zurück zum Artikel

"Das Tragische am Bandera-Kult ist, dass Ukrainer oft nicht wissen, wen sie eigentlich verehren"

Stepan-Bandera-Statue in Ternopil (etwa 80 km östlich von Lwiw). Bild: Mykola Vasylechko / CC-BY-SA-4.0

Ein Gespräch mit dem Historiker Grzegorz Rossoliński-Liebe über den Bandera-Kult, die Aufarbeitung der Geschichte in der Ukraine, Putin und den Umgang mit der kulturellen Vielfalt in dem heterogenen Land.

Herr Rossoliński-Liebe, mit dem Krieg in der Ukraine ist auch die historische Figur Stepan Bandera in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. In der Süddeutschen Zeitung bezeichnete Heribert Prantl [1] ihn kürzlich als Nazi-Kollaborateur. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, antwortet ihm öffentlich [2], man wolle sich nicht von Deutschen vorschreiben lassen, wen Ukrainer verehren sollen. Ist das Gedenken an Stepan Bandera ihrer Meinung nach unproblematisch?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Das Gedenken an eine Person, die ukrainischen Nationalismus radikalisierte, ukrainischen Faschismus maßgeblich prägte und der Führer eines ethnisch-homogenen Staates in Hitlers "Neuen Europa" werden wollte, ist aus demokratischer Perspektive eindeutig problematisch.
Es ist aber interessant, dass solche Themen in der Öffentlichkeit erst jetzt diskutiert werden, nachdem Putin die Ukraine im Februar 2022 angegriffen hatte. Meine Biographie von Stepan Bandera wurde Ende 2014 veröffentlicht. Per Anders Rudling, Franziska Bruder, Alexander Prusin, Omer Bartov, Kai Struve, John-Paul Himka und andere Kolleginnen und Kollegen haben ihre Publikationen zum Holocaust und Zweiten Weltkrieg in der Ukraine auch schon vor ein paar Jahren vorgelegt. Sie wurden aber nur in kleinen Kreisen rezipiert und wirkten sich kaum auf die Öffentlichkeit und geschichtspolitischen Diskurse in der Ukraine, Deutschland, Polen oder Russland aus. In etwas größerem Umfang wurden sie in Israel, Nordamerika und anderen englischsprachigen Ländern rezipiert.
Grzegorz Rossoliński-Liebe arbeitet als Historiker an der Freien Universität Berlin. Im Jahr 2014 erschien seine Biografie über den ukrainischen Politiker Stepan Bandera. Er ist ein Experte für die jüdische, ukrainische, polnische und russische Geschichte sowie die Geschichte des Holocaust, Faschismus, Antisemitismus und Nationalismus.
Bandera schloss sich damals der 1929 in Wien gegründeten Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) an, die eine inhaltliche Nähe zum italienischen Faschismus pflegte. Durch welche Positionen zeichnete sich die OUN aus? Und kann man Bandera als Faschisten bezeichnen?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Der Faschismus wurde in der Ukraine bereits in den frühen 1920er Jahren rezipiert. Zuerst aus Italien und später in den 1930er Jahren überwiegend aus Deutschland. Hitler war wegen seines kompromisslosen Antisemitismus in der OUN beliebt. Zugleich wurde der ukrainische Faschismus auf der Basis des radikalen ukrainischen Nationalismus konzipiert.
Verwirrend ist, dass ukrainische Faschisten sich relativ selten "Faschisten" bezeichneten, obwohl sie sich als Faschisten verstanden. Sie benutzten überwiegend den Namen "Nationalisten". Dahinter stand die Überlegung, dass Faschismus keine genuine ukrainische Bewegung war und dass sie als Agenten von Mussolinis Italien oder Hitlers Deutschland wahrgenommen werden konnten.
In den Diskursen, die sie in ihren eigenen Publikationen führten, setzte sich die Idee, dass die OUN faschistisch ist, spätestens in den frühen 1930er Jahren durch. Seitdem war allen Mitgliedern der Bewegung klar, dass zwischen radikalem Nationalismus und Faschismus kein Widerspruch besteht und dass sie zugleich Nationalisten und Faschisten sind.
Viele waren auch stolz, einer europäischen, transnationalen Bewegung zuzugehören, die von Mussolini und Hitler angeführt wurde. Die Erfindung des ukrainischen Faschismus ist auch deshalb interessant, weil in der Zwischenkriegszeit kein ukrainischer Staat bestand. Die Konzeptualisierung des Faschismus verlief aus diesem Grund ähnlich wie in Kroatien, das ein Teil von Jugoslawien war. Die OUN arbeitete mit der kroatischen Ustascha zusammen. Beide wurden in denselben Orten in Italien mit Mussolinis Unterstützung ausgebildet.
Bandera, der 1933 zum Führer der OUN in der Westukraine (damals Südostpolen) gewählt wurde, nahm an der Erfindung des ukrainischen Faschismus aktiv teil. Während der Gerichtsverfahren in Warschau und Lemberg 1935 und 1936, die wegen des Attentats auf den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki geführt wurden, trat er wie der Führer einer faschistischen Bewegung auf, die die Ukraine befreien will. Im Gerichtsaal wandten OUN-Angeklagte mehrmals den faschistischen Gruß "Slava!" (Ehre) und "Slava Ukraïni!" (Ehre der Ukraine) an, um Bandera und andere Mitglieder zu begrüßen, obwohl sie deshalb zusätzliche Strafen erhielten. Sie waren stolz, Faschisten zu sein und empfanden keinen Widerspruch zwischen Faschismus und Nationalismus.

