"Das waren keine Jahre des Träumens"

Interview mit dem Philosophen Antonio Negri über 1968 als Vorwegnahme von 1989, die politische Kultur in einem Land der Minderheiten und die Parallelen zwischen Globalisierungskritikern und Frühsozialisten

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Bekannt ist Antonio Negri hierzulande spätestens seit dem Theoriebestseller Empire, den er mit Michael Hardt verfasst hat. In den Jahren um 1968 gehörte Negri als Professor für Politikwissenschaften zu den Köpfen der außerparlamentarischen, undogmatischen Linken Italiens. Gemeinsam mit tausenden seiner Genossen wurde er 1979 verhaftet. Der Justiz galt er als Mittäter bei der Ermordung des Christdemokraten Aldo Moro. Jahre später wurde Negri rehabilitiert. Ab 1983 lebte er im französischen Exil und kehrte 1997 freiwillig nach Italien zurück.

In Deutschland hat man oft den Eindruck, Italien sei heute ein Land, in dem es sehr starke soziale Bewegungen gibt. Gelingt es ihnen, eine gesellschaftliche Debatte anzustoßen?

Antonio Negri: Die Bewegungen sind seit einigen Jahren wieder stärker geworden, sie führen untereinander lebhafte Debatten. Das Problem ist, dass sie die nicht auf die ganze Gesellschaft ausdehnen können – oder wollen. Daher verweigert sich der Rest der Gesellschaft zusehends der Politik: Das „Nein“ zur Politik ist heftig – und es ist gefährlich, weil es die Tür öffnet für das, was die Italiener den „qualunquismo“ nennen, das Denken des Jedermanns, den Poujadismus, die Herrschaft der Vorurteile und des Egoismus. Die Bewegungen müssen sich mehr in die Gesellschaft verbreiten.

Sie meinen, die Aktivisten bleiben zu sehr unter sich.

Antonio Negri: Wie man es nimmt. Der Sozialismus ist Mitte des 19. Jahrhunderts genau so entstanden, und das hat ihn nicht daran gehindert, zunehmend an Einfluss zu gewinnen. Wichtig ist, die demokratischen und kommunistischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft zu legen. Es geht nicht darum, sich lange Märsche durch die Institutionen auszumalen – sondern um die Fähigkeit, aufs Neue die konstituierende Macht auszuüben. Heute hat man gelegentlich den Eindruck, es sei einfacher, das Ende der Welt zu denken als das Ende des Kapitalismus. Aber das ist nicht wahr.

Neue Lebensformen und eine neue Ethik

Kann man die Lage der Globalisierungskritiker tatsächlich mit der Situation der Frühsozialisten vergleichen?

Antonio Negri: Heute entstehen neue Lebensformen und eine neue Ethik. Zudem ändert sich das konzeptionelle Raster grundlegend, mit dem wir das politische Feld bestimmen und analysieren. Die Bewegung hat mit „der Politik“ nichts mehr zu schaffen, aber sie erneuert von Grund auf die Bedeutung des politischen Raumes und das Gesicht der Subjektivitäten, die sich dort engagieren. Die Welle von 1968 ist beendet, doch dafür ist etwas anderes aufgetaucht.

Eine neue Bewegung ist zum Beispiel sehr sichtbar in einem Fall wie dem großen Streik, der kurz vor Weihnachten 1995 für drei Wochen den öffentlichen Nahverkehr in Paris zum Erliegen gebracht hat. Ab Mitte der neunziger Jahre beginnt eine Reihe von Kämpfen und Bewegungen auf weltweiter Ebene, die auf eine andere Art Politik machen. Auf diese Weise konstituiert sich eine neue Linke, im vollständigen Bruch mit den alten Parteien der Linken – bei denen wir heute die Auflösung und die tiefe Krise ermessen können.

Wie verhalten sich die Veränderungen in Lateinamerika zum Aufbau dieser Bewegung?

Antonio Negri: Das ist schwer zu sagen. Dort besteht ein Verhältnis zwischen Arm und Reich, das für Europäer unvorstellbar erscheint. Die Ausbeutung vollzieht sich seit Jahrhunderten schrecklich gewalttätig. Zugleich können wir heute zum ersten Mal an Lateinamerika als einen Kontinent denken, der einen enormen Schritt nach vorn macht – einen Schritt, der uns Europäer fasziniert und zugleich neidisch werden lässt.

