Debattenkultur, Demokratie und Justiz in der Corona-Krise
Deutschland im Winter-Lockdown. Eine Zwischenbilanz (Teil 4 und Schluss)
Dass die Regierung mit ihren Maßnahmen bei den Betroffenen lauter Gründe für Unzufriedenheit evoziert, ist eine Sache. Und es steht ja auch jedem, der es möchte, frei, sich über die neuesten Erkenntnisse und Auflagen auf dem Laufenden zu halten und seine privaten Auffassungen darüber zu pflegen.
Wie Missmut und Unzufriedenheit sich äußern und was an Kritik allgemein vernehmbar wird, ist allerdings - wie überhaupt in der freiheitlichen Demokratie – eine andere, davon getrennte Angelegenheit, nämlich Sache der Profis der Politisierung sämtlicher Unzufriedenheit.
Teil 1: Pandemie-Politik, Freizeitgestaltung und Konsum [1]
Teil 2: Gelderwerb und medizinische Versorgung im Lockdow [2]
Die maßgeblich vernehmbare Kritik folgt vor allem den Stichworten der Mitregenten plus Opposition, die von der Öffentlichkeit aufgegriffen und unters Volk gebracht werden. Da gibt es etwa die Meinungsverschiedenheiten der Landesfürsten und ihrer Kanzlerin in der Frage, ob der Winter-Lockdown nicht "zu früh" oder "zu spät" kommt bzw. wieder gelockert wird; ob es jetzt nicht "Einheitlichkeit" braucht statt Alleingänge der Länder mit ihrem "Flickenteppich", wobei man durchaus "mit Augenmaß" den ganz unterschiedlichen Situationen von Stuttgart bis Schwerin Rechnung tragen muss, "pauschale Lösungen" von daher ganz unangebracht sind.
Dass sich auf die Art zu Höherem berufene Anwärter auf Machtpositionen rechtzeitig in Szene und zur scheidenden Kanzlerin, nach deren Amt manche von ihnen trachten, ins Verhältnis setzen, wird reihum durchschaut und erfährt eine rege Beteiligung auch seitens der in Bund und Land in den Parlamenten sitzenden oder sogar mitregierenden Parteien von der Linken bis zur AfD, die jeweils ihre Einwände zum Gesamteindruck beisteuern, dass das Seuchenmanagement der Regierung alles Mögliche vergeigt.
Wo bleiben die Masken, Impfstoffe und Schnelltests, die der smarte Unionspolitiker im Gesundheitsamt uns versprochen hat, fragt man sich unisono. Warum zahlt man den Pharmakonzernen nicht so viel Geld, dass ein Mangel an in kurzer Zeit zu produzierenden Impfstoffen gar nicht erst aufkommt, fragt der liberale Kenner des Unternehmergeistes.
Überhaupt, warum hat man nicht vorausschauend im Vorfeld die richtigen Substanzen in ausreichender Menge geordert, statt das Geld für zweitklassige oder verspätete Produkte aus dem Fenster zu schmeißen, fragen progressive Sozialdemokraten. Und warum wird jetzt überhaupt gestritten statt entschlossen gehandelt, fragen die betont sachlichen Grünen.
Der gemeinsame Nenner all dieser Vorwürfe: Die Entwicklung der Corona-Pandemie spricht bruchlos dafür, dass die Regierung ihre Sache schlecht macht. Mit dem unablässigen Bemühen dieses Nachweises zu jeder öffentlich zu ergreifenden Gelegenheit bringen sich die Machtanwärter aus der Opposition in Stellung und betätigen sich zumindest ideell schon mal als die besseren Macher-Naturen.
Noch schwerer als die Fehler der Vergangenheit, die im Nachhinein so schlagend deutlich werden, wiegt, dass die Regierung eine "Perspektive" schuldig bleibt. "Denn wer auf Sicht fährt, stochert im Nebel" (Verena Schäffer, eine Grüne) – wo ist da das Licht am Ende des Tunnels? Wo ist beim "bloßen Reagieren" und ständigen "Herumstolpern" der Plan, der uns sagt, wie und vor allem wann wir aus dem Schlamassel endlich herauskommen?
Warum hält die Regierung beim Weg aus dem Lockdown krampfhaft an starren und immer wieder neu definierten Inzidenz-Zielmarken fest, statt die Lage in ihrer Gesamtheit angemessen und evidenzbasiert zu beurteilen? Warum gibt es anstelle des pauschalen Lockdowns keinen "Schutzschirm für besonders gefährdete Menschen" (Christian Lindner, FDP)?
