Das Versagen der mÀchtigen Staaten beim G20-Gipfel
G20-Gipfelfoto u.a. mit dem Gastgeber Modi (indischer Premier), dem brasilianischen PrÀsidenten Lula und dem US-PrÀsidenten Biden. Bild: Lula Oficial / CC BY-ND 2.0
Kanzler Scholz spricht von "groĂem Erfolg". Doch tatsĂ€chlich stellt das Treffen eine BankrotterklĂ€rung dar. Was das fĂŒr den Ukraine-Krieg, nukleare Gefahren und die globalen Krisen bedeutet.
Man kann sich Vieles schönreden. So feierte [1] Peter Hornung, ARD-Korrespondent in Neu-Delhi, den Erfolg auf dem G20-Treffen in Indien. Der indische Premier Narenda Modi habe ein Scheitern verhindert und die groĂen Industriestaaten und SchwellenlĂ€nder auf ein gemeinsames Abschlussdokument vereint. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht im ARD-Interview sogar von einem "groĂen Erfolg" [2].
Sicherlich ist es zu begrĂŒĂen, dass die Gruppe um die Afrikanische Union erweitert wurde. Zu ihr zĂ€hlen 55 LĂ€nder, also alle afrikanischen Staaten mit rund 1,4 Milliarden Menschen. Das stĂ€rkt den Globalen SĂŒden auf dieser Plattform.
Aber angesichts der groĂen weltweiten Krisen hat das internationale Forum nicht viel zu bieten und versagt letztlich vor der Beantwortung der drĂ€ngenden globalen Fragen. Und das liegt vor allem, wenn auch nicht ausschlieĂlich an den G7-Staaten unter US-FĂŒhrung.
Nehmen wir das mediale Top-Thema Ukraine-Krieg. Nach der Kompromissformulierung zum Krieg reklamieren sowohl Russland als auch der Westen einen diplomatischen Sieg. Der russische AuĂenminister Sergej Lawrow erklĂ€rte [3], dass man "die Versuche des Westens, die Themensetzung des Gipfels zu âukrainisierenâ", verhindert habe. Russland werde im Abschlussdokument "ĂŒberhaupt nicht erwĂ€hnt".
Auf der anderen Seite erklĂ€ren die USA und GroĂbritannien, sich durchgesetzt zu haben [4]. Auch Kanzler Scholz lobt den Kompromiss als klares Signal an Russland [5]. Obwohl Dokumente, die Telepolis vorliegen [6], zeigen, dass EU und Bundesregierung eine deutlichere Verurteilung Russlands anstrebten, aber damit scheiterten.
Der französische PrĂ€sident Emmanuel Macron betont [7] schlieĂlich, dass die ErklĂ€rung der G20-Staats- und Regierungschefs die Isolierung Russlands wegen seines Angriffs auf die Ukraine "bestĂ€tigt" und sich die Gruppe fĂŒr einen "gerechten und dauerhaften" Frieden in dem vom Krieg zerrissenen Land einsetzt. WĂ€hrenddessen reagiert Kiew enttĂ€uscht [8]. So teilt das ukrainische AuĂenministerium mit, die gemeinsame ErklĂ€rung der G20 sei "nichts, worauf man stolz sein kann", und kritisiert, dass Russland darin nicht erwĂ€hnt werde.
Es stimmt, anders wie beim letzten G20-Gipfel in Bali vor einem Jahr, wird Russland nicht mehr wegen seines Angriffskriegs explizit verurteilt. Manche mögen darin eine HaltungsĂ€nderung der USA und ihrer westlichen Nato-VerbĂŒndeten sehen.
Aber die abgeschwĂ€chte Formulierung hat doch mehr mit der Dynamik der Gruppe, Gesichtswahrung und dem Wunsch des Westens zu tun, die rhetorischen Wellen abzuflachen, die durch einen offenen Streit ĂŒber die Ukraine mit den Brics-LĂ€ndern aufgeschaukelt worden wĂ€ren.