Gäbe es nicht die Armut und die tiefe Ungleichheit der wirtschaftlichen Entwicklung, könnten wir heute in Europa über Bolivien sprechen, wie die Aufklärer – von Montesquieu bis Rousseau – über die Schweiz des 18. Jahrhunderts: als Modell der Demokratie. Wir beobachten ein leidenschaftliches und hoffungsvolles Experiment mit einer Form machtvoller direkter Demokratie, in der die sozialen Bewegungen die Funktionen des Staates vollständig durchdringen und sich wiederaneignen. Das ist eine Fabel, kein wissenschaftliches Modell – aber eine sehr schöne Fabel.

Ein für alle Mal Schluss mit den Avantgarden

Heute hat sich meinem Eindruck nach das Verhältnis zwischen Bewegung und Intellektuellen verändert: Die Intellektuellen repräsentieren weniger und partizipieren mehr. Wie sehen Sie das?

Antonio Negri: Wer sind die Intellektuellen von heute? Es gibt „Intellektuelle in Anführungszeichen“, die zur Welt der Macht gehören, die mithelfen, die Ordnung zu bewahren und dabei Klassenprivilegien geltend machen. Aber der intellektuelle Reichtum der lebendigen Arbeit, der sozialen Kooperation und der kollektiven Intelligenz findet sich anderswo – und er ist enorm. Ein Intellektueller ist nicht notwendigerweise ein beglaubigter Experte in der Ordnung des Wissens.

Er ist jemand, der einen Computer bedienen kann, sich in ein Netzwerk begibt und seine Intelligenz zirkulieren lässt; der sich von der Kreativität der anderen nährt, seine eigene Erfindungsgabe zum Gemeinsamen macht, Sprache und Affekte schafft; der die Bedingungen der Wertsteigerung schafft, die heute die des kognitiven Kapitalismus sind. Wenn ich das „intellektuell“ nenne, kann der Intellektuelle von heute nur schwer vom Proletarier von gestern getrennt werden... Die Arbeitskraft ist zum großen Teil kognitiv geworden. Dafür ist ein für alle Mal Schluss mit den Avantgarden – es gibt sie endlich nicht mehr!

Aber es gibt Leute wie Pierre Bourdieu, der eine klassische Rolle gespielt und die Bewegung repräsentiert hat.

Antonio Negri: Ich kannte ihn gut und habe ihn für seine grundlegende Rechtschaffenheit sehr bewundert. Er war nicht verpflichtet, das zu tun, was er 1995 tat, er hatte nichts zu gewinnen. Pierre Bourdieu war ein großer Professor und ein bemerkenswerter Verstand, aber nicht viel mehr. Er hatte niemals die Funktion, die in einer anderen Epoche jemand wie Sartre haben konnte. Selbst als Bourdieu 1995 diese erstaunliche Rede vor den Streikenden an der Gare de Lyon hielt, war das nicht die Rede von jemandem, der die Linien eines politischen Prozesses aufzeigte.

Bourdieu erklärte einfach seine Solidarität: Das ist selten und kostbar, aber das ist nicht wirklich eine politische Geste. Das ist nicht der Intellektuelle, wie ihn uns die sozialistische oder kommunistische Bewegung zeigte. Zugleich ist klar, die politische Funktion des Intellektuellen hat sich mit den siebziger Jahren geändert: Er ist kein Gewissen mehr, das die Massen erleuchtet, er ist zum Aktivisten geworden. Er steht nicht über den Kämpfen, er ist gemeinsam mit anderen einer ihrer Akteure. Er ist eines der Gesichter dieses „Gemeinsamen“, das die kämpfenden Singularitäten erfinden.

Das heißt, Toni Negri ist heute ein Aktivist unter anderen?

Antonio Negri: Ja – tatsächlich war ich nie etwas anderes. Dass man versucht hat, in mir einen „Chef“ oder einen „bösen Meister“ zu sehen, ist ziemlich lustig – mein Traum war vor allen Dingen, ein Aktivist zu sein, und genau das bin ich heute weiterhin.

