Das Netz als Sieb

Die Stiftung Warentest zum Thema Wissenschaft heißt in den USA "Retraction Watch"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zwar ist die wissenschaftliche Methode die beste, um die Realität zu erkennen, aber auch die Wissenschaft findet in einem gesellschaftlichen Umfeld statt. Dieses gesellschaftliche Umfeld übersetzt den kapitalistischen Produktions- und Konkurrenzzwang für die Wissenschaft in die Maxime "publish or perish". Die Müllabfuhr für den rubbish, der dabei zu oft entsteht (Geschummelt, nicht geirrt), betreiben u.a. die Macher von Retraction Watch.

"Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Marmelade Schnaps enthält, Schnaps e-hent-hält" - das alte, doofe Kinderlied beschreibt leider heute noch - und teilweise immer zutreffender - wie Wissenschaft, wenn schon nicht funktioniert, dann doch immerhin vermittelt wird. Es ist lange bekannt, dass wissenschaftliche Sensationsmeldungen in Printmedien gerne auf der ersten Seite zu lesen sind, während die Entdeckung wissenschaftlicher Irrtümer, Schlampereien und Betrügereien dann leider mit einer kurzen Notiz auf Seite 17 abgehandelt wird - von Fällen, die selbst sensationsträchtig sind, abgesehen. "Zu viele Behauptungen, zu wenig Kritik" - das gilt schon lange nicht nur für die Berichte über die Wissenschaft, sondern für die Berichte der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über ihre Arbeit selbst.

Immerhin ist es aber im Netz ein wenig leichter, der Kritik eine Stimme zu geben. Und genau das haben die beiden Wissenschaftsjournalisten Ivan Ovransky und Adam Marcus mit ihrem Blog Retraction Watch getan. Marcus ist Wissenschaftsjournalist und Chef vom Dienst der Anesthesiology News Ovransky hat eine vergleichbare Position bei dem auf Medizin-Nachrichten spezialisierten Zweig der Nachrichtenagentur Reuters.

Beide betreiben seit dem August 2010 ihr Blog, das ausschließlich ein Thema hat: wissenschaftliche Studien, die aufgrund von Fehlern, Schluderigkeiten, oder bewussten Täuschungen zurückgezogen werden müssen. Für ihr anstrengendes Hobby, das ihnen die Fähigkeiten von Wissenschaftsjournalisten und von Detektiven abverlangt, geben sie mehrere Gründe an.

Notorische Datenfälscher

Erstens, so sagen sie, ist die Wissenschaft zwar stolz darauf, dass sie sich selbst korrigieren kann (unter anderem durch die Revision falscher oder überholter Studien), aber Ovransky und Marcus dauert das oft zu lange. "The Lancet" brauchte zwölf Jahre, um die "Studie" Andrew Wakefields zu dem angeblichen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus zurückzuziehen, die so fehlerhaft war, dass Wakefield als Arzt Berufsverbot in Großbritannien erhielt, nachdem das ganze Ausmaß seiner Manipulationen bekannt wurde.

Zweitens verschwinden Meldungen über Rückzieher zu oft in Datenbänken für Spezialisten, was ihre Verbreitung behindert. Drittens finden Ovransky und Marcus die Geschichten, die hinter den gescheiterten Studien stehen, oft einfach gut. Dem letzteren Punkt kann man nur zustimmen, wenn man sich die Rosinen aus ihrem Blog herauspickt.

Da ist zum Beispiel der niederländische Sozialsychologe Diederik Stapel, von dem bisher die beachtliche Anzahl von 28 Aufsätzen zurückgezogen werden musste. Er ist mittlerweile als notorischer Datenfälscher bekannt, und wird sich in den Niederlanden vor Gericht verantworten müssen, weil er auch gefälschte Daten benutzt hat, um an staatliche Fördergelder zu kommen. Sollte er dafür zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, so schreiben Ovransky und Marcus, würde er ein neues Mitglied in einem ziemlich exklusiven Club werden.

Ihres Wissens sind bisher erst zwei weitere Wissenschaftler wegen ähnlicher Vergehen im Knast gelandet: Eric Poehlman und Scott Reuben.

Zügige Korrektur eigener Irrtümer aller Ehren wert

Oder wie wäre es mit Nachrichten über Leute, die dumm genug sind, Forschungspapiere über die Wirksamkeit zweier verschiedener Medikamente mit denselben Daten zu schmücken, und sich dabei erwischen lassen, weil sie nicht einmal in der Lage sind, die betreffenden Texte gründlich neu zu formulieren?

Bei all dem ist wichtig, festzuhalten, dass Irrtümer und ihre Korrektur ein zentraler Bestandteil der wissenschaftlichen Methode sind. So pochen die Macher der Retraction Watch zu Recht darauf, dass die zügige Korrektur eigener Irrtümer aller Ehren wert ist und die Glaubwürdigkeit der betreffenden Wissenschaftler erhöht. Ovransky und Marcus ziteren den Fall von Nathan Georgette, einem sehr jungen Forscher, der Anfang Oktober eines seiner Papiere zum Thema Herdenimmunität zurückzog, weil er erkannt hatte, dass das mathematische Modell, auf dem seine Schlussfolgerungen beruhten, fehlerhaft war.

Indem sie Georgette (der sich, nebenbei gesagt, auch für das Thema Open Access erwärmen kann), für seine Offenheit loben, folgen Ovransky und Marcus implizit einer Maxime des Physikers Richard Feynman, der einst sinngemäß meinte: Der Schlüssel zum wissenschaftlichen Arbeiten ist das Eingeständnis, einen Fehler gemacht zu haben.

Und genau deswegen sind Publikationen wie Retraction Watch und Institutionen wie die Cochrane-Zentren, die den Wert wissenschaftlicher Studien mit den Methoden der Metaanalyse zu bestimmen versuchen, so wichtig. Spreu und Weizen trennen sich auch in der Wissenschaft nicht von selbst - im Gegenteil, unter wirtschaftlichem Druck wächst die Gefahr der absichtlichen und der unbewussten Vermischung. Man kann dankbar dafür sein, dass es Leute gibt, die beim Sortieren helfen.