Ein Handeln "mit Augenmaß", das für die Bürgerinnen und Bürger "nachvollziehbar" ist und "Perspektiven mit Vorsicht" (Markus Söder, CSU) bietet, ohne den Menschen im Land "falsche Hoffnungen" zu machen, darf man sich von der regierenden Mannschaft doch wohl erwarten, hätte man selbst jedenfalls allemal für seine unbedarften Schützlinge im Angebot.
Wer hat die Pandemie im Griff?
Ohne den leisesten Verdacht, es könnte sich um eine Publikumsbeschimpfung handeln, wird im Namen der Betroffenen "Transparenz" eingeklagt, als würde man nicht im Takt der Live-Ticker haarklein über sämtliche Beschlüsse und die Berechnungen der Regierung im Lichte des täglichen Infektionsgeschehens unterrichtet. Indem sie sich absichtlich dumm stellen, fordern die auf Klarsicht erpichten Kritiker, die Regierung möge ihnen doch bitte glaubhaft den Anschein vermitteln, die Pandemie voll im Griff zu haben, am besten, indem sie schon jetzt und immer schön geradeheraus ansagt, was demnächst so alles genau fällig sein wird.
Andernfalls erscheint ihnen das Regierungshandeln einfach nicht souverän. Dass es in der Pandemiebekämpfung ausgerechnet daran mangelt, ist Konsens im Land: ein Fetisch des Erfolgs staatlicher Machtausübung – gerade so, als wäre die Pandemie und ihr Verlauf tatsächlich eine Frage der korrekten Dosis von Gewalt.
Die professionelle Öffentlichkeit macht sich zum Sprachrohr dieser Kritik, lässt Regierung und Opposition ausführlich zu Wort kommen und spürt den präsentierten Vorwürfen nach, indem sie die Glaubwürdigkeit der Kritisierten wie der Kritiker thematisiert. Im Wesentlichen gelangt sie zu den gleichen Vorwürfen, von denen sie aber auch die politische Konkurrenz nicht ausnimmt, wie es sich für eine überparteiliche vierte Gewalt gehört.
Ergänzt um die passenden Storys – Betroffene kommen zu Wort, Politiker sein ist auch nicht leicht, Experten und Besserwisser greifen sich ans Hirn – stachelt sie so die Unzufriedenheit an und bedient sie, indem sie ihr überhaupt ihren entscheidenden, politisierten Inhalt verpasst.
Der wird dem Publikum so lange vorgesagt, bis aus der so konstruierten Echokammer namens "öffentliche Meinung" der Standpunkt des schlecht gelaunten Rechtsbewusstseins beliebig abrufbar herausschallt, auf den sich reihum berufen wird. Wie richtig sie damit liegen, bezeugen die professionellen Meinungsmacher sich und ihrem Publikum mittels Meinungsumfragen mit Ergebnissen des Kalibers "Zunehmend belastend, zunehmend unzufrieden" (ARD-Deutschlandtrend, 21.01.21) oder "Vertrauen in Krisenkompetenz der Regierung sinkt deutlich" (Spiegel Online, 22.2.21), die in ihrer nackten Abstraktheit eines Grades von Satisfaktion dieses Bewusstsein treffend fassen und bedienen.
Die Regierung reagiert auf diese Kritik
Erstens und hauptsächlich dadurch, dass sie sie erlaubt. Es herrscht schließlich Meinungsfreiheit, und von der sind Auffassungen des Kalibers, dass Corona "voll scheiße" ist und dass die Politiker sich in ihrem Krisenmanagement als Flachpfeifen outen, allemal gedeckt. Die Kehrseite dieser hoheitlichen Lizenz zur Kritik: Wie bei jeder staatlichen Erlaubnis ist mit der Ermächtigung des Bürgers die Schranke seiner Lizenz gleich mitdefiniert.
Vielleicht nicht gleich verboten, aber definitiv unerwünscht ist das offensiv betätigte Missverständnis wachsender Volksteile, die ihnen gewährte Freiheit zur Bestreitung des Lebenskampfes in der Konkurrenz sei ein Freibrief zum in demonstrativer Unvernunft ausgelebten Querulantentum gegenüber der Regierung.
Deren Schutzmaßnahmen empfinden diese Freiheitsritter als eine einzige Gängelung, als "Maulkorb", mit dem die Regierung die, die sie verrät, auch noch zum Schweigen bringen will. Ihr Recht auf Rede- und Meinungsfreiheit nutzen sie daher am liebsten dafür, sich lauthals darüber zu beschweren, dass die Regierung es ihnen wegnimmt.