Das Ende der fordistischen industriellen Welt

Sprechen wir über 1968. In Westdeutschland bestand die Bewegung überwiegend aus Studenten und Schülern. In Frankreich kam es zum Bündnis mit den Arbeitern. Wie war die Situation in Italien?

Antonio Negri: Hier wurde die Bewegung in den fünfziger Jahren vorbereitet. Intellektuelle und Gruppen von Arbeitern begannen, vornehmlich in den großen Fabriken Norditaliens, mit so genannten militanten Untersuchungen – zu Arbeitsrisiken, zur Gesundheit (und der Schädlichkeit bestimmter „chemischer“ Werkstätten), zu den Lebensbedingungen der Arbeiter oder den Löhnen. 1962 entwickelte sich daraus ein großartiger Arbeitskampf in Porto Malghera bei Venedig und ein Jahr später der erste große Streik in der chemischen Industrie.

Die jungen Akademiker, Studenten und Arbeiter gingen kein Bündnis im engeren Sinn ein – sondern sie bauten gemeinsam eine neue Gewerkschaftsbewegung und Basisorganisationen auf. Das wurde 1968 zum ersten Mal sichtbar, dauerte aber mindestens zehn Jahre an, bis 1979. Die Verbindung zwischen Gewerkschaftsbewegung und Intellektellen war sehr tief. Sie führte zur Erneuerung der Organisationsformen der Beschäftigten, die ab 1970 Arbeiterräte in den Fabriken bildeten.

In den Städten gründeten sich selbstverwaltete Stadtteilkomitees, die einen extrem starken Druck auf die Rathäuser, die Parteien und den Staat ausübten. Doch die Arbeiterklasse organisierte sich in dem Moment, als sie dabei war, ihre Hegemonie zu verlieren.

Inwiefern?

Antonio Negri: In den siebziger Jahren wurde eine Reihe von Produktionselementen ausgegliedert. Die gesamte Organisation des Territoriums wurde überdacht, um die Fabriken, die Arbeiter und die Produktion auszulagern und um überall, wo es möglich schien, ein produktives, verstreutes Netz zu schaffen. In den achtziger Jahren entwickelte sich daraus ein ökonomisches Modell.

Das war das Ende einer fordistischen industriellen Welt: Man erkannte die Schwierigkeiten des „expansiven“ Modells des Kapitals, man registrierte die Macht des Arbeiterwiderstands und man formulierte zugleich die Anordnung der Produktion neu. Insofern erschien der bewaffnete Kampf in Italien als verschärfter Widerstand gegen die Abdankung des Fordismus.

Die Roten Brigaden waren sehr stark in den großen Fabriken, wo sich dieser Wandel am deutlichsten und auch am gewalttätigsten zeigte. Sie verstanden nicht, dass diese Neuorganisation des Kapitals andere Horizonte des Kampfes eröffnete – ausgehend von der verstreuten Intelligenz und der sozialen Zusammenarbeit, ausgehend von einer Neudefinition der Arbeiterklasse.

Genau das versuchte die Autonomia Operaia. Ihre Hochburgen waren die Städte, das Wohlfahrtssystem und die Schulen. Und sie organisierte sich in einer kommunistischen Weise, im Netzwerk. Wohlgemerkt: Wenn ich von der Autonomia spreche, möchte ich nicht auf die deutschen „Autonomen“ anspielen, das ist eine ganz andere Sache.

Weil die Autonomia eine breite gesellschaftliche Strömung bildete?

Antonio Negri: Bei diesen gesellschaftlichen Arbeitern setzte die Wende der siebziger Jahre Hoffnungen frei. Es gab eine Innovation von Kampfformen, neue soziale Forderungen, eine beispiellose Art, den Konflikt zu verstehen. Die Massenarbeiter in den Betrieben hingegen leisteten einen sehr starken Widerstand, der sich selbst in die Tradition des Partisanenkampfes stellte, des alten Kommunismus der Dritten Internationale. Wenn man so will: ein Nachhutgefecht. Diese starke Mehrdeutigkeit sah man weder in Frankreich noch in Deutschland.

1968 steht für alles, außer für Jahre der Utopie und des Träumens. Das waren Jahre einer radikalen Transformation der italienischen Gesellschaft, die in vielerlei Hinsicht im Rückstand war und plötzlich die Rolle eines Labors für die kommenden Transformationen spielte.

