Das alte Lied, das alte Leid
Warum auch nach Emsdetten keine sinnvollen Ergebnisse der Debatten zu erwarten sind
Manche gesellschaftliche Prozesse benötigen nur den richtigen Auslöser, um sofort automatisch abzulaufen. Die Selbstmordattentate von Erfurt oder Emsdetten sind solche Auslöser, die Debatten, die sich an die Taten anschließen, die automatisierten Prozesse.
Als vor über vier Jahren Robert Steinhäuser in seiner ehemaligen Schule ein Massaker anrichtete, kam es zu Aktionismus auf fast allen gesellschaftlichen Ebenen. Lehrer fühlten sich plötzlich als potentielle Opfer des nächsten "Amoklaufes“ und prangerten die zunehmende Gewalt an deutschen Schulen an. VIVA boykottierte die Videos der Band Slipknot, da die britische 'Sun' der Band den Song "School Wars" angedichtet hatte. Eine umfassende Aufklärung der Tat und ihrer Motivation und Maßnahmen zur Verhinderung zukünftiger Taten wurden gefordert und diskutiert. Schnelle Antworten wurden dabei nicht erbeten, aber trotzdem gegeben, sie dominierten auch damals schon die Debatte. Sofort gab es den Ruf nach einem Verbot von gewaltverherrlichenden Computerspielen, so genannten "Killerspielen“ und anderen gewalthaltigen Medien. Die damalige CDU-Vorsitzende und jetzige Kanzlerin Angela Merkel brachte die Absichten ihrer Politik wenige Monate nach der Tat mehr als deutlich zum Ausdruck:
Wir müssen nicht verstehen und nachvollziehen, warum ein 19-Jähriger 16 Menschen und anschließend sich selbst erschossen hat. Aber wir müssen Konsequenzen ziehen, um ein weiteres Erfurt wenn nicht unmöglich, so doch weniger wahrscheinlich zu machen.
Angela Merkel, Bundestagsdebatte vom 3. Juli 2002
Eine Bekämpfung der Symptome erschien schon damals wichtiger als eine Suche nach den eigentlichen Ursachen. Fast schon irrwitzig mutet da die Aussage von Josef Kraus, dem Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes, nach Emsdetten an, der zumindest keinem Lehrer von einer Nahkampfausbildung abraten würde. Ein Vorschlag, der an die Forderungen der US-amerikanischen NRA nach der Bewaffnung von Lehrern erinnert.
Dabei wäre es im Fall von Sebastian Bosse, dem Täter von Emsdetten, so einfach, auf das obligatorisch und gleichermaßen rhetorisch gefragte "Warum?" eine Antwort zu finden. Über keinen Täter zuvor war so viel bekannt. Keiner der Täter hat so viel hinterlassen. Abschiedsbrief, Tagebücher, Videos, digitale Spuren, selbst ein alles andere als leiser Hilfeschrei des Sebastian Bosse geistern durchs Netz und können von jedem gelesen werden. Die Motive des Täters sind offensichtlich und was zu lesen ist, dokumentiert das Versagen aller gesellschaftlichen Instanzen, die eigentlich für das Wohl von Kindern und Jugendlichen verantwortlich sein sollen. Keine Tat war bisher schon im Vorhinein so vorhersehbar, nie waren die Anzeichen so eindeutig und somit die schnellen Antworten so hinfällig wie in diesem Fall. Selbst Sabine Christiansen erkannte in ihrer Gesprächsrunde am auf die Tat folgenden Sonntag, dass auf die Fülle der Informationen hätte reagiert werden müssen. Von der Polizei...
Die schnellen Antworten werden auch diesmal gegeben, wobei es einen großen Unterschied zu Erfurt gibt: Robert Steinhäuser beschäftigte die Boulevard- und Tagespresse über Wochen, der Spiegel widmete der Tat gleich mehrere Titelseiten. Aber dadurch, dass die geplante Tat von Sebastian Bosse in Emsdetten offenbar "schief gelaufen" ist, gab es nur einen Toten, den Täter selbst. Die mediale Aufmerksamkeit flaute dadurch sehr schnell ab.