Gegenüber solch unliebsamen Standpunkten schlägt das demokratische Instrument der Ächtung zu, durch das derartig verhaltensauffällige Minderheitenmeinungen – am leichtesten dann, wenn patriotisch absolut unangemessene Figuren und Symbole des Rechtsradikalismus in ihren Reihen identifizierbar werden – zurückgewiesen werden, ohne sich mit irgendwelchen Argumenten aufzuhalten. Das ist in einer Hinsicht auch nur gerecht: Wenn die Obrigkeit den Protestierern mit der Zumutung kommt, "auf die Wissenschaft zu hören", dann lassen diese ihre Herrschaft spüren, dass sie bei "Argument" immer und prinzipiell nur "Gewalt" denken - so wie die Hoheit selbst!
Alles in allem eine schöne Lektion bezüglich des Nennwerts des von allen Volkserziehern bis hinauf zum Bundespräsidenten heftig beschworenen demokratischen Diskurses.
Zweitens mit einer Tirade an Rechtfertigungen, die auf jeder Pressekonferenz wiederholt werden. In der Sache hängt davon – wie gesagt – zwar nichts ab, aber die Berufung auf die jeweils passenden wissenschaftlichen Expertenmeinungen für alles, was sie aus den disjunkten Ratschlägen epidemiologischer, pädiatrischer, volkswirtschaftlicher usw. Provenienz folgen lässt, lässt die Politik sich nicht entgehen.
So adelt die wissenschaftliche Vernunft das Regierungshandwerk und verleiht der Exekution politischer Gewalt den Anschein von Rationalität; und den gewählten Amtsträgern die Autorität, die die Öffentlichkeit der Wissenschaft zuschreibt, gerade so, als wäre Macht die Ausübung von Sachverstand. Vielleicht noch wichtiger als die Berufung auf den Verstand ist das von demokratischer Reife zeugende Mittel der Selbstkritik, wozu die Regierenden den gegen sie erhobenen Vorwurf der mangelnden Transparenz dankbar aufgreifen.
Verständnis für den ganzen Unmut haben sie ja ohnehin, ihn aber eben eventuell auch ein bisschen mitverschuldet, wenn sie "nicht immer alle Probleme deutlich genug angesprochen" haben, über die sie genau wissen, "wie schwer es für die Menschen ist".
Deswegen machen sie es sich in ihrer Regierungsverantwortung mit ihren harten Entscheidungen - deren Härte spricht für ihre Notwendigkeit - ja auch nicht leicht. Daraus folgt zweierlei: Erstens, dass diejenigen, die so schwer an ihrer Verantwortung tragen und so viel Verständnis für "die Nöte der Menschen" aufbringen, ihrerseits Verständnis für das, was sie verordnen, auch allemal verlangen können. Denn zweitens beweisen sie sich und ihrem Publikum mit dem selbstkritischen Vorwurf, schlecht kommuniziert zu haben, doch gerade, wie richtig sie in der Sache liegen und wie glaubwürdig ihre Politik deswegen ist.
Die Rolle der Justiz: Formvollendung der Corona-Politik durch rechtsstaatlichen Konservativismus
Immer wieder gibt es Bürger, die ihr gekränktes Rechtsbewusstsein wichtig genug nehmen, um aus dem praktisch folgenlosen, daher trostlosen Geschäft des Kritisierens im demokratischen Dialog auszubrechen und den Weg einzuschlagen, der der Unzufriedenheit im Rechtsstaat offensteht, wenn sie praktisch etwas bewirken will: Sie können von höchster Stelle überprüfen lassen, ob sie sich zu Recht im Recht sehen.
Auf dem Weg der Verwaltungsgerichtsbarkeit treffen sie auf Bedenkenträger der staatlichen Institutionen, vor allem auf im oppositionellen Geiste agierende Politiker, die ihren Regierungskollegen nicht alles durchgehen lassen wollen, was sie für notorisches Unrecht erachten.
Die da ablaufende Musterung trennt sich freilich von den Argumenten und Überzeugungen des Klägers und hat ihrerseits mit Vernunft so wenig zu schaffen wie die von der Regierung verhängten und nun hinterfragten Einschränkungen und Vorschriften selbst. Standhalten müssen die einer Überprüfung anderer Art: Es geht um deren Legitimität, die streng entlang der Frage ausgemacht wird, ob die verhängten Maßregeln mit der freiheitlichen Räson staatlicher Machtausübung, die dieser Staat sich gegeben hat, kompatibel und deren Einschränkungen im Sinne einer Güterabwägung zwischen allerlei Rechtsgütern von der volksgesundheitlichen Unversehrtheit über die freie Persönlichkeitsentfaltung bis hin zum Wert des privaten Eigentums "verhältnismäßig" sind.