"Polen, Juden und Russen waren die Hauptfeinde"

Sie schrieben kürzlich, in der OUN seien seit 1934 Pläne ausgearbeitet worden, die Polen und Juden aus der Ukraine zu vertreiben und zu ermorden. Wurden die Pläne von der OUN aktiv verfolgt?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Ja, die ersten Pläne wurden 1934 von Mykola Kolodzinskyj verfasst. Er hat das unter anderem in einem Ausbildungslager in Italien gemacht, wo er mit der Ustascha geschult wurde. Seine Idee war, Juden und Polen teilweise zu ermorden, teilweise aus der Ukraine zu vertreiben. Heute ist das vielleicht verwunderlich, aber damals wurden solche Pläne in faschistischen Organisationen geschmiedet und diskutiert.
Polen, Juden und Russen waren die Hauptfeinde der OUN. Auch demokratische und kommunistische Ukrainer waren eine wichtige Feindgruppe. Allen OUN-Mitgliedern war seit Mitte der 1930er Jahre klar, dass die Führung von ihnen erwartet, bei einer passenden Begebenheit – wie zum Beispiel einem Krieg – die Ukraine ethnisch zu säubern. Als Methoden wurden Vertreibung und Massenmord verstanden und viele Nationalisten waren bereit, entsprechend zu handeln. Das Hinterfragen dieser Idee war verboten, was wir aus Memoiren einiger Mitglieder der Bewegung wissen. Bandera selbst, der seit Mitte 1934 im Gefängnis saß, radikalisierte andere ukrainische Häftlinge, die im Zweiten Weltkrieg Massenmorde begingen.
Die OUN arbeitete nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion aktiv mit der Wehrmacht zusammen. Später kämpfte sie aber auch gegen die Deutschen, heißt es immer wieder. Was war der Grund für die veränderte Haltung? Und hielt diese Feindschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Wenige Tage, nachdem die deutsche Wehrmacht im September 1939 Polen überfiel, brachen Bandera und andere führende OUN-Mitglieder aus polnischen Gefängnissen aus. Bandera ging zuerst nach Lemberg, kehrte aber schnell nach Krakau zurück, weil die Sowjetunion die Westukraine besetzte.
In Krakau begann er, mit der Wehrmacht und der Abwehr zusammenzuarbeiten. In Folge dieser Kollaboration wurden die Bataillone Nachtigall und Roland aufgestellt, die aus ukrainischen Nationalisten bestanden.
Die OUN spaltete sich 1940 in die OUN-Bandera und OUN-Melnyk. Es wurde ein Konflikt zwischen der älteren und jüngeren Fraktion in der OUN ausgetragen. Bandera als Führer der OUN-B sollte der Führer eines ukrainischen Staates werden, der wie Ustaschas Kroatien in Hitlers "Neuen Europa" funktionieren sollte.
Obwohl der Staat am 30. Juni 1941 in Lemberg proklamiert wurde, scheiterte dieses politische Projekt, weil Hitler gegenüber der Ukraine, Litauen und Weißrussland andere Pläne als gegenüber Kroatien oder der Slowakei hatte. Weil Bandera zuerst die Staatlichkeit nicht aufgeben wollte, wurde er verhaftet und als politischer Sonderhäftling des Reichssicherheitsamts in Berlin und KZ- Sachsenhausen bis Herbst 1944 gehalten.
Wie veränderte die Inhaftierung Banderas die Zusammenarbeit der OUN mit den Deutschen?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Als der ukrainische Staat proklamiert wurde, organisierten OUN-Mitlieder Pogrome in der Westukraine gemeinsam mit Wehrmacht und Einsatzgruppen, was unter anderem Kai Struve eingehend untersuchte.
Banderas Verhaftung wirkte sich auf die Kollaboration mit Nazi-Deutschland aus. Auf der politischen Ebene fand seitdem keine Kollaboration mehr statt, aber die Zusammenarbeit im Holocaust funktionierte einwandfrei. OUN-Mitlieder schlossen sich der ukrainischen Polizei im Distrikt Galizien und Wohlynien an. Sie und ebenso viele "gewöhnliche" Ukrainer halfen den deutschen Besatzern 800.000 Juden in der Westukraine zu ermorden. Der OUN kam das entgegen, weil es ein Teil ihres Plans war, die Ukraine in ein ethnisch-homogenes Land zu verwandeln.
Als Anfang 1943 bereits etwa 90 Prozent der westgalizischen Juden ermordet waren, verließen etwa 5.000 Ukrainer die Polizei im Reichskommissariat Ukraine und schlossen sich der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) an, die durch die OUN gründet worden war. Die UPA begann Anfang 1943 zuerst in Wolhynien und 1944 in Galizien massenweise Polen zu ermorden und sie zum Verlassen der Ukraine zu zwingen. Auf diese Weise wurde die Westukraine Ende 1944 zu einem überwiegend ethnisch-homogenen Gebiet. Die meisten Juden waren ermordet und Polen entweder ermordet oder vertrieben.

