Das große Geschäft mit der Familie
Genealogie im Internet - Ein Markt, der auch für europäische Anbieter große Wachstumschancen beinhaltet
Familienforschung in der traditionellen Form ist aufwändig und teuer. Da müssen Unterlagen bei Gemeinden gesichtet, Archive durchforstet und Kirchenbücher kopiert werden. Natürlich jeweils vor Ort, dort wo die eigenen Ahnen einst gelebt haben. Das kostet Zeit und Geld, denn meistens sind die Vorfahren nicht alle an einem Ort geboren und geblieben. Kein Wunder also, dass das Internet ganz neue Möglichkeiten eröffnet.
Hier sind online Daten und Fakten über die Altvorderen zu finden, und um sie zu bekommen, muss man sich nur an den Computer setzen und lossurfen. Gegenüber der New York Times erläuterte der Präsident der National Genealogical Society Curt Witscher:
Das Internet hat diese Aktivität angetrieben, weil es den Datentransfer und die Zusammenarbeit viel einfacher gemacht hat und auch Recherchen, ohne dass man reisen muss. Es ist phänomenal.
Sehr schnell entstanden Familienforschungsportale, und seit einigen Jahren sind die Angebote immer individueller zugeschnitten. Die User sind bereit, für die maßgeschneiderten Datenpakete zu bezahlen. Die Jahreseinkünfte der Genealogiesites im Netz sind dabei, sich der Grenze von 100 Millionen Dollar zu nähern.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft war früher vor allem das Hobby älterer Tanten, die dann auf Familienfesten alle mit ihren langatmigen Berichten von der schwierigen Zusammenstellung der Stammbäume nervten. Das hat sich grundlegend geändert. Genealogie boomt, Experten schätzen, dass sich allein in den USA 60 Millionen Menschen damit beschäftigen. Familienforschung ist eines der beliebtesten Hobbys der Amerikaner.
Die meist besuchte Familienforschungssite betreibt die Church of Jesus Christ of latter-day saints, besser bekannt als die Mormonen. Diese Sekte hat ein besonderes Interesse an den Vorfahren ihrer Mitglieder, denn die Familie ist ihnen besonders wichtig. Deswegen pflegen sie auch den schönen Brauch, Tote zu taufen. Man kann also mit den Unterlagen seiner verstorbenen Angehörigen, z.B. Urgroßvaters oder Ururgrossmutter ankommen und sie posthum in die Gemeinschaft der Mormonen aufnehmen lassen. Wichtig dafür ist natürlich, alle Angaben über die eigenen Ahnen zu haben. Die Mormonen schlossen also schon früh Verträge mit Archiven in den USA und Europa und sie fotografierten alle alten Personenstandsakten und Pfarrbücher, die sie bekommen konnten. Heute umfasst die Sammlung Hunderttausende mikroverfilmter Dokumente und Datenbanken mit fast 1 Milliarde gespeicherten Personen. Weltweit gibt es ein Netz von mehr als 3000 Forschungsstellen und vor allem die Website Familysearch, die eine der beliebtesten unter den privaten Ahnenforschern ist. Nach eigenen Angaben der Mormonen versuchen in Spitzenzeiten bis zu 50 Millionen Benutzer pro Stunde auf diese Site zuzugreifen. Nicht zuletzt dient diese populäre Internet-Präsenz der Sekte mit Hauptsitz Salt Lake City zur Imageverbesserung und Missionierung. Dank der vielen ehrenamtlichen Helfer der Kirche der Heiligen der Letzten Tage sind die meisten virtuellen Angebote umsonst, nur für einige Software-Programme werden Gebühren erhoben.
Das ist bei kommerziell orientierten Websites anders. Die größte spezialisierte Site in den USA ist Ancestry.com, ein Ableger von MyFamily.com. Sie bietet seit 1997 historische Personendaten, inzwischen für mehr als eine Milliarde Nachnamen. Verschiedene Subskriptionspakete kosten z.B. jährlich zwischen 80 und 190 Dollar. Dafür gibt es Zugang zu den verschiedenen Datenbanken und historischen Zeitungsausgaben. Nach eigenen Angaben der Betreiber gibt es inzwischen 850'000 zahlende Nutzer. Der zweite große US-Anbieter von virtuellen Daten Verstorbener ist Genealogy.com hält sich mit Faktenmaterial sehr viel mehr zurück. Sie geben etwas vage an, mehrere Hunderttausend zahlende User zu haben und zum Umsatz ließen sie nur verlauten, der sei in Ordnung. Neben einem virtuellen Zugang zum Ahnenfriedhof bieten sie ebenfalls verschiedene Datenbankbestände für jährliche Gebühren zwischen 50 und 150 Dollar an.
