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Das Urelend der entwickelten Demokratien: Die totale Staatsverschuldung

Staatsschuldenquote im internationalen Vergleich in Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP); Quelle: Bundesfinanzministerium

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 17

Im Mittelpunkt dieses Teils unserer demokratiekritischen Artikelreihe stehen die schwerwiegenden Folgen des leichtfertigen Umgangs der entwickelten repräsentativen Demokratien mit dem Geld ihrer Bürger. Die Gelder, die für den Schuldendienst gebraucht werden, fehlen an anderen Stellen. Besondere Not herrscht in den Ländern, Städten und Gemeinden: Deutschlands Infrastruktur zerfällt rapide: Schulen und Kindergärten verrotten, Jugendhäuser, Schwimmbäder, öffentliche Bibliotheken, Theater, Museen, Zoos und Mütterberatungsstellen werden geschlossen - die Kommunen stehen vor dem Bankrott. Es fehlt Geld für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zu konkurrenzfähigen Fahrpreisen. Schon heute reichen die vorhandenen Gelder nicht mehr aus, alle notwendigen öffentlichen Ausgaben zu leisten. Die Staatsschulden sind so unvorstellbar hoch, dass ihr Abbau in wachsendem Umfang unmöglich wird. Das Elend ist übrigens in den meisten entwickelten Demokratien ähnlich: Die Infrastruktur verkommt fast überall, in Deutschland ebenso wie in Frankreich oder in den USA.

Teil 16: Der Preis der repräsentativen Demokratie: Staatsschulden ohne Ende

Anfang der 1990er Jahre dämmerte es der Wissenschaft, dass die nackten Zahlen über den Stand der Staatsschulden längst nicht das volle Ausmaß des Elends erkennen lassen. Also begannen sie, Rechenmodelle zu entwickeln, die den ganzen Eisberg und nicht bloß seine Spitze zeigen; denn die realen Zahlen über die Verschuldung der entwickelten Demokratien verharmlosen die wahre Dramatik. Sie zeigen nicht, welche gewaltigen Lasten auf diese Staaten schon in Kürze zukommen.

Grundlage für die Modelle sind Erkenntnisse über die Bevölkerungsentwicklung: Wenn die Menschen immer älter werden, weniger Kinder als je zuvor bekommen, wenn die Zahl der Rentner von Jahr zu Jahr wächst und kaum oder nur viel zu wenige Zuwanderer kommen, dann ist damit zu rechnen, dass die Wirtschaftskraft eines Landes in naher Zukunft immer schwächer wird.

So entwickelten drei amerikanische Wirtschaftswissenschaftler - Alan J. Auerbach, Jagadeesh Gokhale und Laurence J. Kotlikoff - die Methode des "generational accounting", der Generationenbilanzierung. Parallel dazu erarbeitete der in den USA lehrende französische Volkswirtschaftler Olivier Blanchard die OECD-Methode der finanzpolitischen Nachhaltigkeit - der "fiscal sustainability". Sie unterscheidet sich nur unwesentlich von der Generationenbilanzierung.

Beide Ansätze berücksichtigen alle künftigen Ausgaben eines Staats sowie die Zinslasten für die bestehende Staatsschuld und setzen sie in Beziehung zu den künftigen Einnahmen. Sie rücken den Einfluss des demografischen Wandels auf die öffentlichen Finanzen in den Mittelpunkt, damit Maßnahmen ergriffen werden können, um die Fiskal- und Sozialsysteme dauerhaft finanzierbar zu machen.

Dazu rechnet die Generationenbilanzierung die Daten über den demografischen Wandel eines Landes und seine wirtschaftlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen in die kommenden Jahre fort. Wie wird sich die Zahl der Rentner entwickeln? Wie die Zahl der Erwerbstätigen? Welche Verpflichtungen hat der Staat auf Grund der geltenden Gesetze gegenüber Arbeitslosen, sozial Schwachen, Pflegebedürftigen, etc.?

Ausgangspunkt ist immer die aktuell bestehende Staatsschuld - die explizite Staatsschuld. Das ist gewissermaßen diejenige Staatsschuld, die für jedermann sofort zu erkennen ist.

