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Das gefährliche Spiel mit roten Linien in der Ukraine

Patriot-Raketenbatterie auf einem Militärstützpunkt. Bild: Sean M. Worrell, U.S. Air Force / CC BY 2.0

Die US-Regierung beteiligt sich zunehmend am Ukraine-Krieg. Kiew könnte sogar bald grünes Licht für einen Krim-Angriff erhalten. Die Frage ist, wie weit man zu gehen bereit ist.

Wenn sich die Vereinigten Staaten militärisch in einen Konflikt einmischen, fällt es ihnen oft schwer, sich wieder herauszuziehen, geschweige denn, tiefe Verstrickungen zu vermeiden, die weit über die Grenzen hinausgehen, die sie zu Beginn der Intervention gezogen hatten.

Das ist in Vietnam geschehen [1], als aus den US-Militärberatern, die den Südvietnamesen im Kampf gegen die Vietcong helfen sollten, schließlich US-Soldaten wurden, die einen amerikanischen Krieg führten. Es fand in Afghanistan statt [2], wo sich eine anfängliche Invasion zur Ergreifung von al-Qaida-Mitgliedern und zum Sturz der Taliban in ein fast zwei Jahrzehnte andauerndes Projekt zum Aufbau einer Nation verwandelte. Und das könnte jetzt gerade in der Ukraine geschehen.

Branko Marcetic schreibt für Jacobin, Washington Post und den Guardian.

Nach und nach nähern sich die Nato und die Vereinigten Staaten dem Katastrophenszenario an, von dem Präsident Joe Biden sagte [3], dass "wir uns bemühen müssen, es zu verhindern" – einem direkten Konflikt zwischen den USA und Russland.

Obwohl zu Beginn des Krieges betont wurde [4], dass "unsere Streitkräfte nicht in den Konflikt verwickelt sind und es auch nicht sein werden", erklärten amtierende und ehemalige Geheimdienstmitarbeiter im Oktober gegenüber The Intercept [5], dass "die Präsenz von CIA- und US-Spezialkräften" in der Ukraine viel größer sei als zum Zeitpunkt des russischen Einmarsches und dass "geheime amerikanische Operationen" in dem Land durchgeführt würden, die "jetzt viel umfangreicher sind".

Zu diesen geheimen Operationen gehöre – so berichtete der Enthüllungsjournalist und ehemalige Green Beret Jack Murphy [6] am 24. Dezember, was vom Mainstream wenig beachtet wurde – die Zusammenarbeit der CIA mit der Spionageabteilung eines ungenannten Nato-Verbündeten bei der Durchführung von Sabotageaktionen in Russland, die angeblich die Ursache für die unerklärlichen Explosionen sind, die die russische Infrastruktur während des gesamten Krieges erschüttert haben. Solche Aktivitäten schrammen gefährlich nahe an einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland vorbei.

Um es in die angemessene Perspektive zu rücken, sollte man bedenken, dass Teile [7] des politischen Establishments in den USA [8] allein die Einmischung Russlands in die US-Wahlen 2016 als "Kriegshandlung [9]" betrachteten – empörend, aber um Größenordnungen weniger schlimm als die Unterstützung bei der Durchführung von Infrastrukturangriffen auf dem Boden eines anderen Landes.

In der Zwischenzeit haben die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten ihre selbst auferlegten Grenzen in Bezug auf Waffentransfers immer wieder gesprengt [10]. Zu Beginn des Krieges warnte die New York Times [11], dass die offene Lieferung selbst von Kleinwaffen und leichten Waffen "das Risiko birgt, einen ausgeweiteten Krieg und mögliche Vergeltungsmaßnahmen Moskaus zu fördern", während US-Offizielle fortgeschrittenere Waffen als zu eskalierend ausschlossen.

Es dauerte weniger als zwei Monate, bis die Regierung Biden begann, die risikoreicheren Tranchen hochleistungsfähiger Waffen zu versenden [12].

