Das ganz normale Denken von Demonstranten gegen die Covid-Politik

Seite 2: Souveränitätssimulation

Auf einem Plakat bei einer Demonstration war zu lesen: "Gehorsamszeichen wie Hitlergruß, Genossengruß und Alltagsmasken gehören verboten!!!" Wie ein Kind in der Trotzphase befolgen viele ein Gebot schon deshalb nicht, weil es von außen oder von oben kommt. "Ich kann doch machen, was ich will."

Zwangsmaßnahmen werden notwendig, weil immer noch über 20 Prozent der Bundesbürger trotz vieler guter Argumente für die Impfung diese unterlassen. Gegner der Maßnahmen zur Eindämmung der Covidpolitik sehen das genau umgekehrt: Weil es eine Kampagne gibt, deshalb wittern sie einen fremden Willen und Inhalt. Weil konzentriert für ein bestimmtes Verhalten mit Argumenten geworben wird, fühlt sich der selbsternannte Freigeist bevormundet: "Ich lasse mir von niemand reinreden!"

Dass man mir eine Veränderung meines Verhaltens nahelegt, daran nehme ich Anstoß und lasse mich erst gar nicht auf die sachliche Prüfung der vorgebrachten Argumente ein. Autonomie wird mit Trotz verwechselt. Das ausgestellte Freiheitsverständnis ähnelt einem Vulgär-Existenzialismus. Für ihn "ist nicht so entscheidend, was ich wähle, als vielmehr, dass ich es bin, der wählt". Das gleicht einer "Art pubertärer Ethik" (Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Stuttgart 1997, S. 114).

In einem Interview mit einer Sozialpsychologie-Professorin zu den Demonstrationen heißt es:

Wir stellen auf jeden Fall fest, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gibt, die bei den Protestierenden gehäuft auftreten. Dazu gehören auch Macchiavellismus, also ein hohes Misstrauen gegenüber anderen Menschen und Institutionen und der Glaube, dass man angelogen wird und nichts von sich selbst preisgeben darf. […] Narzissmus spielt ebenfalls eine Rolle, also das Gefühl, man sei etwas Besonderes und die allgemeinen Regeln gelten nicht für einen selbst.

Julia Becker, Tagesspiegel, 1.9.2020

Es handelt sich bei der großen Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer um Leute, die sonst keineswegs protestieren angesichts der Zwänge, denen sie unterliegen. Viele sind lohnabhängig oder als kleine Selbständige abhängig von Bankkrediten und Auftraggebern. Viele sehen die kapitalistische Marktwirtschaft und die Kapital-Akkumulation bei aller Manöverkritik im Einzelnen im Großen und Ganzen als "alternativlos" an.

Sie akzeptieren das Privateigentum an Wohnungen und finden nichts dabei, die Miete und die Steuern zu zahlen. Nur bei Corona wollen sonst fügsame und "verständige" Untertanen auf einmal sich und anderen beweisen: "Ich lasse mit mir nicht alles machen." Dabei meinen sie häufig nur: Wenigstens an einem Punkt soll sich mal etwas nicht ändern.

An allerhand Zumutungen des Erwerbs- und Geschäftslebens sind sie gewohnt. In den Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-Epidemie bemerken sie etwas, das ihre Gewohnheiten stört und das zu verweigern sie sich zutrauen. "Widerstand" erscheint hier auf einmal ganz einfach: Die Maske nicht tragen und die Impfung verweigern – das kann jede(r).

Dazu gehört nicht viel. Während die meisten sonst keine Möglichkeit sehen, wie sie sich wirksam wehren können, ist das individuelle Unterlassen hier leicht möglich. In dem Maße, wie die "Spaziergänge" an Zulauf gewinnen, werden sie interessant. Auch viele, die sich bislang nicht sonderlich mit dem Sachthema befasst haben, bemerken: Wir haben endlich mal ein Ventil, unseren diffusen Frust abzulassen, und eine Chance, "denen da oben" es mal "zu zeigen". So blind ist dieser Protest, dass er nicht bemerkt, wen die Verweigerung der Impfung durch eine Minderheit tatsächlich trifft.

Auf der Berliner Demonstration am 29.8.2020 sind einige ältere Männer zu sehen mit weißen T-Shirts und dem Slogan:

Ich habe meine Eier wiedergefunden.

Vielen geht es offenbar mehr um Symbolpolitik und Souveränitätssimulation als um eine sachgerechte Einschätzung der Lage. Corona bildet den Anlass für Leute, die meinen, sich selbst und anderen unbedingt wenigstens einmal demonstrieren zu müssen, wie eigenständig sie seien.

Wer daran Gefallen findet, offenbart zugleich die Meinung, seine oder ihre Autonomie bestehe darin, … eine Mund-Nasen-Maske nicht aufzuziehen. Das Missverhältnis zwischen dem Engagement für die große Freiheit und der kleinen Maske fällt Corona-Demonstranten nicht auf.

Vielmehr lautete – in Anlehnung an Ronald Reagans Parole "Tear down this wall" in seiner Rede am 2.6.1987 vor dem Brandenburger Tor – eine Parole am 29.8.2020: "Tear down the masks!" Im Berliner Dialekt hört sich der Einwand zu solch exzentrischen Exaltationen so an: "Hamm ses nich ne Numma kleena?"

Das Freiheitsverständnis

Teilnehmer an der Marktwirtschaft sehen ihre Freiheit darin, ihrem speziellen Privatinteresse, das anderen Privatinteressen entgegensteht, zu folgen. Sie wollen sich dafür die eigene Arbeit, das eigene "Investment" und die "Geschäftspartner" aussuchen. In der Marktwirtschaft ist immer der Übergang angelegt von einem individuellen Gebrauch der eigenen Freiheit, der die Interessen anderer bei der Durchsetzung des eigenen Interesses wohl oder übel taktisch-instrumentell berücksichtigt, zu einem Freiheitsverständnis, das sich von dieser Beachtung anderer Interessen löst.

Einige Maximen der Marktwirtschaft lauten: "Jeder ist sich selbst der Nächste. Mir hilft niemand, warum sollte ich jemand helfen? Wer sich auf andere verlässt, ist verlassen. Verschon mein Haus, zünd andere an (St. Florians-Prinzip). Wenn andere die Gesetze einhalten, soll's mir sehr recht sein; meine Ausnahme gönn' Ich mir!" Die Auffassungen vieler Demonstranten gegen die Covid-Politik stellen eine Variante dieser ganz normalen ideologischen Auffassungen dar.