Errechnet werden muss sodann die implizite oder verdeckte Staatsschuld. Sie gibt an, welche zusätzlichen Staatsschulden in absehbarer Zukunft auf das Land zurollen. Die verdeckte Staatsschuld zeigt also, wie Einnahmen und Ausgaben künftig auseinander driften werden.

Wenn an den Rahmenbedingungen nichts geändert wird, sieht man sofort, wie stark die Staatsverschuldung zwangsläufig wachsen wird. So erkennt man, welche staatlichen Leistungen nicht durch künftige Einnahmen gedeckt sind.

Die Summe der expliziten und impliziten Staatsschuld ergibt die Nachhaltigkeitslücke. Will ein Staat sein bestehendes Leistungsniveau beibehalten, müsste er in Höhe der Nachhaltigkeitslücke Rücklagen bilden. Oder er müsste seine Leistungen reduzieren, wenn er das nicht will.

Das Einzige, was überhaupt nicht geht, ist: So weiterwurschteln wie bisher. Die beiden Methoden - die Generationenbilanzierung und die OECD-Methode der finanzpolitischen Nachhaltigkeit - helfen so dabei zu erkennen, dass die politischen Repräsentanten aller entwickelten Demokratien genau das tun, was sie auf gar keinen Fall tun sollten: Ohne Sinn und Verstand weiterwurschteln wie schon immer.

Mit Spritzpistolen auf Polit-Safari

Die offiziellen Zahlen zeigen ja nur einen kleinen Teil aller Staatsschulden. Die Politiker laden dem Staat Jahr für Jahr neue Zahlungsverpflichtungen auf - vor allem in Form von Renten- und Pensionszusagen oder Gesundheits- und Pflegeleistungen. Auch da schrecken sie vor keinem Taschenspielertrick zurück.

So wird zum Beispiel die von der großen Koalition 2014 geplante Rentenreform die Rentenversicherung bis 2020 gut 60 Milliarden Euro kosten. Vorgesehen sind höhere Renten für Mütter mit vor 1992 geborenen Kindern, eine abschlagsfreie Rente für langjährig Versicherte mit 45 Beitragsjahren, verbesserte Erwerbsminderungsrenten für nicht mehr Arbeitsfähige und ein höheres Budget für Rehabilitationsausgaben.

Dabei entstehen schon im ersten halben Jahr Mehrausgaben für die gesetzliche Rentenversicherung von insgesamt 4,4 Milliarden Euro. Sie steigen 2015 auf neun Milliarden Euro. 2030 belaufen sich die Kosten auf elf Milliarden Euro. Am teuersten ist die Aufwertung der Renten für Mütter mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden. Die Mehrausgaben dafür betragen 2015 bereits 6,7 Milliarden Euro. 9,5 Millionen Versicherte werden davon profitieren.

Doch es ist völlig klar, dass die künftigen Steuer- und Beitragseinnahmen nicht ausreichen werden, um alle staatlichen Leistungen und Leistungszusagen zu finanzieren. Selbst nachdem der Höhepunkt der Krise längst überschritten ist, bremst das die demokratisch gewählten Politiker kaum in ihrem vom Verlangen nach Wiederwahl getriebenen Drang zum Verteilen von Wählergeschenken.

Man kann die Generationenbilanzierung als eine Art dynamisches Buchhaltungssystem begreifen, das die künftigen Zahlungsströme zwischen dem Staat und seinen Bürgern erfasst.

Kriterium für die Beurteilung ist die im Vertrag von Maastricht 1992 festgelegte Schuldenobergrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand ist nur dann gegeben, wenn das Haushaltsdefizit unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und der Schuldenstand unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. In vielen europäischen Staaten liegt er seit vielen Jahren weiter darüber. Selbst im wirtschaftlich ach so gesunden Deutschland liegt er bei brenzligen 83 Prozent.