"Widerstand gegen Nazi-Deutschland fand nur bedingt statt"

Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Die ukrainischen Nationalisten beteiligten sich aktiv am Holocaust und ermordeten hunderttausende Juden und Polen. Aber die Deutschen ließen die Gründung eines eigenen ukrainisches Staates nicht zu. Kämpfte die OUN dann auch gegen die Deutschen?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Von einer Veränderung der Haltung gegenüber Deutschland können wir nur bedingt sprechen. Wie gesagt, obwohl Bandera und die OUN-Führung verhaftet wurden, wurde die Kollaboration auf unteren Ebenen fortgesetzt. Die OUN und die UPA gaben aber, als die Wehrmacht die Schlacht bei Stalingrad verlor, den Faschismus langsam auf und orientierte sich um.
In offiziellen Publikationen begann sie Deutschland als ihren Feind darzustellen. Vereinzelt kämpften auch UPA-Partisanen gegen Deutsche in der Westukraine. Dieser Kampf war aber nie ein wichtiges Ziel der Organisation. Die OUN und UPA fühlten sich ideologisch mit den Nationalsozialisten verwandt. Sie wussten auch, dass Deutschland die Ukraine bald verlassen wird.
Auch war ein Kampf gegen die Wehrmacht für die UPA kontraproduktiv, weil Deutschland gegen ihren neuen Hauptfeind – die Rote Armee – kämpfte. Deshalb schickten vor allem die OUN-M und im kleineren Ausmaß auch die OUN-B ihre Mitglieder zu der Division Waffen-SS Galizien, die 1943 in Galizien entstand und aus mehr als 8.000 jungen Ukrainern bestand.
Der "Widerstand" gegen Nazi-Deutschland ist also ein Thema, dass in den ukrainischen Diskursen zwar nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielte aber im Krieg nur bedingt stattgefunden hatte.
Welchen Anteil hatten Bandera an den Verbrechen von OUN und UPA? Und gab es noch andere ukrainische Nationalisten, die sich federführend an den Verbrechen beteiligten, aber heute als Helden der Ukraine verehrt werden?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Das sind sehr wichtige Themen, über die wir unbedingt noch mehr forschen sollten. Vor allem über den genauen Verlauf der Kollaboration im Judenmord brauchen wir noch mehr Detailstudien. Wie gesagt, OUN-Mitglieder halfen den Besatzern Juden in der Westukraine zu ermorden.
Ebenso "gewöhnliche" Ukrainer in der Kommunalverwaltung wie Bürgermeister oder Dorfschulzen waren am Judenmord beteiligt. Banderas Onkel – Josef Bandera – war zum Beispiel der Bürgermeister von Stryj. Ohne die Unterstützung der ukrainischen Polizei und Kommunalverwaltungen wäre der Judenmord in der Westukraine nicht so "effizient" und "umfassend" verlaufen und es hätten eventuell deutlich mehr Juden überlebt.