Extreme Modernisierung

Warum war das Italien der sechziger Jahre im Rückstand?

Antonio Negri: Die Einheit des Landes war während des Faschismus vollständig erschüttert worden, als sie noch neu und zerbrechlich war. Die Resistenza hatte die Teilung in Süden und Norden vertieft. Am Ende des Krieges fühlten sich die Menschen nicht als Mitglieder – oder Bürger – eines vereinten Landes, weder geografisch, noch sozial oder politisch. 1968 entstand erstmals eine Einheit zwischen der Arbeiterklasse des Nordens und des Südens. Das zeigt den Rückstand Italiens gegenüber dem globalen historischen Prozess.

Erst Ende der sechziger Jahre begannen die Leute zu verstehen, was eine Nation ist. Und erst mit dem Fernsehen bedienten sie sich derselben Sprache. Zuvor verstanden ein Venezianer und ein Sizilianer sich nicht, und ich rede nicht nur von unterschiedlichen Kulturen oder Lebensweisen, ich rede von der Sprache: In Italien sprach man in den meisten Familien noch Dialekt. Das Fernsehen führte eine neutrale Sprache ein – die total künstlich war, aber die linguistische Einheit des Landes herstellte. Wenn ich von Rückstand spreche, meine ich also einen Rückstand beim Konsum, dem Humor oder der Bildung. 1968 vollzog sich so gesehen auch eine extreme Modernisierung.

1968 entstand die Einheit des Landes, weil man gemeinsam kämpfte?

Antonio Negri: Das ist offensichtlich. Bis dahin erhielten die Arbeiter in Nord und Süd nicht einmal dasselbe Gehalt. Deshalb kamen die Leute aus dem Süden, um in den Fabriken des Nordens zu arbeiten. In Italien gab es weder eine Bourgeoisie noch eine richtige Aristokratie, die das Land aufgebaut hätten. Italien wurde vom Proletariat aufgebaut. Heute sagt alle Welt: Oh, es ist so furchtbar, was 1968 geschah. Der Papst zum Beispiel verbringt seine Zeit damit, die schrecklichsten Dinge über diese Zeit zu erzählen; es ist als ob 1968 zum Symbol für das Böse geworden sei. In Frankreich richtete Sarkozy einen guten Teil seines Wahlkampfs gegen 1968.

Man könnte brüllen vor lachen – oder über so viel Dummheit weinen. 1968 repräsentiert eine weltweite Veränderung in der Organisation der Produktion. Nicht die Studenten als Personen waren die Akteure, ihre Arbeitskraft war der Einsatz des Spieles. Dazu kam die erste amerikanische Niederlage – in Vietnam – und damit wuchs das Bewusstsein, dass man sich vom Unilateralismus, von der imperialen Herrschaft befreien kann. Zugleich begann jene Krise der Sowjetunion, die sich als die endgültige erweisen sollte.

1968 antizipiert den „Anfang vom Ende“ dessen, was Eric Hobsbawm das „kurze Jahrhundert“ nennt, jenes seltsame 20. Jahrhundert, das 1917 begann, mit der Russischen Revolution, und das 1989 endete, mit dem Fall der Berliner Mauer. Der Beginn von 1989 ist für mich 1968, und wer das nicht verstanden hat, versteht auch nicht viel von der Geschichte des Jahrhunderts, das wir hinter uns gelassen haben.

Scheußliche Geschichten

Die Gründer der Roten Brigaden und andere Linke hielten die Bewaffnung für nötig, weil sie eine autoritäre Transformation des Staates fürchteten wie in Griechenland oder Chile. War die Bewaffnung der Bewegung eine realistische Alternative?

Antonio Negri: Sie war ein Wahnsinn. Glauben Sie nicht, das sei leichtfertig oder begeistert geschehen. Es war ziemlich dramatisch und beängstigend. Die Bewaffnung war in Italien sehr stark mit der Idee der Verteidigung der Fabrik durch die Arbeiter verbunden. Am Anfang handelte es sich, wenn man es genau nimmt, nicht um einen Terrorismus, sondern eher um einen Extremismus. Ein Arbeiterextremismus.

