Das Staatsverbrechen

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Macron und das Massaker an Algeriern vom 17. Oktober 1961 in Paris - Endlich äußert sich ein französischer Präsident klar und deutlich: "Das ist unentschuldbar"

Ein amtierender französischer Staatspräsident nimmt am heutigen Samstag an einer Gedenkfeier für die Opfer eines Massakers, das 200 bis 300 Tote forderte, teil. Er wird dabei nicht selbst das Wort ergreifen und keine Rede halten, sondern sich wie ein gewöhnlicher Teilnehmer verhalten.

Das Besondere daran?

Das Gedenken gilt einer Massentötung, deren pure Existenz bis vor gut zwanzig Jahren durch den französischen Staat schlichtweg geleugnet wurde. War er es doch, der das Massaker von jenem berüchtigten 17. Oktober 1961 beging.

Verbotenes

Heute, da die unmittelbar am Geschehen beteiligten Akteure überwiegend nicht mehr am Leben weilen, fällt eine Anerkennung leichter. Diese hatte es lange Zeit schwer. Schon im Jahr danach, 1962, wurde ein Dokumentarfilm dazu - unter dem Titel "Oktober in Paris" - gedreht, doch umgehend verboten.

Sein Regisseur, René Vautier, trat aus diesem Grund Jahre später, 1973, in den Hungerstreik; daraufhin wurde der Film offiziell freigegeben, doch faktisch hauptsächlich unter dem Mantel weitergegeben. An einem einzigen Tag, am 19. Oktober 2011, kurz nach dem fünfzigsten Jahrestag, wurde er in Kinosälen ausgestrahlt.

Massenverhaftungen, Schläge, Folter, Verschwindenlassen, Morde

Doch wer es wirklich wissen wollte, konnte es frühzeitig wissen: Zeitgenössische Quellen machten schon wenige Tage nach dem Geschehen, die damals zugänglichen Informationen über das Massaker umfassend öffentlich. Im November 1961 erschien eine Sondernummer der im Zeitraum 1960 bis 1962 halblegal bis illegal publizierten, durch das "Komitee Maurice Audin" - es trug den Namen eines 1957 in Algier zu Tode gefolterten Kommunisten und Mathematikers - herausgegebenen Zeitschrift Vérité-Liberté.

Einer der Autoren war der jüdische Historiker Pierre Vidal-Naquet, der sich später im Kampf gegen Holocaustleugner in Frankreich einen prominenten Namen machte. Die Sondernummer machte die Konturen eines Staatsverbrechens deutlich und benannte es als solches.

Bereits am 26. Oktober 1961 erschien in dem noch heute existierenden, damals jedoch ungleich mutigeren, liberalen Wochenmagazin L’Express folgender Reportagentext aus der Feder des Schriftstellers Jean Cau aus einem der Slums (bidonvilles), die damals nördlich an Paris angrenzten:

In diesen letzten Tagen sah ich nur Gesichter, aus denen das Lächeln verbannt war, geschwollene Augen und Rücken, die mit Gewehrkolben blau geschlagen waren; ich hörte nur Erzählungen, in denen, wie eine Litanei, immer dieselben Worten wiederkehrten: Massenverhaftungen, Schläge, Folter, Verschwindenlassen, Morde. Um das Treppenhaus hochzugehen, zündet ein Kind Streichhölzer an. Sie ließen mich hinsetzen. Die Mutter, 51, die im Bett lag, bat um Entschuldigung. Sie konnte sich nicht bewegen wegen ihres Rückens, der über und über blau war. Aber ich sah ihr Gesicht, violett und schwarz, mit einem Auge - dem linken Auge -, das dick geschwollen war wie ein Ei und dessen Hornhaut dunkelrot war. "Der Doktor hat gesagt, dass ich das Augenlicht auf dieser Seite verlieren werde."