Die OUN und UPA ermordeten auch Juden, die aus den Ghettos geflohen waren und sich in den Wäldern oder Dörfern und Kleinstädten versteckt hatten, ohne dass die deutschen Besatzer sie darum gebeten hätten. Ihr Beitrag zum Holocaust in der Westukraine ist also bedeutend. Viele Details sind leider bis heute zu wenig bekannt.
Die Ermordung von Polen ist besser erforscht. Man weiß, dass Polen seit Frühling 1943 in Wolhynien und seit Anfang 1944 in Galizien massenweise und systematisch ermordet und vertrieben wurden. Man weiß, wie die Verbrechen vorbereitet und durchgeführt wurden. Ähnlich wie jüdische Überlebende hinterließen auch Polen aus Wolhynien und Galizien Berichte. Auch die Pläne der OUN und UPA-Führung sind bekannt. Die Systematik und Grausamkeit des Handelns sind erschreckend. Sie zeigen, wie eine faschistische Bewegung, die politisch mit Nazi-Deutschland offiziell nicht zusammenarbeitet, während des Zweiten Krieges hinter der Front systematisch und massenweise Zivilisten ermordete.
Bandera ist für diese Verbrechen indirekt bzw. politisch verantwortlich. Indirekt, weil er oft selbst nicht in der Westukraine war und selbst auch keine Befehle erteilte. Als Führer der Bewegung radikalisierte er aber die OUN und sprach sich für die Säuberung der Ukraine aus. Bei dem Prozess in Lemberg 1936 sagte er, dass "nicht nur Hunderte, sondern Tausende Menschenleben geopfert werden müssen". Er meinte sowohl ukrainische Nationalisten, die im Kampf fallen, als auch Juden, Russen und Polen, die ermordet werden müssen.
Er war auch in die Vorbereitung der Operation Barbarossa einbezogen und er bereitete die Gewalt vor, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 ausgetragen wurde. Ethnische und politische Gewalt war auch ein zentraler Bestandteil seiner Pläne um den ukrainischen Staat, den er als Führer (Providnyk) regieren sollte.
Die weitere Gewalt seit Herbst 1941 geschah ohne seine Beteiligung und teilweise sogar ohne sein genaues Wissen, aber sie war die Fortsetzung seiner Politik. OUN-Mitglieder und UPA-Partisanen verstanden Bandera weiter als ihren Providnyk. Nach dem Krieg schwieg Bandera über diese Themen bzw. leugnete sie, wie alle anderen Veteranen der Bewegung übrigens auch.
Für Historiker und Geheimdienste, die den Holocaust erforschten bzw. Bandera im Kalten Krieg unterstützten, war das ein offenes Geheimnis. Sie wussten bzw. ahnten es, aber sprachen nicht darüber. Nur wenige jüdische Historiker wie Philip Friedmann veröffentlichten Publikationen über die Gewalt der OUN und UPA und hinterfragten das offizielle Erinnerungsnarrativ der ukrainischen Diaspora. Ihre Arbeiten wurden aber durch nordamerikanische und westdeutsche Historiker nicht rezipiert, weil diese Geschichtswissenschaftlicher noch bis vor wenigen Jahren in ihren Publikationen das Narrativ der ukrainischen Diaspora vertraten und nur Verbrechen der Nationalsozialisten in der Ukraine untersuchten.

