Das globale Finanzsystem: Titanic auf Kollisionskurs
Die Vorkehrungen für den Notfall laufen auf Hochtouren. Doch das Schiff ist dem Eisberg bereits so nah, dass auch das kühnste Manöver die Katastrophe nicht mehr verhindern kann
Sich im Gestrüpp der unendlich vielen widersprüchlichen Wirtschafts- und Finanzmeldungen zurechtzufinden, ist zurzeit so gut wie unmöglich. Entweder wird die Apokalypse beschworen oder es heißt, die Welt sei in bester Ordnung und es gebe keinen Grund zur Beunruhigung.
Auch die Ökonomen der verschiedensten Richtungen sind ratlos, weil keine der herkömmlichen Theorien die Entwicklung an den Märkten mehr erklären kann. Aktienkurse steigen, während die Realwirtschaft stagniert oder gar schrumpft. Der Goldpreis fällt, obwohl das Geld in nie dagewesener Weise entwertet wird. Trotz einem immer schneller wachsenden globalen Schuldenberg werden Investoren vor allem in Schwellenländern zu immer größerer Schuldenaufnahme animiert.
Eine Orgie der Spekulation
Was steckt dahinter? Ganz einfach: Spekulation und Manipulation. Die großen Finanzinstitutionen nutzen ihre Einstufung als "too big to fail", um hemmungsloser denn je zuvor am Rad des Casino-Kapitalismus zu drehen. Unter Einsatz riesiger Geldsummen, die ihnen von den Zentralbanken zu Nahe-Null-Zinsen zur Verfügung gestellt werden, manipulieren sie die Märkte mittlerweile nach Belieben.
Aktienkurse schießen nicht etwa deswegen in die Höhe, weil Unternehmen wirtschaftliche Erfolge vorweisen, sondern weil das Management billiges Geld einsetzt, um eigene Aktien zurückzukaufen und ihren Kurs so in die Höhe zu treiben. Der Preis von Staatsanleihen und ihr Zinsniveau spiegeln nicht einmal annähernd den wirtschaftlichen Zustand des Ausgeberlandes wider, da sie von den Zentralbanken ohne Rücksicht auf Verluste zur Stabilisierung des Systems blind aufgekauft werden.
Auch der Preis von Edelmetallen entspricht nicht einmal entfernt ihrem wahren Wert, da sie überwiegend nicht in physischer Form, sondern in Papierform und damit in einem Volumen, das um ein Zigfaches über ihren tatsächlichen Bestand hinausgeht, gehandelt werden.
An den Aktien-, Anleihen- und Immobilienmärkten sind auf Grund der Geldschwemme riesige Blasen entstanden, die jederzeit platzen können. Statt sich diesem Trend durch eine Erhöhung der Zinsen entgegenzustemmen, schieben die Zentralbanken - allen voran die US-Zentralbank Federal Reserve - eine Zinsanhebung seit Jahren vor sich her. Warum? Weil es gar nicht anders möglich ist.
Selbst die geringste Anhebung hätte fatale Konsequenzen fürs Gesamtsystem, da das Volumen zinsgebundener Derivate (Wetten auf steigende oder fallende Zinssätze) nach Informationen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich inzwischen den unvorstellbaren Betrag von über 500 Billionen US-Dollar erreicht hat. Um die Dimension zu verdeutlichen, von der hier die Rede ist: Auf dem Höhepunkt der Subprime-Hypothekenkrise genügten ganze 1,2 Billionen solcher Derivate, um das globale System an den Rand des Abgrunds zu treiben!
Ein Trommelfeuer an Hiobsbotschaften
Und das ist noch nicht alles. Während die finanzielle Zeitbombe im Derivate-Sektor vor sich hin tickt, erlebt die wegen der ausufernden Finanzspekulation immer stärker austrocknende Realwirtschaft im siebten Jahr nach 2008 ein Trommelfeuer an Hiobsbotschaften: der Abschwung in China, die anhaltende Stagnation in den USA, der Rückgang der Rohstoffpreise, gewaltige Kapitalabflüsse aus den Schwellenländern, die nachlassende Nachfrage nach Investitionsgütern und ein immer schwächerer Konsum sind nur einige der Faktoren, die schon bald weitere Maßnahmen zur Stützung des Systems erforderlich machen werden.
Das aber wird mehr als schwierig, denn von den wichtigsten der bisherigen Maßnahmen zeigt die eine - das Gelddrucken - immer weniger Wirkung, während die andere - die Senkung des Leitzinses - fast ausgereizt ist. Hierzu ein Blick auf Europa.