(…) Man hat sie auf der Polizeiwache Val-de-Grâce abgesetzt. Unter ihren Augen bekam ihre Tochter eine Serie von Fußtritten in den Bauch ab. In der Nacht wurde sie auf dem Trottoir ausgesetzt. Sie verlangte ihre Tochter. Die Polizisten hoben ihre Knüppel. Hinkend schleppte sie sich bis nach Hause, sie fragt sich, wie sie ankam. "Und Ihre Tochter?" - "Sie ist nicht angekommen. Es ist drei Tage her, sie ist nicht zurückgekommen."

Jean Cau

Die hier geschilderten Brutalitäten beziehen sich auf die Demonstration von Frauen am Freitag, den 20. Oktober 1961, auf denen diese die Wahrheit über den Verbleib ihrer Männer und der übrigen Opfer vom 17. Oktober einforderten.

Eine schillernde Karriere: Der Polizeipräfekt in Paris

Bewegung kam in die Sache durch den Prozess gegen Maurice Papon wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der 1997/98 in Bordeaux stattfand. Bei ihm ging es um Deportationen von rund 1.700 jüdischen Menschen aus Südwestfrankreich, die in den Jahren 1942 bis 44 stattfanden. Papon war als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux für deren Organisierung verantwortlich gewesen.

Damit endete seine Karriere jedoch nicht. Derselbe Papon war in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre auch Präfekt im Raum Constantine im östlichen Algier gewesen, also im Kriegsgebiet - der Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht in Algerien hatte am 1. November 1954 begonnen -, wo er die staatliche Kampfführung mit außergerichtlichen Exekutionen und willkürlichen Massenfestnahmen verschärfte.

Und derselbe Papon amtierte 1961 als Polizeipräfekt in Paris. Auch hier führte er die Bekämpfung des im Untergrund agierenden FLN, also der algerischen Nationalen Befreiungsfront, fort.

Ab 05. Oktober 1961 galt eine spezifisch nur über "muslimische Nordafrikafranzosen", so lautete damals die amtliche Bezeichnung für Algerier, verhängte abendliche Ausgangssperre. Eine rassistische, offen diskriminierende Maßnahme, die die Aktivitäten des im Untergrund agierenden, je nach Kontext mit unterschiedlichen Mitteln agierenden FLN eindämmen sollte.

Die Fédération de France du FLN, also der Ableger des FLN - damals Widerstandsbewegung, heute Regierungspartei in Algerien - im europäischen Teil des französischen Staatsgebiets, denn die damalige Siedlungskolonie in Nordafrika wurde 1961 noch als "integraler Bestandteil des Mutterlands" behandelt, rief am Abend jenes 17. Oktober zu einer friedlichen Protestdemonstration in der Hauptstadt auf.

17. Oktober 1961: Friedlicher Protest ohne Waffen

Dies war keine Floskel, sondern eine dezidierte politische Entscheidung seitens der Befreiungsbewegung, die damals auch bewaffnete Aktionen durchführte: Die Kader des FLN hatten den Demonstrantinnen und Demonstranten vorab mit Sanktionen gedroht, falls sie auch nur das kleinste Messer bei sich führten, und ließen die Einhaltung der angeordneten Waffenlosigkeit durch einen Ordnerdienst kontrollieren.

Dessen ungeachtet wurden mehrere Hundert Teilnehmer erschossen, zu Tode geprügelt, lebend in die kalte Seine geworfen - wobei laut Zeugenberichten auch französische Rassisten unter den Gästen umliegender Cafés und Restaurants zum Teil mithalfen - oder in den Kellergeschossen der Polizeipräfektur im historischen Zentrum von Paris ausgehungert und misshandelt.

12.000 festgenommene Demonstranten wurden dort, aber auch in eigens durch die Polizei dafür in Beschlag genommenen Sportstadien am Stadtrand von Paris tage-, in den Untergeschossen von Pferderennbahnen auch wochenlang festgehalten.