"Ende der 1980er Jahre wurde Bandera-Kult in die Ukraine zurückgebracht"

In den letzten Jahren konnte man in zahlreichen deutschen und internationalen Reportagen Fackelaufmärsche und Demonstrationen in der Ukraine sehen, auf denen Porträts von Bandera getragen wurden. Ihm zu Ehren wurden auch zahlreiche Denkmäler errichtet. Wie kam es zu diesem Bandera-Kult und welche Bedeutung hat er für die heutige Ukraine?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Der Bandera-Kult ist interessant. Er wurde nach dem Krieg von der ukrainischen Diaspora, die unter anderem aus Veteranen der OUN, UPA, Waffen-SS Galizien und ukrainischen Polizisten bestand, in Kanada, USA, Westdeutschland, England fortgesetzt. Es waren Menschen, die 1941 die Proklamation des ukrainischen Staates in Lemberg unterstützen und die Westukraine von Juden und Polen säuberten.
Der Kult wurde durch das Attentat auf Bandera gestärkt, das der sowjetische Geheimdienst 1959 in München erfolgreich durchführte. Der Kult bekam dadurch auch eine starke antisowjetische Komponente. Bandera wurde als ein Nationalheld erinnert, der im Kampf gegen die Sowjetunion für das Vaterland fiel.
In den späten 1980er Jahren brachte die ukrainische Diaspora den Kult in die Westukraine zurück. Er fiel dort auf einen fruchtbaren Boden, weil die Truppen des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) seit 1944 in der Westukraine im Kampf gegen die UPA über 150.000 Personen ermordeten und über 200.000 in das Innere der Sowjetunion deportierten. Fast jede Familie in der Westukraine war davon betroffen. Darüber hinaus waren Russland und die Sowjetunion in der Westukraine schon immer sehr unbeliebt und sind es heute auch.
Nach alldem, was Sie bisher geschildert haben: Ist den Menschen in der Ukraine bewusst, wen sie da eigentlich verehren?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Das Tragische an dem Kult von Bandera, anderen OUN-Kadern und UPA-Partisanen ist, dass Menschen in der Ukraine – und dazu muss man auch den ukrainischen Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk zählen – nicht wissen, wen sie eigentlich verehren. Bzw. sie erinnern sich nur an den Kampf gegen die Sowjetunion aber nicht an den Faschismus, Kollaboration im Holocaust und Massenmorde an Polen und Ukrainern.
Auf diese Weise wird in der Ukraine oft Faschismus bzw. radikaler Nationalismus mit Demokratie verwechselt. Bei den Protesten auf dem Maidan 2014 in Kiew wurde Bandera als ein Symbol des Kampfes um die Demokratie und Annährung an die EU beansprucht.
Hier kommen wir wieder zu dem Problem mit der Rezeption der Biografie und anderen wissenschaftlichen Publikationen. Menschen neigen leider dazu, Wissen zu ignorieren, das ihr Selbstverständnis hinterfragt, Unsicherheit verbreitet oder zu Veränderungen führt. Auch ist die Rezeption des Wissens über Bandera und die OUN schwierig, weil Russland die Ukraine politisch kontrollieren will und dort einen Krieg führt. Meine Bandera-Biographie wurde zwar ins Ukrainische und Russische übersetzt, aber eine Auseinandersetzung mit diesem Buch ist in naher Zukunft nicht zu erwarten.

"Die Ukraine sollte Zweisprachigkeit akzeptieren"