In diesen Jahren begannen die Arbeiter sehr harte Streiks in den Fabriken, und wenn sie versuchten, die Betriebe zu verlassen, kam es vor, dass die Polizei schoss. In Italien tat sie das mit einer gewissen Leichtigkeit! Wir hatten in den Jahren um 1968 nicht einen Benno Ohnesorg wie in Deutschland – wir hatten einen pro Woche.

Außerdem begann die faschistische Rechte mit Verbindungen zur Armee, zu einem korrupten Teil der Geheimdienste und vor allem zu gewissen Mitgliedern der Regierung, Bomben zu legen. Diese Terrorkampagne sollte das Land durch Angst „stabilisieren“ und den Veränderungswillen blockieren.

Der Staatsterrorismus ging dem Terrorismus der Splittergruppen in den bleiernen Jahren voraus. Er begann am 12. Dezember 1969 vor der Mailänder Landwirtschaftsbank: eine Bombe – zahlreiche Tote und Verletzte. Und danach ging es weiter und hörte nicht mehr auf. Alle drei Monate detonierte irgendwo eine Bombe: in Zügen, auf Gewerkschaftsversammlungen, im Bahnhof von Bologna.

Bis heute musste niemand die rechtliche Verantwortung dafür übernehmen. 30 Jahre später, nach unzähligen Untersuchungen und ebenso vielen Prozessen, während man zum großen Teil weiß, wer die Verantwortlichen für diese scheußlichen Geschichten sind, gibt es noch immer keine Verurteilung der politischen Verantwortlichen. Das war der erste Terrorismus in Italien.

Man muss genau wissen, was das ist, die Demokratie

… auf den die Bewegung mit aller Heftigkeit reagierte?

Antonio Negri: Die Arbeiter antworteten mit ihren Mitteln. Sie gruben die alten Stens wieder aus, die Waffen der Resistenza, die amerikanischen Maschinenpistolen der Befreiung, die jeder Partisan noch zuhause hatte, oder die von ihren Kindern als Souvenir, als Reliquie der Geschichte bewahrt wurden. Es war notwendig, dem Recht die Gewalt der Waffen an die Seite zu stellen.

Und es war ein Wahnsinn, weil die Roten Brigaden sich als Avantgarde des Proletariats begriffen. Denn die Arbeiterklasse befand sich in der Defensive: Jedes Jahr gab es Hunderttausende Arbeiter weniger in den Betrieben. Die Roten Brigaden nahmen eine extremistische Position im Inneren der Ideologie der Kommunistischen Partei ein. Die Brigaden und die KP pflegten denselben Diskurs und akzeptierten als Kampffeld nichts als die alten fordistischen Fabriken; beide dachten, man müsse die Arbeiter ausgehend von einer proletarischen Avantgarde organisieren, die den Weg eröffnen soll.

In Westdeutschland spaltete sich die Linke an der Gewaltfrage. Welche Konsequenzen hatte diese Phase in Italien?

Antonio Negri: Ich denke, die Gewalt muss jedes Mal von einem politischen Standpunkt geprüft werden. Ich bin absolut gegen den bewaffneten Kampf. Ich war es in der Vergangenheit, ich bin es heute. Aber ich bin mir der Notwendigkeit des Widerstandes in bestimmten Situationen wohl bewusst.

Gewisse Formen populärer Gewalt sind mitunter wichtig und notwendig. Ich bin soeben von einer Lateinamerikareise zurückgekehrt, während der ich mit vielen Leuten gesprochen habe, die heute an der Macht sind, aber die in Diktaturzeiten zur Guerilla gehörten. Sie haben damals zur Gewalt gegriffen und sie taten recht daran: Das war eine Frage des Überlebens, der politischen Ethik und die einzig mögliche Art zu kämpfen.

Seien wir also vorsichtig, wenn wir von der Gewalt sprechen. Auf die Frage, ob es möglich ist, in einem demokratischen Staat Gewalt anzuwenden, antworte ich selbstverständlich mit Nein. Aber man muss genau wissen, was das ist, die Demokratie. Im Italien der siebziger Jahre war die Demokratie – alles andere als zum Missfallen gewisser Leute – nicht mehr garantiert. Das Wort Demokratie ist leider nicht eindeutig.

Eine Studenten- oder Arbeiterdemo zu organisieren war den Anklägern zufolge das gleiche, wie Aldo Moro zu töten

… wie der Ausnahmezustand in den siebziger Jahren zeigte.

