passieren, wenn man solche künstlichen Organismen, die in der irdischen Evolution sich nicht entwickelt haben, in der Natur frei lässt?
Möglich wäre freilich auch, noch wirksamere biologische Waffen herzustellen. Venter schlug zu Beginn des Jahres bereits vor, dass man auch ein "Bio-Terrorism Genome Project" beginnen könnte, das die Gene aller möglichen biologischer Waffen sequenziert. Hätte man die gesamte genetische Information aller Krankheitskeime, dann könnte man auch Mittel finden, um deren Vorhandensein schneller zu entdecken und Gegenmittel zu entwickeln. Jedenfalls glaubt Venter, dass der Übergang von der Reduktion zur Synthese zunächst einmal eine breite ethische Diskussion erfordert, schließlich kommen dabei wieder die Bilder von Wissenschaftlern als Nachfahren von Frankenstein hoch oder könnten sie beschuldigt werden, Gott spielen zu wollen. Die Schaffung künstlichen Lebens aus der Retorte geht schließlich noch einen Schritt weiter als dies beim Klonen der Fall war.
Um die Diskussion in Gang zu bringen und/oder sich abzusichern, hat das Institute for Genomic Research einen Bericht einer unabhängigen Ethikkommission unter der Leitung von Mildred Cho vom Center for Biomedical Ethics an der Stanford University angefordert. Die kam zum Ergebnis, das es grundsätzlich keine Gründe gibt, den Wissenschaftlern gänzlich die Herstellung neuer Lebensformen zu verbieten: Die Schaffung neuer, freilebender Lebensformen "verletzt keine grundlegenden moralischen Gebote und Grenzen, aber stellt Fragen, die unbedingt zu klären sind, bevor die Technik weitere Fortschritte macht". So würde durch die Synthetisierung eines minimalen Genoms die Frage gestellt, ob man Leben nur genetisch definieren könne oder ob es irgendeine "geistige" Komponente gibt. Die Gefahr sei sehr ernst zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die Ergebnisse des Projekts so verstehen könne, dass Leben nichts anderes als DNA sei. Aber natürlich müsse auch geklärt werden, ob die Freisetzung künstlicher Organismen in die Umwelt zu ökologischen Schäden führen könnte. Die Wissenschaftler des Minimal Genome Project am Institute for Genomic Research haben jedenfalls angekündigt, solange nicht mit der Herstellung künstlicher Organismen experimentieren zu wollen, bis eine breite öffentliche Diskussion stattgefunden hat. Wenn die Technik dafür freilich schon zur Verfügung stünde und es bereits möglich wäre, ein Genom künstlich zusammenzubauen, aus dem sich ein Mikroorganismus entwickelt, würde das daraus entstehende Versprechen, viel Geld aus einem Markt der unendlichen Möglichkeiten mit maßgeschneiderten Bakterien zu schöpfen, vermutlich schnell jedes ethische Bedenken hintanstellen.