Das Wellenbad der kollektiven Psyche

Ob apokalyptische Anspielungen oder submarine Signale: In den Informationsströmen der Aufmerksamkeitsökonomie tobt die Flutkatastrophe weiter

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Post-traumatische Symptome der Flutkatastrophe sind omnipräsent: Laufende Werbekampagnen, aktuelle Programmsperren und ebenso aktuelle Sonderausgaben von Zeitungen und Magazinen. Zu Tage tritt ein paradoxer Umgang mit der Flutkatastrophe, teils schon hysterische Rückkopplungen und hanebüchene Argumente. Im Kampf um Aufmerksamkeit sind alle Mittel recht.

Berliner Steuerparadies, Ausschnitt (Berliner Morgenpost)

Die Stadt ist umgeben von blauen Meeresweiten. Ihre Fläche ist auf einige wenige Quadratkilometer reduziert. Das Forum Hotel und das Brandenburger Tor stellen die Eckpunkte dar. Unter den Linden wird vom Rand her von tropischer Flora vernascht. Der Dschungel, der die Insel umgibt, ist auf dem Vormarsch - in den Stadtkern, wo der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz steht. Die Schienenstränge des S-Bahnhofs nehmen dort ihren Lauf, um jäh im Dickicht des Regenwalds zu versinken. Derartige Infrastruktur wirkt ohnehin nutzlos auf einer überschaubar kleinen Insel, die von weißem Strand umgeben ist. Ist das jetzt Berlin nach der Flut oder schon das Paradies?

Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen. Der Slogan dieses Werbemotivs lautet: "Berlin wird Steuerparadies". Doch ist die Frage damit nicht aus der Welt. Immerhin zeigt dieses Kampagnenmotiv - seit Mitte Februar in ganz Berlin präsent - eine Hauptstadt, die von der Natur zurückerobert worden ist. Wedding, Marzahn, Charlottenburg, sowie alle anderen Berliner Bezirke sind alle vom Wasser verschlungen worden und in den Untiefen des Ozeans verschwunden. Schäden und Opfer werden von der schimmernden Waterworld ausgeblendet.

Flutwellen in aller Munde

Die Tsunami-Referenzen sind implizit, aber nicht zu übersehen. Die Tatsache, dass ein Stadtkern zurückgeblieben ist, der nun in der Sonne strahlt und von schicken Motorbooten angefahren werden kann, scheint wichtiger, als die Suche nach einer Prise semantischen Sinns. Sollte ein Unwetter geherrscht haben, nun hat es sich verzogen. Neue Zeiten sind angebrochen. Für die "Berliner Morgenpost", die diese Kampagne schaltete, sind es die Zeiten des steuer-befreiten Glücks. Survival of the Fittest ist hier eine Frage von Wissen. Alle, die im Wirtschaftsteil der Tageszeitung die Serie zu Steuerfragen verfolgen, bekommen einen Platz an der Sonne.

Security-Special am Valtentinstag (Tropical Islands)

Nach der Bilderflut, die am 26.12. letzten Jahres einsetzte und Ende Januar sang- und klanglos versiegte, ist die Flutkatastrophe noch überall präsent. Ist das Lied "Die perfekte Welle" eigentlich überall wieder im Programm? Nach dem er von RTL verschoben worden war, weil er an einem der durch die Flutwelle verwüsteten Strände spielt, fragt man sich auch wann "The Beach" wieder gezeigt wird. Hier und dort lodert auch die Diskussion darüber auf, ob es moralisch vertretbar ist, "Tsunami - Die Killerwelle" auszustrahlen.

Die Produktion wurde von Pro Sieben lange vor der Flut abgewickelt und das Frühjahr 2005 als Sendetermin ins Auge gefasst. Das Thema des Films - ein 30 Meter hoher Tsunami sucht Sylt heim - schien nach dem 26.12. irgendwie prekär. Mit der Entscheidung, den Sendetermin bis auf weiteres zu verschieben, wurde in den Medien eine Diskussion entfacht, die Produktion hat dadurch eine ungemeine Publicity erfahren. Obwohl den Action-Thriller kaum jemand zu Gesicht bekommen hat, gibt der Regisseur Interviews über sein Werk. Und kommt zu erstaunlichen Einsichten: "Fakt ist, dass ich vor einem halben Jahr ständig erklären musste, was ein Tsunami ist, heute ist der Begriff in aller Munde."

Die Selbstzensur der Medien hat einen PR-Effekt und dieser bleibt den Konsumenten nicht verborgen. Wie im Diskussionsforum von wilde-pfer.de von einem Nutzer bereits sehr früh in Bezug auf die Radioprogrammsperren bemerkt worden ist:

Das einzige was ich daran NICHT gut finde ist, dass sie es öffentlich sagen... Warum spielen sie die Lieder einfach nicht und verlieren auch kein Wort drüber... Warum muss man sich öffentlich aufspielen in der Art "bla bla bla... aus Rücksichtsnahme spielen wir diese Lieder jetzt nicht.... bla bla bla", das zu betonen ist nämlich schon irgendwie rücksichtslos...

Post-traumatische Schleifen

Das Wochenmagazin "stern" scheint die einzig richtige Konsequenz gezogen zu haben. Scheinheiliges Moralisieren und präventives Mitfühlen steht bei der Ausgabe mit dem Titelthema "Als die Welle kam" jedenfalls nicht auf dem Programm. Allenfalls Legitimationszwang, warum nun zwei Monate danach "eine der längsten Geschichten, die je im Stern erschienen sind", veröffentlicht wird. Aber klar: "Erst jetzt erzählen viele Überlebende, was am 26. Dezember geschah." Man möchte hinterherschicken: Was wirklich geschah. Denn erst jetzt ist das Puzzle komplett. Erst jetzt sind die Fragmente des Traumas zu einem Ganzen zusammengefügt worden.

Als die Welle kam. Stern-Cover vom 17.2.2005

Nun ist die Flutkatastrophe Geschichte. Eine Geschichte, die sich erzählen lässt. Packend, mitreißend, spannend. Deshalb ist der "stern" davon abgekommen, das "Protokoll der Sintflut" als Serie zu veröffentlichen. Man könne schließlich keinem Leser zumuten, "zwischendrin aufzuhören und eine Woche lang auf die nächste Folge zu warten." Nein, der Blockbuster muss als Monumentalproduktion unters Volk gebracht werden. Als "eine der längsten Geschichten, die je im stern erschienen sind."

Die Tatsache, dass das Wochenmagazin mit dieser Ausgabe einen zweiten Anlauf nimmt - der erste Versuch erschien in der Ausgabe 1/2005 -, deutet darauf hin, dass diesem ein dritter und vierter Anlauf folgen könnte. Definitiver, recherchierter, authentischer. Steigerungen sind immer möglich und sie sind durchaus gefragt. Vor allem sind es Versuche, die die überwältigenden Impressionen der Flutwelle und deren Implikationen immer wieder neu ordnen. Die Wiederholung hat therapeutische Wirkung. Das Trauma kann auf diesem Wege überwunden werden.

Dieses psychologische Geheimnis dürfte den Imagologen bekannt sein und sie werden auch sicherlich erkannt haben, dass die Faszination der Katastrophenbilder vom 26.12. durch diese Wirkung im Grunde nur gesteigert wird. Also muss das Trauma als gegeben vorausgesetzt und ein publizistischer Vorwand gefunden werden, um die Bilder neu aufzulegen. Nur, das Offensichtliche zu leugnen, macht auf Dauer keinen Sinn: Bei der größten Geschichte aller Zeiten handelt es sich um eine Serie.