Die Politik wird hier beweispflichtig gemacht, es müssen schon außerordentlich gute Gründe für das Einschränken der Freiheit des Konkurrenzsubjekts und dessen Privatmaterialismus vorliegen. Der demokratische Rechtsstaat verspricht: Andernfalls muss sich kein Bürger von planerischen Eingriffen des Staates in seiner Freiheit, sich nach der Decke zu strecken und sich als Belohnung beim Wochenendausflug anzustecken, bevormunden lassen.
Die Regierung findet ihrerseits einen konstruktiven Umgang mit den Eingaben der Justiz: Sie lässt sich die Vorschriften, die von Gerichten kassiert werden, zurückreichen und bessert dann eben im ihr vorgegebenen Sinne nach: Einmal verhängte Verbote, die sich vor Gericht als nicht haltbar erwiesen haben, werden zum Teil wieder verworfen – siehe Beherbergungsverbote, Einschränkungen des Bewegungsradius –, in anderen Fällen wird hinsichtlich einer rechtssicheren Begründung der verfügten Vorschriften nachgebessert.
Die Regierung lässt sich von der Justiz auftragen und kümmert sich darum, ihre Corona-Rechtsverordnungen rechtzeitig in ordentliche Gesetzesform zu bringen, weil die Legitimität der angesetzten Maßnahmen wesentlich vom Formalismus des gesetzgebenden Verfahrens und dessen Einhaltung abhängt.
Dem Parlament kommt dabei eine wichtige Rolle zu, die zuletzt bei der Verabschiedung des für die Gerichtsfestigkeit der Corona-Maßnahmen für dringend notwendig befundenen Infektionsschutzgesetzes prominent zum Thema gemacht wurde. Da sahen Öffentlichkeit und Teile der Opposition das Parlament zum Abnicker einer "Speed-Gesetzgebung" (RedaktionsNetzwerk Deutschland) degradiert und um sein Recht auf Mitsprache betrogen.
In der ventilierten Sorge, die Vernachlässigung der guten Debattenkultur, die sich für unsere "demokratische Diskursanstalt" gehört, könne am Ende Akzeptanz und Vertrauen des Volkes in die Regierung und ihre Maßnahmen kosten, wird deutlich, worin die staatsnützliche Rolle der ehrenwerten höchsten Diskussionsplattform der bundesdeutschen Demokratie besteht.
Am Ende der leidenschaftlichen Debatte steht ein Gesetz als die Formvollendung staatlichen Handelns gemäß allgemeingültigen Verfügungen, die ebendeswegen in Ordnung gehen, das heißt Akzeptanz gerechterweise auch verlangen können, weil sie den Willen des Volkes repräsentieren.
Schließlich wurden sie nach dem Mehrheitsprinzip von gewählten Volksvertretern verabschiedet. Ein Recht der Regierung auf Zustimmung, das gerne als das Recht des Volkes ausgedrückt wird. Auf die Einhaltung dieses nützlichen Verfahrens auch in schweren Zeiten legt die Justiz die Regierung fest.
Die Leistung der Justiz für die Politik und ihre hoheitlichen Beschlüsse ist also eine doppelte: Zum einen, das ist die formelle Seite des Rechtsstaatsprinzips, steht mit dem Ergebnis der "Legitimitätsprüfung" für alle Maßnahmen, die den ultimativen Test bestehen, verbindlich fest, dass sie in Ordnung gehen und dass Einsprüche dagegen definitiv im Unrecht sind; sie hatten ja ihre Gelegenheit, sich vorzutragen, und sind von unabhängiger Stelle entsprechend eingeordnet worden.
Zum anderen, das ist die Leistung des freiheitlichen Inhalts der bürgerlichen Rechtsordnung, legt die Justiz die Regierungsmaßnahmen – qua anlassbezogener Einzelfallprüfung – insgesamt auf deren Kompatibilität mit der freiheitlich-marktwirtschaftlichen Räson fest.
Mit diesem rechtsstaatlichen Konservativismus ist auch im Krisenfall einer Pandemie dafür gesorgt, dass sich planwirtschaftliche Eingriffe der Hoheit im Namen seuchenpolitischer Vernunft im Rahmen halten und der Kapitalismus unter seiner Einschränkung nicht leidet. Beide Seiten zusammengenommen ergeben dann die ultimative Antwort auf die Frage aller Fragen an die Corona-Politik, ob "die das dürfen".
Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt, in deren aktueller Ausgabe [4] dieser Artikel ebenfalls erschienen ist.
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[3] https://www.heise.de/tp/article/Lehren-aus-der-Pandemie-ueber-Schule-und-Familie-5991366.html
[4] https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/deutschland-winter-lockdown
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