Ende Mai verschickte man [13] moderne Raketensysteme, die noch wenige Wochen zuvor als zu eskalierend betrachtet wurden [14], unter der strikten Bedingung [15], dass die Ukraine sie nicht für Angriffe auf russisches Territorium einsetzt, was, wie man befürchtete [16], zu einer Eskalation führen könnte, die die Nato in den Krieg ziehen würde – bis auch diese Grenze schließlich überschritten wurde. Im vergangenen Dezember gab das Pentagon zu [17], dass es der Ukraine als Reaktion auf Moskaus Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur schließlich doch grünes Licht für Angriffe auf Ziele in Russland gegeben habe.

"Die Angst vor einer Eskalation hat sich von Anfang an geändert", erklärte ein Vertreter des Verteidigungsministeriums gegenüber der Londoner Times. Das Pentagon sei weniger besorgt, seit der russische Präsident Wladimir Putin im Oktober seine nuklearen Drohungen zurückgenommen habe [18].

Da die Kriegsanstrengungen in der Ukraine ins Stocken geraten sind und die russischen Streitkräfte kleine Fortschritte gemacht haben [19], sind die Waffentransfers der Nato inzwischen weit über das hinausgegangen, was Regierungen noch vor wenigen Monaten befürchteten, nämlich dass das Bündnis in einen direkten Krieg mit Russland hineingezogen werden könnte.

Die Regierungen der USA und Europas schicken gepanzerte Fahrzeuge [20] und haben sich nun auch entschieden, Panzer zu liefern [21]. Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hatte das bereits im Oktober letzten Jahres vorausgesagt. Er sagte dem New Yorker [22] damals:

Als ich im November, vor der Invasion, in Washington war und nach Stingers fragte, sagte man mir, das sei unmöglich. Jetzt ist es möglich. Als ich nach 155-Millimeter-Kanonen fragte, lautete die Antwort nein. Mehrfachraketenwerfer HIMARS, nein. Luft-Boden-Rakete HARM, nein. Jetzt ist das alles ein Ja. Deshalb bin ich mir sicher, dass es morgen Panzer, Kurzstreckenraketen ATACMS und F-16 geben wird.

Es bleibt abzuwarten, wie lange es dauert, bis der Widerstand der USA [23] gegen letztere Militärhilfe denselben Weg einschlägt wie bei den schweren Waffen, die sie bereits geliefert haben. Und: Wie lange wird sich die Regierung noch gegen die Lieferung von Langstreckendrohnen sträuben [24], auf die eine parteiübergreifende Gruppe von Senatoren [25] derzeit drängt und vor denen russische Beamte ausdrücklich gewarnt haben [26], dass sie Washington "zu einer direkten Konfliktpartei" machen würden?

Grünes Licht aus Washington für Angriff auf die Krim?

Mit der Ausweitung der Waffenlieferungen haben sich auch die Kriegsziele verändert. Ursprünglich wollte das Bündnis der Ukraine helfen, ihre Unabhängigkeit und Souveränität zu verteidigen und eine russische Invasion abzuwehren, die auf einen Regimewechsel abzielte.

Zwei Monate später sprachen US-Beamte öffentlich [27] von einem "Sieg" [28] und einer "strategischen Niederlage" Russlands, die das Land "geschwächt" zurücklassen würde. Biden hat wiederholt [29] geschworen [30], die Ukraine zu unterstützen, "solange es nötig ist", auch wenn Selenskyj und andere Beamte [31] wiederholt [32] deutlich [33] gemacht [34] haben, dass ihr Ziel jetzt die Rückeroberung der Krim ist, was eine nukleare Eskalation auslösen könnte [35].

Von Diplomatie ist in den US-Kommentaren zu diesem Krieg kaum die Rede. Vielmehr wird eine drastische [36] Eskalation [37] des Nato-Engagements gefordert [38], um einen ukrainischen Sieg zu erreichen, oft mit der Begründung [39], dass jedes andere Ergebnis einen existenziellen Schlag für den Westen und die gesamte liberale Weltordnung bedeuten würde.

"Wenn Russland den Krieg in der Ukraine gewinnt, werden wir ähnliche Verhaltensweisen in den nächsten Jahrzehnten erleben", sagte die progressive finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin [40] kürzlich in Davos. Sie versprach [41], die ukrainischen Kriegsanstrengungen gegebenenfalls 15 Jahre lang zu unterstützen.