Tatsächlich besteht in den meisten entwickelten Demokratien eine wachsende Finanzierungslücke in den Systemen der sozialen Sicherung, die sich aus den künftigen Zahlungsverpflichtungen ergibt. In der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie bei den Beamtenpensionen wurden und werden Leistungszusagen gemacht, für die keine Einnahmen zu erwarten sind. Der demografische Wandel verschärft dieses Problem noch einmal. Die so entstehenden Belastungen machen die implizite Staatsverschuldung aus.

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Dabei kommen erstaunliche Erkenntnisse heraus: Das vielgescholtene Italien steht von allen Euro-Ländern am allerbesten da - besser noch als Deutschland -, weil seine implizite Staatsschuld bei weitem am geringsten ist. Es ist also für die Zukunft besser gerüstet als alle anderen.

Demokratische Manifestation ökonomischer Extrem-Idiotie

Um sowohl die offene wie die verdeckte Schuld langfristig zu tilgen, müsste der deutsche Staat entweder die Einnahmen aus Steuern und Abgaben dauerhaft um 12 Prozent erhöhen oder sämtliche Transfers um fast 11 Prozent senken.

Doch kein demokratischer Politiker würde es je wagen, daran Hand anzulegen und etwa auf einen Schlag alle Sozialleistungen um 11 Prozent zu kürzen. Also dürfte alles wohl so weitergehen wie bisher: Die Strategie heißt Wursteln bis zum bitteren Ende mit der unvermeidlichen Folge, dass die Schuldenlast unablässig weiter wächst.

Vor allem die Beamtenpensionen in Deutschland laufen auf eine Belastung von zusätzlichen 800 bis 900 Milliarden Euro hinaus. Schon in wenigen Jahren verdoppelt sich die Alterslastquote, das heißt, die niedrige Geburtenrate und die steigende Lebenserwartung werden dazu führen, dass die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, die Zahl der Rentner steigt und die Rentner immer älter werden.

Die Rentenreform der großen Koalition hat zu allem Überfluss ausgerechnet durch die Einführung der Rente mit 63 auf diese ohnehin schon bedrohliche Entwicklung auch noch eins draufgesetzt: Die neue Regel dürfte Jahr für Jahr hunderttausende von Fachkräften in den vorzeitigen Ruhestand locken. Demokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik ist ein Manifest ökonomischer Extrem-Idiotie.

Heute versorgen zwei Erwerbstätige einen Rentner. Schon 2035 wird das ein Erwerbstätiger allein schaffen müssen. Der Anteil der über 75-Jährigen wird sich sogar verdreifachen. Die Rentenausgaben wachsen überproportional, und die Gesundheits- und Pflegekosten werden geradezu sprunghaft zunehmen.

Bis 2060 wird sich der Altenquotient, das heißt die Anzahl der über 65-Jährigen je 100 Personen im Alter zwischen 15 bis 64 Jahren, in etwa verdoppeln. In ganz Europa wird die Zahl der Erwerbstätigen sinken. Nur in Belgien, Frankreich, Irland und Luxemburg wird die Zahl wegen ihrer relativ hohen Geburtenrate und Zuwanderung bis 2060 noch zunehmen.

Insgesamt beläuft sich die Nachhaltigkeitslücke, das heißt, die tatsächliche Staatsverschuldung der 12 Euro-Gründungsstaaten auf 340 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Bei einer Wirtschaftsleistung von 9 Billionen Euro - dem Wert für das Jahr 2010 - entspricht das 31 Billionen Euro.

Mit 86 Prozent des BIP ist allerdings nur gut ein Viertel dieses Schuldenbergs bereits in Form expliziter, in der Vergangenheit aufgenommener Schulden sichtbar. Den Löwenanteil trägt mit 254 Prozent des BIP oder knapp drei Vierteln die heute noch unsichtbare Staatsschuld zur Nachhaltigkeitslücke bei.

Neben Deutschland, Finnland, Österreich tragen auch Frankreich und Italien nur unterdurchschnittlich zur Nachhaltigkeitslücke bei. Mit einer Nachhaltigkeitslücke von nur 146 Prozent des BIP führt Italien noch vor Deutschland (193 Prozent) und Finnland (195 Prozent) das Ranking an.