Antonio Negri: In Italien wie in Deutschland wurden die Gesetze in dieser Epoche tief greifend verändert. Ich wurde im April 1979 verhaftet und verbrachte viereinhalb Jahre ohne Prozess in Vorbeugehaft, in Hochsicherheitstrakten. Im Dezember desselben Jahres erließ das italienische Parlament ein Gesetz, das den Autoritäten erlaubte, mich zwölf Jahre vorbeugend im Gefängnis zu behalten. Ich kam nur deshalb frei, weil ich im Juni 1983 zum Abgeordneten gewählt wurde. Der Großteil meiner Genossen saß sechs Jahre – ohne Prozess! Mir konnte man bestimmte Dinge vorwerfen – bestimmt nicht, ein Terrorist zu sein, aber zum Beispiel ein Agitator.

Einige meiner Freunde hatten nur das Unrecht begangen, meine Assistenten an der Universität gewesen zu sein oder zu Zeitschriften beigetragen zu haben, die ich leitete. Fast alle wurden vollständig freigesprochen. Nach sechs Jahren Sondergefängnis erhielten sie nicht die geringste Entschuldigung, geschweige denn eine Entschädigung. Wissen Sie, wie viele Familien oder Paare durch solche Ereignisse zerstört wurden, wie viele Kinder schwere psychologische Störungen erlitten?

Sie selbst wurden mit schweren Anschuldigungen konfrontiert.

Antonio Negri: Man postulierte, die Autonomia und die Roten Brigaden seien dasselbe. Was mich betrifft, hieß das: Toni Negri ist der Chef der Autonomia, also ist der Chef der Roten Brigaden. Nebenbei bemerkt, begegnet mir das heute, dreißig Jahre später, wieder: Man nennt mich weiterhin den heimlichen Kopf der Brigaden, obwohl die Justiz mich vollkommen rein gewaschen hat.

Eine Studenten- oder Arbeiterdemo zu organisieren war den Anklägern zufolge das gleiche, wie Aldo Moro zu töten. Die Demonstrationen waren seinerzeit teils sehr gewalttätig, sogar bewaffnet (die Polizei war auch bewaffnet, und sie schoss in Menschenhöhe, sehen Sie sich bloß einmal an, wie viele Studenten damals bei Demonstrationen getötet wurden). Aber in keinem Fall gingen die Demonstranten zum Terrorismus über, entführten oder ermordeten Menschen.

Genau das behauptete jedoch die Justiz. Man wollte mich sogar am Ort der Entführung Moros erkannt haben (obwohl ich zur fraglichen Zeit in Paris war und eine Vorlesung an der École Normale Supérieure hielt). Man erklärte, meine Stimme sei die des Mannes, der am Telefon mit Moros Familie verhandelt hatte. Man verteilte sogar eine Schallplatte mit einer Aufnahme aus einer Vorlesung von mir und der Stimme des „Telefonisten“ der Roten Brigaden als Beilage einer großen Wochenzeitung. Das sollte zeigen, dass die Stimmen identisch seien. Noch bevor mein Prozess überhaupt begonnen hatte, nannte mich der damalige Staatspräsident Sandro Pertini einen perversen Kriminellen. Und der seinerzeit größte Linguist Italiens erklärte, es handele sich wirklich um meine Stimme. Es bedurfte Gegenexpertisen und vor allem der ersten Aussagen inhaftierter Brigadisten, bis das „Theorem“ Autonomia = Rote Brigaden endlich fiel.

Die Ermittlungen betrieb ausgerechnet ein Staatsanwalt, der Mitglied der KP war. Wie erklären Sie sich das?

Antonio Negri: Der Kommunistischen Partei fehlte die Analysefähigkeit, um zu verstehen, dass die Zusammensetzung der Klassen sich wandelte. Und sie musste sich gegen all die neuen Kräfte verteidigen, die zu ihrer Linken entstanden waren und die Absicht der KP kritisierten, eine Übereinkunft mit den Christdemokraten zu erzielen – den „historischen Kompromiss“ – und an die Regierung zu gelangen.