Wir müssen dafür sorgen, dass am Ende die Ukrainer gewinnen. Ich glaube nicht, dass es eine andere Wahl gibt.

Die New York Times berichtet [42], dass US-Regierungsbeamte ernsthaft in Erwägung ziehen, der Ukraine grünes Licht für einen Angriff auf die Krim zu geben, auch wenn sie das Risiko eines nuklearen Gegenschlags dabei eingestehen. Die Befürchtungen einer solchen Eskalation "haben sich abgeschwächt", so die US-Vertreter gegenüber der Zeitung.

Indem die Biden-Regierung ihre Unterstützung für das ukrainische Militär eskaliert, schaffen die USA und die Nato für Moskau einen Anreiz, einen drastischen, aggressiven Schritt zu unternehmen, um die Ernsthaftigkeit der eigenen roten Linien zu untermauern.

Das wäre schon in entspannten Phasen gefährlich. Es ist es aber vor allem, da russische Offizielle deutlich machen, dass sie den Krieg zunehmend [43] als einen Krieg gegen die Nato [44] und nicht nur gegen die Ukraine betrachten [45], während man gleichzeitig mit einer nuklearen Antwort auf die Eskalation der Waffenlieferungen der Allianz droht [46].

Die Regierungen der Nato-Staaten stellen den Konflikt in der Öffentlichkeit zunehmend nicht mehr als begrenzten Versuch dar, einem Land bei der Abwehr der Invasion des größeren Nachbarn zu helfen, sondern als existenziellen Kampf um das Überleben des Westens. Das wird dann gespiegelt in der Sichtweise der russischen Führung, den Krieg als Überlebenskampf gegen feindliche westliche Mächte anzusehen. Bemerkenswert ist, dass das trotz der öffentlichen Befürwortung von Diplomatie durch die Biden-Regierung Ende letzten Jahres geschehen ist.

Wenn die Absicht besteht, diesen Krieg als einen begrenzten, regionalen Krieg zwischen zwei Nachbarstaaten zu führen, in dem die Nato nur eine periphere, unterstützende Rolle spielt, dann widersprechen dem die aktuellen Trends und Unternehmungen.

Solange sich die Verantwortlichen nicht gemeinsam um eine Deeskalation bemühen und einen diplomatischen Weg einschlagen – und prominente Stimmen in Medien und Politik den politischen Raum dafür schaffen –, wird Bidens Versprechen, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, so viel bedeuten wie Präsident Johnsons Versprechen aus dem Jahr 1964, "amerikanische Jungs nicht neun- oder zehntausend Meilen von zu Hause wegzuschicken, um das zu tun, was asiatische Jungs selbst tun sollten."

Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original [47]. Übersetzung: David Goeßmann.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7470872