Obwohl die EZB seit März 2015 pro Tag 2 Milliarden Euro aus dem Nichts schöpft und ins System pumpt, um ein Inflationsziel von 2 Prozent zu erreichen, lag die jährliche Inflationsrate im September bei minus 0,1 Prozent. D.h.: Trotz der bis zum Herbst 2016 vorgesehenen Geldspritze in Höhe von insgesamt 1,2 Billionen Euro rutscht Europa derzeit in eine Deflation - bei einer Schuldenlast von insgesamt 9,4 Billionen Euro eine verheerende Entwicklung, denn Deflation bedeutet: Die Einnahmen von Staat und Unternehmen sinken, während Schulden und Zinsen auf ihrem hohen Niveau verharren.
Nicht viel besser sehen die Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Zinsen aus: Bei einem derzeitigen Eurozonen-Leitzins von 0,05 Prozent bleibt den Verantwortlichen nur noch der Griff zu Null- oder Negativzinsen. Negativzinsen aber führen, wie das Beispiel Schweiz momentan zeigt, zur Verteuerung von Krediten und Hypothekenzinsen und schwächen so die Wirtschaft. Außerdem müssten Negativzinsen, wenn sie den Euro betreffen, durch Maßnahmen begleitet werden, die eine Massenflucht aus der Währung verhindern.
Hierzu wird derzeit auf breiter Front die Abschaffung des Bargeldes vorangetrieben (in Frankreich liegt die Obergrenze für Barzahlungen seit dem 1. September 2015 bei 1.000 Euro), doch die flächendeckende Umsetzung der Maßnahme kostet Zeit und die läuft den Verantwortlichen im Augenblick davon...
Die Vorkehrungen für den Notfall laufen auf Hochtouren
Sind Finanzindustrie und Politik also am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen? Steht der Crash unmittelbar bevor? Die Vorbereitungen sind jedenfalls getroffen: So ist inzwischen fast überall das Prinzip des Bail-In gesetzlich verankert. Mit ihm sollen Finanzinstitutionen nicht mehr wie beim Bail-out durch Steuergelder, sondern durch das Heranziehen der Vermögen von Anlegern, Sparern und Aktionären gerettet werden.
Was aber, wenn die vorhandenen Summen nicht ausreichen, um die betroffenen Institute zu stützen? Wenn die Zentralbanken selbst ins Wanken geraten? Auch für diesen Fall gibt es bereits ein Krisen-Szenario. In ihm spielt der Internationale Währungsfonds als mächtigste globale Finanzorganisation und Kreditgeber letzter Instanz die entscheidende Rolle.
Seit dem Ende der Sechziger Jahre verfügt der IWF mit den Sonderziehungsrechten (SZR) über eine Reservewährung, die - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - bereits 2009 im Umfang von ca. 250 Mrd. Dollar zur Rettung des Systems eingesetzt wurde. Bei den SZR handelt es sich um eine nicht frei handelbare Währung, die der IWF einzelnen in Schwierigkeiten geratenen Ländern zuteilen und mit der er Liquiditätsengpässe in diesen Ländern beheben und die Inflation anheizen kann. Angesichts der gigantisch anschwellenden Schuldenlawine, die auf die Welt zukommt, müsste dieses Mittel aber in einem erheblich größeren Ausmaß als 2009 eingesetzt werden und würde mit Sicherheit in einer Hyperinflation münden.
Die Wirklichkeit lässt sich nicht überlisten
Außer diesem Einsatz der SZR käme nach jetzigem Stand der Dinge nur noch die (vom IWF bereits 2013 ins Gespräch gebrachte) direkte Enteignung von Bürgern mittels einer einmaligen "Vermögensabgabe" als Maßnahme in Frage. Sie wäre allerdings kaum ohne schwere soziale Verwerfungen durchzusetzen, da sie mit Sicherheit auf großen Widerstand in der Bevölkerung stieße.
Doch selbst wenn dieser Widerstand gebrochen würde, bliebe dennoch die Tatsache, dass beide Maßnahmen - der Einsatz der SZR oder die kalte Enteignung der Bürger - den Zusammenbruch schlussendlich auch nur aufschieben, nicht aber aufhalten oder gar abwenden können. Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Wirklichkeit lässt sich nicht überlisten.
Vergleicht man die Phase, in der sich die Weltwirtschaft und das globale Finanzsystem derzeit befinden, mit der letzten Fahrt der Titanic, so lässt sich feststellen: Die Kapelle spielt und die Passagiere tanzen, aber das Schiff ist dem Eisberg bereits so nah, dass auch das kühnste Manöver des Kapitäns den Aufprall nicht mehr verhindern kann...