Politiker und andere (selbsternannte) Experten hatten also nur wenige Tage Zeit, ihre Forderungen zu stellen. Die automatisierten Prozesse kamen ihnen dabei zu Hilfe. Der vom damaligen Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber nach Erfurt geprägte Begriff der "Killerspiele" ist inzwischen in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen (was spätestens bei "Sabine Christiansen“ deutlich geworden sein dürfte). Er soll vor allem emotionalisieren und die Gefahr verdeutlichen, die angeblich von bestimmten Computerspielen ausgeht. Durch die Verwendung solcher Begriffe werden die Spiele und damit deren Konsumenten von der Normalität abgegrenzt. Es kann nicht "normal" sein, dass Jugendliche wie Robert Steinhäuser und Sebastian Bosse sich mit diesen Spielen beschäftigen.
Einen ähnlichen Effekt erzielt die Verwendung des Begriffes "Amoklauf". Der Amoklauf als etwas Plötzliches, das von außerhalb des Rationalen auf die Opfer einbricht unterstützt den Versuch, von einer rationalen Begründung der Tat abzusehen. Eine "Amoktat“ selbst steht außerhalb jeglicher Rationalität. Durch die Platzierung von Tätern und Tat außerhalb der Normalität, entfällt auch die Suche nach möglichen Ursachen innerhalb der Normalitätsgrenzen. Denn wer sich in seiner Freizeit mit solchen anormalen Dingen beschäftigt, kann auch kein normaler Mensch sein und von daher auch keine normalen Gründe für eine solche Tat haben. Und wer versucht, diese Gründe trotzdem zu finden, lief schon vor vier Jahren Gefahr, sich auf die Seite des Täters zu stellen:
Wer das Unverständliche verstehbar und das Unerklärbare erklärbar machen möchte, der muss aufpassen, dass er sich nicht – zumindest unterschwellig – auf die Seite des Täters stellt und versucht, das Unentschuldbare mit irgendwelchen Umständen zu erklären.
Angela Merkel, Bundestagsdebatte vom 03. Juli 2002
Daran zeigt sich wieder einmal, dass ein ganzheitlicher Blick auf die Tat, der möglichst umfassend die möglichen Faktoren beleuchtet und auch nach Ursachen für diese Taten fragt, selten von Interesse und in den wenigsten Fällen erwünscht ist, da er keine einfachen Lösungen vorgibt und unangenehme Fragen an sämtliche gesellschaftliche Instanzen stellt. Die ganzheitliche Betrachtung der Fälle von Erfurt, Bad Reichenhall oder Emsdetten muss sich mit der gesamtgesellschaftlichen Situation beschäftigen. Fehlender Familienzusammenhalt, die Situation an den Schulen (mangelhafte Ausbildung der Pädagogen, fehlende Sozialarbeiter und Psychologen), Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit der Jugendlichen etc. sind wichtige Faktoren, die bei einer Betrachtung mit einbezogen werden müssen.
Die Ansätze einer solchen Betrachtungsweise würden das Kernproblem der gesellschaftlichen Verrohung ins Auge fassen, die von Politikern, Prominenten und sonstigen Fernsehgesprächsrundenteilnehmern immer wieder angeprangert wird. Gerade der Fall von Sebastian Bosse hat gezeigt, dass nicht die „Killerspiele“, sondern die familiäre und soziale Situation von Kindern und Jugendlichen Hauptursache für die emotionale Verarmung sind. Viele Familien sind mit der eigenen Situation überfordert, die Jugendlichen werden immer mehr alleine gelassen und finden kaum noch Ansprechpartner bei Schulproblemen, Lernstress und Zukunftsängsten. Erst als Konsequenz daraus flüchten sie sich in die virtuelle Welt der Medien. Ein Verbot gewalthaltiger Medien kann hier also nicht die Lösung sein.
Aber solange Attentate wie die in Emsdetten, Erfurt, Bad Reichenhall oder Columbine immer wieder mit den gleichen automatisierten Debatten beantwortet werden, werden sich Gesellschaft, Wissenschaft und Politik auch vermehrt mit solchen Taten auseinandersetzen müssen.
Der Autor hat in seiner Magisterarbeit über "Das Massaker von Erfurt. Diskursanalyse einer Debatte in Politik und Medien" im Fach Kommunikationswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen geschrieben.