Natürlich ist die Digitalisierung der Dokumente und Personenangaben enorm aufwändig, aber zunehmend erweist sich dieser bereich als lukrativer Markt, zumal die Nutzer nicht nach kurzer Zeit wieder aussteigen, sondern die Mehrheit den stets wachsenden Datenbestand kontinuierlich durchforsten möchten. Tom Stockham, Chief Executive von MyFamily sieht mit immer mehr internationalen Dokumenten auch stark wachsende Umsatzchancen. Zur New York Times sagte er: “Je mehr Informationen wir unserer Site hinzufügen, umso schwieriger ist es für die Nutzer auszusteigen. (...) In den USA haben wir Respekt vor unseren Vorfahren. In Europa haben die Leute viel mehr Sinn für Geschichte und Abstammung. In Asien werden die Vorfahren verehrt. Es ist ein globales Phänomen."
Ein Markt, der auch für europäische Anbieter große Wachstumschancen beinhaltet und vielleicht nicht leichtfertig an kommerzielle US-Firmen herausgegeben werden sollte.
Entsprechend beginnen selbst die Archive vorsichtiger mit ihren Beständen umzugehen. Die französischen Archive, die in den 80er Jahren ihre Bestände den Mormonen zugänglich machten, protestieren nun dagegen, dass diese Daten über das Internet zugänglich gemacht werden. Die Mikrofiche-Nutzungs-Erlaubnis, die damals erteilt wurde beinhaltet das nicht automatisch, so argumentieren sie und führen Datenschutzbedenken ins Feld.
Eine Studie zur technologischen Transformation der europäischen Kulturinstitutionen, die von der Europäischen Kommission in Auftrag gegeben wurde, kam kürzlich zu dem deutlichen Fazit (Vgl. DigiCULT-Studie):
Im Rahmen des DigiCULT-Projekts wurde eine Fallstudie zur kommerziellen Verwertung von digitalisierten historischen Beständen der öffentlichen Verwaltung und anderen Archivmaterialien durchgeführt. Online-Informationsdienste für Genealogie bzw. Familiengeschichte basierend auf dem Subskriptionsmodell gehören zum viel versprechendsten Marktsegment für diese Materialien. Dieser Markt wird gegenwärtig von den großen US-amerikanischen Akteuren (z.B. Ancestry.com, Genealogy.com) dominiert, die stark expandieren und auch europäische Datenbestände in ihr Informationsangebot integrieren. Europäische Archive sind gegenwärtig dabei, solche Dienste zu entwickeln bzw. auf den Markt zu bringen.
Empfehlung 48: Angesichts der Situation, dass unterschiedliche Institutionen in Europa gegenwärtig Projekte durchführen, um eine Position im Online-Markt für Genealogie zu erringen, ist eine genaue Marktanalyse sowie ein Monitoring zur internationalen und europäischen Entwicklung erforderlich:
-Die Europäische Kommission sollte eine Studie zum europäischen und internationalen Online-Markt für Genealogie veranlassen.
- Um den Genealogie-Markt nicht gänzlich außereuropäischen Akteuren zu überlassen, sollten die Europäische Kommission sowie die nationalen und regionalen Regierungen unterstützende Maßnahmen für den Archivsektor setzen.
-Öffentliche Verwaltungen und Archive sollten ihrerseits die bestehenden Optionen auf dem Genealogie-Markt genau beobachten und mit Blick auf die eigenen Informationsbestände aktiv ihre Position, Strategie sowie vorteilhafte strategische Partnerschaften festlegen.
-Institutionen, die auf diesem Markt aktiv werden wollen, sollten die kritischen Erfolgsfaktoren im Genealogiemarkt genau analysieren und ihre Kompetenzen entsprechend weiter entwickeln. Hierzu gehört insbesondere die Bildung und Unterstützung von Online-Nutzergemeinschaften.