Das Y-Chromosom verschwindet allmählich – was wird aus den Männern?

3D-Bild von X- und Y-Chromosomen

(Bild: vchal / Shutterstock.com)

Das Y-Chromosom degeneriert stetig. In Millionen Jahren könnte es verschwinden. Doch Nagetiere zeigen: Es gibt Hoffnung für die Männer.

Das Geschlecht von Menschen und anderen Säugetieren wird durch ein männliches Gen auf dem Y-Chromosom bestimmt. Das menschliche Y-Chromosom degeneriert jedoch und könnte in einigen Millionen Jahren verschwinden, was zu unserem Aussterben führen würde, wenn wir nicht ein neues Geschlechtsgen entwickeln.

Die gute Nachricht ist, dass zwei Stämme von Nagetieren ihr Y-Chromosom bereits verloren und überlebt haben, um die Geschichte zu erzählen.

Ein neuer Artikel in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Science zeigt, wie die Stachelratte ein neues Gen entwickelt hat, das das Geschlecht bestimmt.

Wie das Y-Chromosom beim Menschen das Geschlecht bestimmt

Wie bei anderen Säugetieren haben Frauen zwei X-Chromosomen und Männer nur ein X-Chromosom und ein winziges Chromosom namens Y. Die Namen haben nichts mit ihrer Form zu tun; das X steht für "unbekannt".

Das X enthält etwa 900 Gene, die alle möglichen Aufgaben erfüllen, die nichts mit dem Geschlecht zu tun haben. Das Y-Chromosom dagegen enthält nur wenige Gene (etwa 55) und viel nicht-kodierende DNA – einfache, sich wiederholende DNA, die scheinbar nichts zu tun hat.

Aber das Y-Chromosom hat es in sich, denn es enthält ein sehr wichtiges Gen, das die männliche Entwicklung des Embryos auslöst. Etwa zwölf Wochen nach der Empfängnis aktiviert dieses Hauptgen andere Gene, die die Entwicklung der Hoden steuern. Der embryonale Hoden produziert männliche Hormone (Testosteron und seine Derivate), die dafür sorgen, dass sich das Baby als Junge entwickelt.

Dieses Mastergen wurde 1990 als SRY (sex region on the Y) identifiziert. Es wirkt, indem es einen genetischen Weg in Gang setzt, der mit einem Gen namens SOX9 beginnt, das bei allen Wirbeltieren für das männliche Geschlecht entscheidend ist, obwohl es nicht auf den Geschlechtschromosomen liegt.

Das verschwundene Y

Die meisten Säugetiere haben ein X- und ein Y-Chromosom, ähnlich wie wir: ein X mit vielen Genen und ein Y mit SRY und einigen anderen. Dieses System ist problematisch, weil die X-Gene bei Männchen und Weibchen ungleich verteilt sind.

Wie konnte sich ein solch seltsames System entwickeln? Die überraschende Entdeckung ist, dass das australische Schnabeltier ganz andere Geschlechtschromosomen hat, die denen der Vögel ähnlicher sind.

Beim Schnabeltier ist das XY-Paar ein ganz normales Chromosom mit zwei gleichen Teilen. Dies deutet darauf hin, dass die X- und Y-Chromosomen der Säugetiere vor nicht allzu langer Zeit ein gewöhnliches Chromosomenpaar waren.

Das wiederum muss bedeuten, dass das Y-Chromosom in den 166 Millionen Jahren, in denen sich Mensch und Schnabeltier getrennt entwickelt haben, 900-55 aktive Gene verloren hat. Das entspricht einem Verlust von etwa fünf Genen pro Million Jahre. Bei diesem Tempo werden die letzten 55 Gene in elf Millionen Jahren verschwunden sein.

Unsere Behauptung vom bevorstehenden Untergang des menschlichen Y-Chromosoms erregte Aufsehen, und bis heute gibt es Behauptungen und Gegenbehauptungen über die wahrscheinliche Lebensdauer unseres Y-Chromosoms – Schätzungen reichen von unendlich bis zu einigen tausend Jahren.