Das ist darauf zurückzuführen, dass Italien nach Frankreich den geringsten Anstieg der Renten-, Gesundheits- und Pflegeausgaben zu erwarten hat, zwar aktuell unter einem hohen Schuldenberg von 118 Prozent des BIP und entsprechend hohen Zinsausgaben von knapp 4,4 Prozent des BIP leidet, sich gemessen am Primärsaldo (dem um die Zinsausgaben bereinigten Haushaltssaldo) jedoch eine sehr positive Entwicklung abzeichnet.

Wohl am erstaunlichsten ist, dass Luxemburg so miserabel abschneidet, obwohl doch die aktuelle Staatsverschuldung mit weniger als 20 Prozent des BIP geradezu vorbildlich ausfällt. Danach würden sich die meisten anderen Staaten heute schon die Finger lecken.

Doch mit einer Nachhaltigkeitslücke von 1.116 Prozent des BIP liegt Luxemburg praktisch gleichauf mit Griechenland (1.017 Prozent) und Irland (1.497 Prozent). Das rührt daher, dass Luxemburg eine extrem starke Zunahme der Renten-, Gesundheits- und Pflegeausgaben zu erwarten hat.

Mit einer Nachhaltigkeitslücke von 193 Prozent des BIP liegt Deutschland nach Italien (146 Prozent) an zweiter Stelle, knapp vor Finnland (195,2 Prozent) und noch vor Österreich (298 Prozent) und Frankreich (338 Prozent) im Nachhaltigkeitsranking.

Deutschland müsste seine Staatsausgaben dauerhaft um 4,0 Prozent des BIP verringern, um seine Nachhaltigkeitslücke von 193 Prozent des BIP auf null zu reduzieren.

Das entspräche einem Einsparvolumen von rund 100 Milliarden Euro.

Im Vergleich dazu sind die von der Bundesregierung im Rahmen des Zukunftspakets anvisierten Einsparungen für Bund, Länder und Gemeinden von jährlich knapp 27 Milliarden Euro lediglich ein Klacks..

Und selbst bei einem jährlichen Einsparvolumen von 27 Milliarden Euro, wäre eine anhaltende Rezession so gut wie unvermeidlich.

Die Politik der demokratischen Gremien ist - wie üblich - auf die Zukunft miserabel vorbereitet. Kurzatmigkeit ist ihr einziges Instrument - und die gilt in der Medizin oft als Symptom eines bevorstehenden Infarkts. Möglicherweise gilt das in der Politik erst recht.

Die demokratischen Politiker stehen hilflos vor gigantischen Problemen, weil sie sich die Größenordnung der Staatsverschuldung nicht bewusst machen oder nicht bewusst machen wollen. Und so wird die Entwicklung ohne jedes Erbarmen über sie hinwegrollen; denn mit Spielzeuggewehren lässt sich Großwild nun einmal nicht erlegen.

Die Kunst des Umtopfens

Die Wissenschaft hat allen Ernstes eine "Theorie der Staatsverschuldung" entwickelt, die sich mit den ökonomisch positiven und auch den negativen Aspekten der Verschuldung beschäftigt.

Damit braucht man sich in der aktuellen Situation der entwickelten demokratischen Staaten nicht weiter auseinanderzusetzen. Denn heute ist die Verschuldung der Staaten längst völlig aus dem Ruder gelaufen.

Die Theorie ist nichts weiter als eine hübsche Theorie für volkswirtschaftliche Seminare. Mit der politischen Wirklichkeit hat sie nichts mehr zu tun. Die ist ihr davongaloppiert.

Man braucht auch nicht Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Es gibt keinen einzigen Vorteil mehr. Man kann schlicht davon ausgehen, dass die Katastrophe schon da ist, wenige Chancen bestehen, sie in weniger als zehn, zwanzig Jahren - wenn überhaupt jemals - in den Griff zu bekommen und längst eine destruktive Eigendynamik entfaltet hat, die den Untergang der betroffenen Staaten immer wahrscheinlicher macht.