In der RealitĂ€t ist keine KursĂ€nderung zu erkennen. Der letzte Nato-Gipfel [9] im litauischen Vilnius im Juli zeigt das deutlich: Offenhalten eines Nato-Beitritts [10] fĂŒr die Ukraine, Aufnahme von Schweden und Finnland als neue Nato-Mitglieder, Insistieren der USA und der Nato auf maximalistischen Forderungen und keinerlei Diplomatie zur Beruhigung des Kriegs.
Dazu kommen die ungebrochen schweren Waffenlieferungen an die Ukraine, inklusive der weithin geÀchteten Munition mit abgereichertem Uran [11] und den bereits gelieferten Streubomben, wÀhrend die Ukraine mit Drohnen Moskau weiter angreift und die polnisch-belarussische Grenze zunehmend zum Pulverfass [12] wird.
Auch bei anderen wichtigen Punkten wie der WelternĂ€hrung, dem Getreideabkommen mit Russland, der finanziellen UnterstĂŒtzung von EntwicklungslĂ€ndern wurden wieder einmal keine konkreten Schritte vereinbart oder irgendwelche Aufbruchssignale ausgesendet.
Funkstille bei Atomwaffen und fossilen Brennstoffen
Vor allem beim Thema Atomwaffen herrscht gefÀhrliche Funkstille.
In der "Neu-Delhi-ErklĂ€rung" der G20 heiĂt es zwar, dass der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg "unzulĂ€ssig" sei. Doch die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, erklĂ€rte, das gehe nicht weit genug.
Die geschĂ€ftsfĂŒhrende Direktorin von ICAN, Melissa Parke, fordert [13], dass Worten dringend Taten folgen sollten. Alle G20-Mitglieder mĂŒssten endlich den Vertrag ĂŒber das Verbot von Atomwaffen unverzĂŒglich unterzeichnen und ratifizieren.
Keine der AtommĂ€chte der Welt â einschlieĂlich Russland, USA, Israel, GroĂbritannien, Indien oder China â hat den Vertrag unterzeichnet oder angenommen. Das gilt auch fĂŒr die Ukraine sowie die Mehrheit der Nato- und G20-Mitglieder.
Das sollte sich schnell Ă€ndern. Denn die nuklearen Gefahren im Ukraine-Krieg zeigen, dass Atomwaffen eine permanente Bedrohung der Menschheit darstellen. Wie andere russische Offizielle zuvor hat der ehemalige russische PrĂ€sident Dmitri Medwedew, derzeit stellvertretender Vorsitzender des nationalen Sicherheitsrates, im Juli mit einem Atomkrieg gedroht [14], falls die von der Nato unterstĂŒtzte Gegenoffensive der Ukraine zur Abwehr russischer Invasoren und zur RĂŒckgewinnung der von ihnen besetzten Gebiete erfolgreich sein sollte.
Doch von den G20 werden weiter keine Schritte vorgeschlagen, wie die nukleare Bedrohung gebannt werden und damit eine atomwaffenfreie Welt entstehen könnte.
Und schlieĂlich ist da die eskalierende Klimakrise. Wieder einmal wurden nichtssagende Verlautbarungen in Neu-Delhi vorgebracht, statt eine KursĂ€nderung ins Visier zu nehmen. Nicht einmal eine Vereinbarung ĂŒber den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen konnte erreicht werden [15].
Greenpeace bezeichnete das mickrige Versprechen, das in Form eines gemeinsamen G20-KommuniquĂ©s abgegeben wurde, als "unbegreifliches Versagen" angesichts einer ausufernden Klimakrise, die ĂŒberall VerwĂŒstung, Tod, schwere Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Katastrophen fĂŒr die arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt mit sich bringt.
Trotz rekordverdĂ€chtiger Temperaturen, wĂŒtender WaldbrĂ€nde, DĂŒrren, Ăberschwemmungen und anderer Klimakatastrophen, die in den letzten Monaten Dutzende von Millionen von Menschen betroffen haben, haben die Staats- und Regierungschefs der G20 in diesem Jahr kollektiv versagt, irgendetwas Sinnvolles zum Klimawandel zu leisten,
⊠sagte Tracy Carty [16], Expertin fĂŒr globale Klimapolitik bei Greenpeace International.