Nagetiere ohne Y-Chromosom

Die gute Nachricht ist, dass wir von zwei Nagetierstämmen wissen, die ihr Y-Chromosom bereits verloren haben – und trotzdem überleben.

Bei den Maulwürfen in Osteuropa und den Stachelratten in Japan gibt es jeweils einige Arten, bei denen das Y-Chromosom und SRY vollständig verschwunden sind. Das X-Chromosom ist in beiden Geschlechtern einfach oder doppelt vorhanden.

Obwohl bisher nicht klar ist, wie die Maulwürfe ohne SRY-Gen ihr Geschlecht bestimmen, hatte ein Team um den Biologen Asato Kuroiwa von der Universität Hokkaido mehr Glück bei den Stachelratten – einer Gruppe von drei Arten auf verschiedenen japanischen Inseln, die alle vom Aussterben bedroht sind.

Kuroiwas Team entdeckte, dass die meisten Gene auf dem Y der Stachelratten auf andere Chromosomen verlagert worden waren. SRY und das Gen, das es ersetzt, fanden sie jedoch nicht.

Jetzt haben sie endlich eine erfolgreiche Identifizierung in PNAS veröffentlicht. Das Team fand Sequenzen, die in den Genomen von Männchen, aber nicht von Weibchen vorkamen, verfeinerte sie und testete die Sequenz in jeder einzelnen Ratte.

Dabei entdeckten sie einen winzigen Unterschied in der Nähe des wichtigen Geschlechtsgens SOX9 auf Chromosom 3 der Stachelratte. Eine kleine Duplikation (nur 17.000 Basenpaare von mehr als 3 Milliarden) fand sich bei allen Männchen, aber bei keinem Weibchen.

Die Forscher vermuteten, dass dieses kleine DNA-Stück den Schalter enthält, der SOX9 normalerweise als Reaktion auf SRY anschaltet. Als sie diese Duplikation in Mäuse einführten, stellten sie fest, dass sie die Aktivität von SOX9 erhöhte, sodass die Veränderung SOX9 in die Lage versetzen könnte, ohne SRY zu funktionieren.

Was dies für die Zukunft der Männer bedeutet

Das – evolutionär gesehen – bevorstehende Verschwinden des menschlichen Y-Chromosoms hat zu Spekulationen über unsere Zukunft geführt.

Einige Eidechsen und Schlangen sind reine Weibchen und können durch die sogenannte Parthenogenese aus ihren eigenen Genen Eier produzieren. Bei Menschen und anderen Säugetieren ist das nicht möglich, denn wir haben mindestens 30 wichtige "geprägte" Gene, die nur funktionieren, wenn sie vom Vater über das Sperma weitergegeben werden.

Zur Fortpflanzung benötigen wir Spermien und wir brauchen Männer, was bedeutet, dass das Ende des Y-Chromosoms das Ende der menschlichen Gattung bedeuten könnte.

Die neue Entdeckung unterstützt eine andere Möglichkeit – dass der Mensch ein neues geschlechtsbestimmendes Gen entwickeln kann. Puh!

Doch die Evolution eines neuen geschlechtsbestimmenden Gens birgt Risiken. Was passiert, wenn sich in verschiedenen Teilen der Welt mehr als ein neues System entwickelt?

Ein "Krieg" der Geschlechtsgene könnte zur Abspaltung neuer Arten führen, wie es bei Maulwürfen und Stachelratten bereits geschehen ist.

Wenn also jemand in elf Millionen Jahren die Erde besuchen würde, würde er keine Menschen finden – oder mehrere verschiedene Menschenarten, die durch ihre unterschiedlichen Geschlechtsbestimmungssysteme voneinander getrennt sind.

Jenny Graves ist Evolutionsgenetikerin und lehrt an der La Trobe University in Melbourne, Australien. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der genetischen Vielfalt australischer Säugetiere. Ihre Erkenntnisse haben zu neuen Theorien über den Ursprung und die Evolution der menschlichen Geschlechtschromosomen und der geschlechtsbestimmenden Gene geführt.

Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation unter einer Creative-Commons-Lizenz veröffentlicht. Lesen Sie den Originalartikel. Übersetzer: Bernd Müller