Die Kreditfinanzierung der öffentlichen Haushalte ist zum fiskalisch nutzlosen Selbstzweck degeneriert. Sie dient schon längst nicht mehr der Haushaltsdeckung, sondern der Finanzierung der von der demokratischen Politik selbst erzeugten Tilgungs- und Zinsausgaben.

Wenn mit der Neuverschuldung fortgefahren wird wie in den vergangenen Jahrzehnten, wird der Schuldenberg zu Lasten der nachfolgenden Generationen eigendynamisch immer schneller und steiler wachsen.

Nicht nur der Schuldenberg wird wachsen, sondern die Wachstumsraten der Schulden werden wachsen. Die durch Reformen, Einsparungen und Steuererhöhungen neu gewonnenen Mittel versickern sofort in neuen Haushaltslöchern, die von den schneller und steiler als die Steuereinnahmen wachsenden Zinseszinsausgaben gegraben werden.

Mehrere europäische Demokratien stehen teils näher, teils nicht ganz so nahe am Rande des Bankrotts - ebenso wie übrigens auch die USA und noch dramatischer Japan. Man kann das gar nicht oft genug betonen: Es handelt sich um eine existenzielle Bedrohung, die sich alle entwickelten repräsentativen Demokratien selbst eingebrockt haben.

Die politische Kaste kann sich nur mit ständigen Wahlgeschenken selbst am Leben erhalten. Wenigstens glaubt sie das und hält an ihrem irregeleiteten Glauben ebenso unerschütterlich und verbohrt wie einst die katholische Kirche an ihrem geozentrischen Weltbild.

Ob dabei die von ihr regierten Völker am Ende vor die Hunde gehen, ist ihr auch ziemlich gleichgültig - zumindest nicht so wichtig wie das eigene Überleben. Niemals ist das deutlicher geworden als bei der verkorksten Einführung des Euro und dem krampfhaften Festhalten an der einmal getroffenen Entscheidung.

Bei den wenigen politischen Projekten, die überhaupt noch geplant - wenigstens geplant - werden können (durchgeführt geht oft schon nicht mehr, dazu müsste Geld vorhanden sein), herrscht schon im Diskussionsstadium der nackte ökonomische Irrsinn.

Gegenfinanzierung als nichtsnutzige Wurschtelwirtschaft

Bei jedem neuen Projekt wirft der politische Gegner sogleich die Totschlag- und Schicksalsfrage nach der "Gegenfinanzierung" auf: Wie soll denn das kostspielige neue Unterfangen gegenfinanziert werden?

Kommt dieses Argument, ist das Projekt meist schon tot. Dabei bedeutet es doch nur: Es ist kein Geld mehr dafür da. Man muss also einen Topf finden, aus dem sich noch Geld holen lässt.

Wenn irgendwo etwas gekürzt werden kann, kann man das Geld aus der Kürzung nehmen. Man legt das eine Projekt auf Eis und steckt die dafür vorgesehenen Mittel in das neue Projekt. Das ist dann gegenfinanziert. Doch wem ist damit geholfen? Doch wohl niemandem. Es wird doch nur viel Geld hin- und wieder hergeschoben.

Wirtschafts- und Sozialpolitik in den entwickelten Demokratien ist zur Kunst des Umtopfens geworden: Man nimmt Gelder aus dem einen Topf, stopft sie in den anderen Topf und nennt das Gegenfinanzierung. Das aber ist keine Politikgestaltung sondern nichtsnutzige Wurschtelwirtschaft.

Rein theoretisch könnte man - außer durch - vorzugsweise verdeckte - Steuererhöhungen (sehr beliebt) - nur noch durch Kürzung von Subventionen neue Haushaltsmittel gewinnen.

Das jedoch ist wiederum nichts als weltfremde Theorie; denn Subventionen sind eines der wichtigsten Instrumente der Klientelepolitik in den entwickelten Demokratien. Und deshalb scheuen sich die Politiker, sie auch nur anzutasten. Sie plagt die Furcht, sie könnten sich selbst so den Ast absägen, auf dem sie so gemütlich sitzen…

Was ist eigentlich an der Staatsverschuldung so schlimm?