Was der G20-Gipfel in Indien, neben der BankrotterklÀrung, die globalen Krisen anzugehen, zudem unterstreicht, ist eine Machtverschiebung von den G7 auf die Brics-Staaten. So bezeichnete Kishore Mahbubani [17], ehemaliger Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen und angesehener Wissenschaftler am Asia Research Institute, die G7 also eine Organisation des Sonnenuntergangs und die Brics als eine des Sonnenaufgangs.
Im Jahr 1990 war das gemeinsame Bruttosozialprodukt (BSP) der G7-Staaten in KaufkraftparitĂ€ten mehr als doppelt so hoch wie das der Brics-Staaten. Heute ist es geringer. Ebenso bezeichnend ist, dass sich 40 LĂ€nder um die Aufnahme in die Brics beworben haben. Es gibt keinen vergleichbaren Ansturm von BeitrittsantrĂ€gen fĂŒr die G7.
Das hat auch Auswirkungen auf die politische Relevanz der G20-Plattform. So reiste der chinesische PrĂ€sident Xi Jinping nicht einmal zum Treffen an und zeigte damit, dass Beijing das Forum nicht hoch einschĂ€tzt. Brasiliens PrĂ€sident Luiz InĂĄcio Lula da Silva kĂŒndigte in Delhi zugleich an, dass er den russischen PrĂ€sidenten Wladimir Putin zum nĂ€chsten Gipfel in Rio de Janeiro einladen werde [18]. Der mĂŒsse nicht fĂŒrchten, festgenommen zu werden.
All das sind klare Signale an die USA und seine VerbĂŒndeten, dass sich die aufstrebenden LĂ€nder des Globalen SĂŒdens nicht mehr einschĂŒchtern lassen wollen und unabhĂ€ngige Wege beschreiten. Wenn man so will, ist das ein positives Signal, das vom Gipfel ausgeht.
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[1] https://www.tagesschau.de/kommentar/g20-fipfel-modi-100.html
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/scholz-g20-abschluss-100.html
[3] https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/g20-gipfel-in-zeiten-des-wandels-li.387576
[4] https://www.bbc.com/news/world-asia-india-66716544
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/scholz-g20-abschluss-100.html
[6] https://www.telepolis.de/features/Ukraine-Krieg-Interne-Dokumente-belegen-Scheitern-von-Berlin-und-Bruessel-bei-G20-9300763.html
[7] https://www.indiatoday.in/india/story/g20-summit-russia-west-claim-vindication-of-each-others-positions-on-ukraine-2433862-2023-09-10
[8] https://www.reuters.com/world/ukraine-says-g20-summit-declaration-nothing-be-proud-of-2023-09-09/
[9] https://www.bmvg.de/de/aktuelles/nato-verbuendete-in-vilnius-geschlossen-und-solidarisch-5653174
[10] https://www.telepolis.de/features/Ukraine-im-Visier-Warum-der-Nato-Gipfel-falsche-Signale-sendet-9212084.html
[11] https://www.telepolis.de/features/Ukraine-Eskalation-Nach-Streubomben-nun-auch-Uran-Munition-aus-den-USA-9295647.html
[12] https://www.telepolis.de/features/Die-Grenze-zwischen-Polen-und-Belarus-wird-immer-mehr-zum-Pulverfass-9294301.html?seite=all
[13] https://www.commondreams.org/news/g20-nuclear-weapons
[14] https://www.telepolis.de/features/Medwedew-Bei-Erfolg-der-Gegenoffensive-droht-globales-nukleares-Feuer-9230663.html
[15] https://www.commondreams.org/news/g20-climate-failure
[16] https://www.commondreams.org/news/g20-climate-failure
[17] https://responsiblestatecraft.org/g20-summit-2023/
[18] https://www.theguardian.com/world/2023/sep/10/lula-says-putin-can-attend-next-years-g20-in-rio-without-fear-of-arrest
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