Der russische Präsident Wladimir Putin begründete den Einmarsch seiner Armee damit, die Ukraine „entnazifizieren“ zu wollen. Was halten Sie von dieser Begründung?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Die Begründung ist vollkommen falsch. Die Ukraine hat weder eine faschistische Regierung noch bekennen sich die meisten Ukrainer zum Faschismus. Die Ukraine hat ein ähnliches Problem mit rechtsradikalen und neofaschistischen Gruppen und Parteien wie andere europäische Länder. Ein Problem ist natürlich die Westukraine und die ukrainische Diaspora, wo der Bandera-Kult und auch die Verehrung der OUN-UPA verbreitet sind. Aber die Westukraine macht vielleicht 20 oder 30 Prozent des gesamten Lands aus.
Auch historisch gesehen, war der Faschismus nie ein zentraler Bestandteil der ukrainischen Geschichte. In den 1920er und 1930er Jahren lebten 80 Prozent der Ukrainer in der Sowjetunion und waren dem Einfluss der OUN oder des europäischen Faschismus nicht ausgesetzt. Ihre Einstellung zum Faschismus und ukrainischen radikalen Nationalismus war nicht einmal ambivalent, sondern oft feindselig.
Heute ist es nicht viel anders: Menschen in der Ost- und Zentralukraine lehnen den Bandera-Kult nach wie vor ab. Zumindest intuitiv wissen sie, dass mit Bandera und der OUN etwas nicht stimmt, weil sie Berichte von Verwandten oder Bekannten kennen, die nach dem Krieg in der Westukraine von der OUN und UPA ermordet wurden.
Die Verbreitung des Bandera-Kultes in der Ost- und Zentralukraine funktionierte während der „Dekommunisierung“ des Landes, die im April 2015 begann, auch deshalb nur bedingt, weil die Ost- und Zentralukrainer noch aus den sowjetischen Diskursen wissen, dass Bandera und die OUN-UPA Verräter, Faschisten und Kapitalisten waren. Vielleicht sind ihnen die neuen Publikationen über den Holocaust in der Ukraine oder den Kult der OUN, UPA und Waffen-SS Galizien in Kanada bekannt, die in der Westukraine und der ukrainischen Diaspora nicht rezipiert werden.
Putins Behauptung, dass alle Ukrainer Nazis oder Faschisten sind, war ein Aufruf zum Krieg und löste einen aus. Die Ukraine und auch andere europäische Länder werden mit dieser Gefahr leben lernen müssen. Es bleibt zu hoffen, dass Putin bald abgesetzt und gerecht bestraft wird.
Sie sagten 2015 in einem Interview [3], die Ukraine brauche eine pluralistische Identität und einen Staat, der offen für die kulturelle Vielfalt ist. Würden Sie das heute immer noch sagen? Und ist die Ukraine in den letzten sieben Jahren einen Schritt in diese Richtung gegangen?
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Ja, das ist nach wie vor ein wichtiger Gedanke. Die Ukraine ist ein heterogenes Land, das eine pluralistische Gesellschaft braucht. Dazu gehört, die Zweisprachigkeit zu akzeptieren, sich mit allen Aspekten der Vergangenheit auseinanderzusetzen und eine Offenheit im Umgang mit Kulturen – auch der russischen – zu schaffen.
Vieles in der Ukraine ist paradox. Viele Ukrainer – auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj – benutzen als erste Sprache bzw. Alltagssprache Russisch, aber in der Öffentlichkeit sprechen sie Ukrainisch. Man merkt schnell, dass einige ukrainische Politiker Ukrainisch nicht so gut wie Russisch beherrschen. Zweisprachigkeit würde also nicht nur die Pluralität fördern, sondern auch das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und viele alltägliche Probleme lösen.
Ebenso verhält es sich mit der russischen Kultur, die in der Ukraine zumindest genauso präsent wie die ukrainische ist. Die Anerkennung der Tatsache, dass russische Kultur ebenso wie jüdische oder polnische auch ein Teil der eigenen Kultur ist, wäre eine Bereicherung für das Land. Für die Menschen in der Ost- und Zentralukraine ist das oft selbstverständlich. Aber Westukrainer haben damit grundsätzlich ein Problem.
Politisch gesehen ist die Umsetzung der Idee der Zweisprachigkeit und des kulturellen Pluralismus nicht ganz einfach, weil Russland die Heterogenität der Ukraine ausnutzt, um das Land zu destabilisieren und Krieg zu führen. Wäre Russland ein demokratisches Land, würde es der Ukraine leichter fallen, ihre Heterogenität zu akzeptieren. Der aktuelle Krieg könnte jedoch das alles vollkommen verändern, weil die Ostukrainer die Hauptopfer sind und weil West- und Ostukrainer zusammen gegen Russland kämpfen.
Ich glaube, dass man trotz der politisch-prekären Verhältnisse einen Weg finden wird, die Pluralität zu bejahen, so wie man es zum Beispiel in dem Gebiet von Transkarpatien, das auch zur Ukraine gehört, bereits gemacht hat. Vielleicht wird dazu der Präsident Selenskyj beitragen, der aus einer jüdisch-ukrainischen Familie kommt, Russisch und Ukrainisch spricht, ukrainischen Faschismus aus familiären Gründen ablehnt und sich für die Demokratie ausspricht.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6670655

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/prantls-blick-1.5559543?reduced=true
[2] https://twitter.com/MelnykAndrij/status/1510726492233347072
[3] https://www.heise.de/tp/features/Ohne-historische-Aufarbeitung-bleibt-die-Ukraine-ein-Pulverfass-3370062.html