Schlimm daran ist vor allem, dass die Handlungsfähigkeit der politischen Akteure auf allen Ebenen einschneidend eingeschränkt wird und sich die gesamte politische Landschaft vollständig verdüstert - und das ist unzweifelhaft eine dramatische Verschlechterung.

Lähmung macht sich breit. Politische Reformen - und seien sie auch noch so dringlich - müssen unterbleiben. Um sie durchführen zu können, braucht man Handlungsfähigkeit. Aber die ist für immer vertan.

Übrig geblieben ist nur noch die Fähigkeit, Scheindebatten über Scheinprobleme - vorzugsweise in den Medien und dort vor allem in Talkshows - zu führen. Spiegelgefechte ohne Ergebnisse. Aufgeregtes Gequatsche über alberne Affären und Skandale.

Deshalb spielen in den entwickelten Demokratien die Skandale eine so beherrschende Rolle: Ob nun ein Politiker Bilder von nackten Knaben gekauft oder ein Sportvereins-Manager Steuern hinterzogen, ein Präsident sich beim Oktoberfest eine Wurscht und eine Maß bezahlen ließ oder ein Fußballer sich als Homosexueller geoutet hat. Darüber wird allerorten ohne Ende gequackelt, bloß nicht über die wirklich drängenden Probleme.

Heute klagen auch die Politiker etablierter Parteien gern wortreich über die unselige Rolle der Banken und des Finanzkapitals und ihr Übergewicht über die Politik aller Länder. Dabei war es ausschließlich die Politik der entwickelten Demokratien, die es vollverantwortlich herbeigeführt hat.

Bis in die 1980er Jahre hinein war die Staatsverschuldung in den meisten entwickelten Demokratien eine beschauliche Angelegenheit. Ab und zu musste man bei Engpässen Kredite aufnehmen, um über die Runden zu kommen. So eine Art Überziehungskredit, um nicht über mehrere Wochen oder gar Monate auf dem Schlauch zu stehen. Keine große Sache.

Doch inzwischen hat die Verschuldung aller entwickelten Demokratien in der Welt eine derart gigantische Dimension angenommen, dass daraus ein unauflösbares Abhängigkeitsverhältnis geworden ist.

Im beständigen Streben, gewählt und wiedergewählt zu werden, haben die Politiker und die politischen Parteien sich und ihre Regierungen in eine nicht mehr auflösbare Abhängigkeit von Finanzkapital und Banken hineinmanövriert. Sie kommen daraus nicht mehr heraus. Schon gar nicht aus eigener Kraft, schon gar nicht durch das Gelöbnis "ab morgen wird gespart" und schon gar nicht durch das Kinderspielzeug "halbherzige Bankenregulierung".

Wie sollen auch diejenigen, die den Banken diese Macht über die Politik verliehen haben, jetzt eben diese Banken in die Schranken verweisen können? Da überschätzen Politiker ihre eigenen Fähigkeiten und ihre eigene Machtvollkommenheit mal wieder großmäulig selbst.

Nichts illustriert die Idiotie, aber auch den Aberwitz demokratischer Politik dramatischer als die totale Verschuldung der Staaten: Erst haben die Politiker die entwickelten Demokratien über Jahrzehnte hinweg in die totale Verschuldung und Abhängigkeit von Banken getrieben. Und nun produzieren sie sich allen Ernstes als die großen Krisenbewältiger, die von einem Krisengipfel zum nächsten eilen, um sich wichtigtuerisch aufzuplustern und mit politischen Kinkerlitzchen wie Bankenregulierung und ähnlichen Kindereien "Lösungen" vorzuschlagen, die keine sein können.

Die Gelder, die für den Schuldendienst gebraucht werden, fehlen an anderen Stellen. Besondere Not herrscht seit vielen Jahren in den Bundesländern, in Städten und Gemeinden: Deutschlands Infrastruktur verfällt rapide: Die öffentlichen Straßen und Brücken verkommen und werden zur Gefahr für ihre Nutzer, Schulen und Kindergärten verrotten, Jugendhäuser, Schwimmbäder, Krankenhäuser, öffentliche Bibliotheken, Theater, Museen, Zoos und Mütterberatungsstellen werden geschlossen - die Kommunen stehen vor dem Bankrott.