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.msnbc.com/rachel-maddow/watch/iraq-mission-creep-an-eerie-echo-of-vietnam-461871171577
[2] https://www.cbs42.com/news/business/nato-debates-the-lessons-of-mission-creep-in-afghanistan/
[3] https://thehill.com/policy/international/597842-biden-direct-conflict-between-nato-and-russia-would-be-world-war-iii/
[4] https://edition.cnn.com/2022/02/24/politics/us-troops-ukraine-russia-nato/index.html
[5] https://theintercept.com/2022/10/05/russia-ukraine-putin-cia/
[6] https://jackmurphywrites.com/169/the-cias-sabotage-campaign-inside-russia/
[7] https://thehill.com/policy/cybersecurity/325606-democrats-step-up-calls-that-russian-hack-was-act-of-war/
[8] https://www.realclearpolitics.com/video/2017/02/14/friedman_flynn_resignation_shows_russia_hacking_was_on_scale_with_911_pearl_harbor.html
[9] https://edition.cnn.com/2016/12/30/politics/mccain-cyber-hearing/index.html
[10] https://www.washingtonpost.com/national-security/2022/12/23/ukraine-weapons-biden/
[11] https://www.nytimes.com/2022/03/02/world/europe/nato-weapons-ukraine-russia.html
[12] https://edition.cnn.com/2022/04/13/politics/us-weapons-ukraine-war/index.html
[13] https://www.voanews.com/a/us-to-send-advanced-rocket-systems-to-ukraine/6598106.html
[14] https://www.politico.com/news/2022/05/18/biden-resists-ukrainian-demands-long-range-rocket-launchers-00033473
[15] https://www.nytimes.com/2022/06/01/us/politics/the-us-is-sending-advanced-weapons-to-ukraine-but-conditions-apply.html
[16] https://www.theguardian.com/world/2022/may/28/ukraine-pleads-for-weapons-as-russian-onslaught-threatens-to-turn-the-tide
[17] https://www.thetimes.co.uk/article/ukraine-drone-warfare-russia-732jsshpx
[18] https://apnews.com/article/putin-europe-government-and-politics-c541449bf88999c117b033d2de08d26d
[19] https://www.newsweek.com/russia-advancing-bakhmut-soledar-ukraine-war-1774230
[20] https://responsiblestatecraft.org/2023/01/05/how-western-tanks-could-change-ukraines-war-effort/
[21] https://www.democracynow.org/2023/1/25/germany_leopard_tanks_ukraine_russia_war
[22] http://
[23] https://foreignpolicy.com/2023/01/12/russia-ukraine-war-pentagon-balks-long-range-bombs/
[24] https://theintercept.com/2022/11/18/ukraine-drones-biden/
[25] https://www.defensenews.com/congress/2022/11/22/senators-urge-pentagon-to-send-advanced-gray-eagle-drones-to-ukraine/
[26] https://www.newsweek.com/ukraine-testing-longer-range-drones-biden-willing-provide-1773753
[27] https://www.npr.org/2022/04/27/1094970683/u-s-war-aims-shift-in-ukraine-and-bring-additional-risks
[28] https://www.cato.org/commentary/us-expanding-its-goals-ukraine-thats-dangerous#
[29] https://www.nytimes.com/2022/06/30/world/europe/biden-nato-ukraine-russia.html
[30] https://time.com/6243120/biden-zelensky-visit-ukraine-support/
[31] https://www.pravda.com.ua/eng/news/2022/11/14/7376350/
[32] https://www.politico.eu/article/zelenskyy-ukraine-war-raises-flag-izyum/
[33] https://www.wsj.com/livecoverage/ukraine-zelensky-biden-congress-washington-trip-russia/card/zelensky-vows-to-retake-all-ukrainian-territory-seized-by-russia-including-crimea-ydEi123Hxz0QZ5q0YI1a
[34] https://www.newsweek.com/zelensky-vows-take-back-crimea-amid-kherson-offensive-this-ours-1737848
[35] https://jacobin.com/2022/10/nuclear-accident-ukraine-russia-putin-nato-negotiations
[36] https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/16/biden-ukraine-weapons-russia-tanks/
[37] https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/17/us-ukraine-war-tanks-putin/
[38] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2023/01/western-military-aid-ukraine-russia/672737/
[39] https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/14/ukraine-needs-western-aid-integration-survive/
[40] https://twitter.com/im_PULSE/status/1615872658792382466
[41] https://www.usnews.com/news/world/articles/2023-01-17/davos-2023-finlands-marin-vows-years-of-ukraine-support
[42] https://www.nytimes.com/2023/01/18/us/politics/ukraine-crimea-military.html
[43] https://consent.yahoo.com/v2/collectConsent?sessionId=3_cc-session_ab639078-ce73-439f-aa58-f93e53c348f6
[44] https://www.newsweek.com/russia-war-nato-kremlin-official-1732679
[45] https://consent.yahoo.com/v2/collectConsent?sessionId=3_cc-session_9d84d52e-62ac-4fe8-9b38-b56449e8aaa8
[46] https://www.reuters.com/world/europe/putin-ally-medvedev-warns-nuclear-war-if-russia-defeated-ukraine-2023-01-19/
[47] https://responsiblestatecraft.org/2023/01/23/how-the-us-role-in-ukraine-has-slowly-but-steadily-escalated/