Die KP hatte in den Kräften zu ihrer Linken stets schlimmere Feinde gesehen als in jenen zu ihrer Rechten. Und so akzeptierte sie – ich denke: sehr bewusst – eine Form der politischen Korruption. Wir wurden erdrückt zwischen der KP, die uns noch mehr hasste als die Christdemokraten, und der extremen Minderheit des bewaffneten Kampfes. So wurden wir zwar geschlagen, aber trotz allem nicht besiegt: Wir behielten recht, was die sozialen und politischen Transformationen betraf, die sich ankündigten – und die damals nur die Sozialistische Partei und die Rechte begriffen.

Und vor allem wurden wir nicht von einer tugendhaften Kraft zermalmt – der Gründerin der Republik, der Seele der Resistenza. Nein, wir wurden von Korrupten geschlagen, die ein vage sozialdemokratisches Zentrum aufbauen wollten, und die dafür das Schlimmste deckten.

Die Passage vom Fordismus zum Postfordismus

In Westdeutschland stellte das Jahr 1977 einen Wendepunkt dar. Die Revolte von 1968 war beendet und zugleich die fordistische Phase, die als Periode des Wohlstands wahrgenommen wurde. War die Situation in Italien 1979 vergleichbar?

Antonio Negri: In den sechziger und siebziger Jahren gelang es den Arbeitern, einen derartigen Teil des „Kuchens“ zu erobern, dass die Reproduktion des Kapitalismus nicht mehr korrekt erfolgen konnte. Ab Mitte der siebziger Jahre begann die große Rückeroberung in der Hand der Neokonservativen. In einem Dokument der Trilateralen Kommission aus jener Zeit wurde explizit gesagt, die Demokratie muss beschränkt werden, wenn die Reproduktion des kapitalistischen Systems schwierig wird.

In dieser Epoche regierten Thatcher in Großbritannien und Reagan in den Vereinigten Staaten, und die Niederlage der Arbeiter nahm ihren Anfang: In England zahlten die Minenarbeiter als erste die Zeche, in den USA die Fluglotsen. Um die Arbeiterklasse zu besiegen, musste also die Produktionsweise geändert werden. Das war die Passage vom Fordismus zum Postfordismus, zur Automatisierung der Fabriken und zur Informatisierung des Territoriums. Das kündigte die Globalisierung an. Darin liegt die Bedeutung von 1968. Man sollte nicht denken, im schönen Monat Mai dieses Jahres habe es nur Cohn-Bendit gegeben und die Mülleimer, die über dem Kopf des Rektors der Universität Nanterre ausgegossen wurden.

Zur gleichen Zeit wurde den Menschen immer mehr bewusst, dass sie etwas anderes fordern konnten, dass die Sklaverei kein Schicksal ist, dass man Rechte, Sehnsüchte und eine Zukunft haben kann. Mein Vater war in der Fabrik, er ist jeden Morgen um fünf Uhr aufgestanden, während seines ganzen Lebens. Und das ist absurd. Wir sollten freier sein. Und reicher. Die Generation von 1968 nahm als erste wahr, dass diese Wünsche erfüllbar sind.

Computer von der Größe eines Hauses, aber keine Pcs

Während die alte Linke keine Antwort auf die Transformation des Kapitalismus wusste?

Antonio Negri: Was in der Sowjetunion passierte, ist unter diesem Gesichtspunkt exemplarisch. Sie hatte Computer von der Größe eines Hauses, aber keine PCs. Sie konnte das verstreute gesellschaftliche Wissen nicht wiedererlangen, es nicht über eine Nutzung der Informatik auffangen, die Netzwerke und Kooperationen schafft. Lange Zeit blieb die Informatik der bewachte Jagdgrund der Militärs und der Zentraladministration.

Aber die Leute wollten Zugang zu dieser Möglichkeit der Kommunikation und der Teilung des Wissens – eine Freiheit, die ihnen die Sowjetunion nicht bewilligen konnte. Die UdSSR ist auch darüber gestürzt. Sie war kein Land, in dem die Akkumulation großartig funktioniert hätte. Sie konnte den Planeten mit extrem mächtigen Bomben zerstören, so viele Menschen auf den Mond schicken, wie sie wollte, aber ihr fehlte die Freiheit. Und die Freiheit ist ein Faktor der Produktivität.