Es fehlt Geld für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zu konkurrenzfähigen Fahrpreisen. Schon heute reichen die vorhandenen Gelder nicht mehr aus, alle notwendigen öffentlichen Ausgaben zu leisten. Über 10.000 Brücken in Deutschland sind so marode, dass sie eine ernste Gefahr darstellen, wenn sie nicht bald repariert werden. Dafür aber fehlt das Geld. Die Staatsschulden sind so unvorstellbar hoch, dass ihr Abbau in wachsendem Umfang unmöglich wird.

Und man sollte nicht denken, das sei das Ergebnis von gnadenloser Misswirtschaft und Korruption in Deutschland. Die gibt’s auch. Doch das ist in fast allen entwickelten Demokratien der Welt das gleiche Elend. Es ist ein durch die Politik demokratisch gewählter Repräsentanten verursachtes und zu verantwortendes Elend. Es ist der Preis, den die Völker für den Luxus der repräsentativen Demokratien zahlen.

Überall haben die politischen Repräsentanten die öffentliche Infrastruktur zu Grunde gerichtet. Es ist das zentrale Merkmal der entwickelten Demokratien, dass sie ihren eigenen Handlungsspielraum zerstört und ihre Gemeinwesen zu Grunde gerichtet haben. Und da fragt sich denn doch, ob das nicht ein viel zu hoher Preis ist, den die Völker für ein politisches System zahlen, das den Namen Demokratie sowieso schon längst nicht mehr verdient hat.

Die Politik ist zur Getriebenen geworden, weil sie außer zu Überlegungen über Möglichkeiten des Schuldenabbaus kaum noch zu etwas in der Lage ist. Was früher einmal "Politikgestaltung" hieß, bedeutet heute: Eine Krisensitzung jagt die nächste. Früher gab es alle paar Jahre einmal einen Krisengipfel. Heute gibt es fast jede Woche mindestens einen. Kaum ist der vorbei und hat nichts Wichtiges gebracht, kommt der nächste und bringt auch nichts.

Der Handlungsspielraum der Politik ist auf ein Minimum geschrumpft. Sie kann gar nicht mehr gestalten, sie wird getrieben von den Katastrophen, die sich auf Grund des Mangels an allen Ecken und Enden auftun. Politik als proaktive, auf wohl durchdachten Konzepten beruhende und womöglich gar von Visionen geprägte Aktivität gibt es nicht mehr.

Es gibt nur noch das hektische Gehampel von einer Krisensitzung zur nächsten Krisensitzung, ob das in den USA gerade die Dauerkrise ist, durch die mit Mühe und Not alle paar Wochen eine Staatspleite abgewendet werden soll oder die Dauerkrise in Europa, bei der es um eine neue Rettungsmaßnahme für den Euro oder für einen der unter all den hoch verschuldeten Staaten besonders hoch verschuldeten Staat geht, ist eigentlich ziemlich egal.

Diese Krisen gehören im Endstadium der repräsentativen Demokratien zum politischen Alltag und sind einzig und allein das Werk der demokratischen Politik. Die demokratisch gewählten Repräsentanten haben die Krisen selbst herbeigeführt und hasten nun von Gipfel zu Gipfel, um unter dem Applaus der Medien Krisen aus der Welt zu schaffen, die ohne sie überhaupt nicht bestehen würden.

Es gibt immer noch Menschen, die ihnen für ihren unermüdlichen Einsatz Respekt entgegenbringen. Dabei hätten sie nichts als Verachtung verdient; denn sie sind es schließlich, die den Karren selbst an die Wand gefahren haben. Und da sie keine Lösungen parat haben, schaffen sie ständig neue Krisen und halten sich selbst so auch noch in Brot und Arbeit. Absurdes Theater ist im Vergleich dazu ein Ausbund an Vernünftigkeit und kühler Rationalität.

kosch.htm


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