"Das Neun-Euro-Ticket macht krank"
Auf den Ansturm von Fahrgästen ist die Deutsche Bahn nicht vorbereitet. Übervolle Züge, kaputte Toiletten und überlastetes Personal sind die Folge. Gewerkschafter zeigen sich bestürzt.
Das 9-Euro-Ticket hat den Zustand der Deutschen Bahn offengelegt – und er ist katastrophal. Die beiden Bahn-Gewerkschaften EVG und GDL zeigten sich äußerst besorgt. "Ich habe solche Zustände wie in diesem Sommer noch nie erlebt", sagte der Vizechef der EVG, Martin Burkert, gegenüber Welt am Sonntag (WamS, 17.07.2022).
Burkert berichtete von enormem Gedränge in den Zügen: In einem Zug von Rostock nach Hamburg habe er gesehen, "wie Menschen buchstäblich aus dem Zug gefallen sind, als die Türen geöffnet wurden".
Doch damit nicht genug: Der Ansturm von Passagieren auf den Nahverkehr habe zu massiven Abnutzungserscheinungen geführt. "Wir stellen schon sehr frühzeitig Schäden durch die starke Nutzung des 9-Euro-Tickets fest: Aufzüge sind defekt, Toiletten in Zügen funktionieren nicht mehr, es wird einfach alles sehr stark belastet", sagte Burkert.
Hinzu komme, dass alle Züge mobilisiert wurden, um den Ansturm gerecht so werden, betonte Burkert. Ersatzzüge gibt es deswegen kaum noch. Und wenn Reparaturen notwendig werden, dann werde auch nur das Nötigste gemacht, damit die Wagen wenigstens weiterfahren könnten.
Der Ansturm auf den Nahverkehr hat das Bahn-Personal in eine Situation gebracht, in der es an die Belastungsgrenze kommt. Dennoch schaffen es die Mitarbeiter, "den Laden irgendwie am Laufen" zu halten, so der EVG-Vize.
Bahn-Personal völlig überlastet
Burkert berichtete von handgreiflichen Auseinandersetzungen, die fast jeder Kollege erlebt habe; dass Zugbegleiter in den Führerstand flüchten müssten; und im Gedränge gar nicht mehr in der Lage wären, Fahrkarten zu kontrollieren.
Diese Belastung führt zu hohen Krankenständen. Man merke: "Das 9-Euro-Ticket macht krank", so Burkert. Die EVG spricht sich zwar für einen günstigen Nahverkehr aus, betont aber gleichzeitig, dass das nur umsetzbar sei, wenn auch das Personal deutlich aufgestockt wird. Doch trotz "Einstellungsoffensive" im Konzern bleiben viele Stellen unbesetzt.
Der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, sprach von einem Chaos in diesem Sommer, wie er es noch nie erlebt habe bei der Bahn. "Das ist der absolute Super-Gau", sagte er gegenüber WamS. Der Zustand des Konzerns sei "durch jahrelanges Kaputtsparen katastrophal".
Der "Saftladen" benötigt Reformen
Es könne kein Weiter-so mehr geben, denn das habe "zu diesem Saftladen" geführt, sagte Weselsky und sprach sich gleichzeitig für tiefgreifende Reformen aus. Das System Eisenbahn müsse völlig neu aufgestellt werden, doch dafür fehle es überall an Sachverstand. Es müsse klar zwischen Netz und Betrieb getrennt werden, entweder innerhalb des Konzerns oder durch dessen Aufspaltung.
Für Weselsky ist das, was sich seit Juni im Nahverkehr abspielt, eine Überlastung mit Ansage gewesen. Gegenüber dem WDR sagte er: Dass es dazu kommen würde, hätten alle Beteiligten vorher gewusst. Doch jetzt kämen die Fehler der Vergangenheit zum Vorschein.
Damit sie sich nicht wiederholen, fordert er, dass die Folgen des Ansturms auf das 9-Euro-Ticket aufgearbeitet werden.
Dann brauchen wir eine Nachbereitungsphase. Alles Material - ob Züge, Rolltreppen oder Toilettenanagen – das an die Grenze belastet wird, wird störungsanfälliger und die Lebensdauer wird verkürzt. Das heißt, wir legen jetzt schon wieder den Grundstein für neue Störungen, weil wir bis an die Grenzen belastet sind.
Claus Weselsky
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