Mit Ihrer Rückkehr aus dem Pariser Exil 1997 wollten Sie eine Amnestie und eine Debatte über die siebziger Jahre anstoßen. Hat es eine solche Debatte gegeben?

Antonio Negri: Nein, es gab keine Debatte. Ich hatte von verschiedenen Politikern aus rechten wie linken Parteien die Zusicherung, man könne über eine politische Amnestie für die bleiernen Jahre debattieren. Als ich wiederkam, war man mitten in der parlamentarischen Debatte, und es gab den nötigen Raum – politisch wie historisch – für eine Verfassungsänderung: Man sprach viel vom Übergang zur II. Republik, von ambitionierten Reformen, von einer gründlichen Veränderung des Landes. In diesem Zusammenhang bestand die Hoffnung auf eine Amnestie.

Aber sie hätte auch einen Blankoscheck für Leute der Rechten bedeutet, die Probleme mit der Justiz hatten – ich spreche nicht von den Faschisten des „schwarzen Terrorismus“, sondern von denjenigen, den man finanzielle Delikte oder Korruption vorwarf, von den Leuten aus der Umgebung der Sozialistischen Partei, die in die "Mani Pulite"-Affäre verwickelt waren und von den Berlusconianern. Daher wurde es unmöglich, überhaupt zu debattieren.

Es ist seltsam, wie eine bestimmte reaktionäre katholische Kultur in Wirklichkeit den zügellosesten Egoismus unterstützt

Wurde in der Gesellschaft oder in den Medien diskutiert?

Antonio Negri: Nein, fast überhaupt nicht. Die Sache wurde beiseite gelegt und dann vergessen.

Warum ?

Antonio Negri: In Italien gibt es generell wenig politische Diskussionen. Ich lebe heute zwischen Italien und Frankreich, und ich muss sagen, die Intensität und die Seriosität, mit der in Frankreich politisch diskutiert wird, lassen keinen Vergleich zu. Ich bin nicht besonders pessimistisch oder nachtragend gegenüber dem, was sich in Italien abspielt, aber das Niveau der politischen Diskussion ist beinahe nicht vorhanden – ausgenommen mitunter auf lokaler Ebene. Italien ist ein Land à la Deleuze, ein Land der Minderheiten, in dem es nicht glückt, die Debatten auf nationaler Ebene zusammen zu fügen.

Man bleibt bei der Anekdote, beim gossip, bei den Skandalen und Sitten-Affären, bei den persönlichen Angriffen, Beleidigungen und Liebschaften. Das ist ein Spiel von Bündnis und Verrat, aber es gibt kaum etwas, was noch an einen Wettstreit der Ideen erinnert, an eine Konfrontation zwischen politischen und gesellschaftlichen Projekten. Das ist ziemlich traurig – selbst wenn es ein großes Kasperletheater ist, und das ist es oft. Es ist komisch, vulgär und traurig zugleich.

Ist das ein Ergebnis der Berlusconi-Zeit?

Antonio Negri: Nein, das wäre zu einfach. Einerseits wurzelt das in einer bestimmten kapitalistischen Organisation der Presse. Italien hat keine unabhängigen Zeitungen. Manchmal regen linke Publikationen Debatten an, aber sie sind oft an Parteien gebunden. Der Großteil der anderen Blätter gehört großen Industriellengruppen oder Banken. Das fördert nicht gerade die Verbreitung von Informationen und die journalistische Intelligenz. Auch das Niveau der universitären Ausbildung ist sehr niedrig. All das heißt nicht, dass die italienische Gesellschaft nicht extrem lebendig wäre; aber auf institutioneller Ebene ist es ziemlich tragisch.

Dort herrscht eine umgekehrte Selektion: Die Schlechtesten regieren, die Ungebildetsten besetzen die Orte des Wissens, und die Presse dient beiden als Echokammer. Zudem bleibt die katholische Kultur sehr stark. In einer bestimmten traditionellen Konzeption des Katholizismus besitzt das gesellschaftliche Leben keine große Bedeutung. Nur die moralische Dimension ist wichtig – und das ist eine private Dimension. Es gibt ein Primat der Moral über die Politik, des Individuellen über das Gemeinsame. Es ist seltsam, wie eine bestimmte reaktionäre katholische Kultur in Wirklichkeit den zügellosesten Egoismus unterstützt...