Defekte Demokratie?

Fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sind mit dem Angebot bei Wahlen nicht wirklich zufrieden. Symbolbild: Michael Schwarzenberger auf Pixabay (Public Domain)

Nur eine Minderheit vertraut politischen Parteien. Medien diagnostizieren deren Verfall, wenn ein Vorsitzender keine DDR-Mehrheit erhält. Hier liegt ein Missverständnis vor.

Funktioniert das demokratische System in Deutschland und in den anderen Ländern des Westens, die sich gerne demokratisch nennen? Die meisten Menschen in diesen Ländern würden diese Frage gegenwärtig wohl spontan negativ beantworten.

Laut dem Standard Eurobarometer der Europäischen Kommission hatten im Winter 2022/2023 nur rund 30 Prozent der Bevölkerung Vertrauen in die politischen Parteien in Deutschland. 64 Prozent gaben an, dass sie den politischen Parteien eher nicht vertrauen.

Die Gründe dafür dürften aber sehr unterschiedlich sein. In manchen Fällen basieren sie womöglich auch auf Missverständnissen über das Funktionieren einer modernen Demokratie.

Demokratie ist die Herrschaft des Volkes, so heißt es. Viele meinen schon deshalb, dass das politische System kaputt sei, weil die Politik ja offenbar nicht das macht, was das Volk will. Darin sind sich die Aktivisten der "Letzten Generation" letztendlich einig mit den Landwirten, den Hausbesitzern, die jetzt ihr Eigenheim sanieren sollen, und den Autofahrern, die sich vor einem Tempolimit fürchten.

Selbstverständlich hält sich jeder irgendwie für das Volk, für die Mehrheit in diesem Volk jedenfalls. Genau genommen kann "das Volk" aber in einer modernen Gesellschaft gar nicht herrschen, weil es gar kein Volk gibt, das einen klaren Willen hätte, dem zur Herrschaft verholfen werden müsste.

Demokratie kaputt?

Dass die Demokratie kaputt ist, machen viele zudem daran fest, dass immer die falschen Leute an der Macht sind: Sie haben keine Ahnung von dem, was sie entscheiden sollen, zudem sind sie mehr oder weniger korrupt und schieben sich gegenseitig entsprechend ihrer Vorlieben die Posten zu.

Womöglich ist das gar nicht mal falsch, aber es ist eigentlich nicht das Problem. Die moderne Demokratie, die man vielleicht lieber eine demokratisch legitimierte Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) nennen sollte, basiert genau darauf, die zwei genannten Defekte als gegeben hinzunehmen und ein politisches System zu etablieren, das dennoch, oder sogar genau deshalb, funktioniert.

Das eine ist, dass sich die Bevölkerung eines modernen Staates nicht nur niemals auf einen Volkswillen einigen könnte, weil die Positionen, Lebensbedingungen und Ziele einfach viel zu unterschiedlich sind, sondern dass die meisten von uns sich eigentlich auch gar nicht an den politischen Aushandlungsprozessen beteiligen wollen.

Die Behauptung, dass der Mensch ein Zoon Politicon wäre, ein politisches Wesen, ist ein Traum einiger Gesellschaftstheoretiker, der mit der Realität nichts zu tun hat. Die meisten von uns wollen ihre Lebenszeit nicht mit politischen Problemen und Diskussionen verschwenden, und das ist auch völlig in Ordnung, weil es so viel anderes gibt, was ein schönes Leben ausmacht.

Und es war auch nie eine gute Idee, zu behaupten, wir alle müssten unser Leben einem großen politischen Ziel unterordnen oder widmen – die Gesellschaften, die alles politisieren wollten und von den Menschen verlangten, sich für politische Ziele zu engagieren, waren am Ende immer Diktaturen.

Moderne Demokratie, das heißt zunächst, dass wir die Freiheit haben, die politischen Dinge denen zu überlassen, die Lust darauf haben, politische Dinge zu gestalten – dass wir allerdings auch immer die Option haben, uns so weit in die Politik einzubringen, wie wir wollen.

Der eine hat gar keine Lust auf Politik und schimpft höchstens mal unter Bekannten über die Regierung, die nächste ist zufrieden damit, ab und an zur Wahl zu gehen, andere machen nach Feierabend ein bisschen Parteipolitik oder engagieren sich in der Zivilgesellschaft, und wieder andere wollen richtig mitbestimmen in Parlamenten und Regierungen.

Die moderne Demokratie schreibt da nichts vor und akzeptiert jede Entscheidung. Umgekehrt muss natürlich auch jeder akzeptieren, dass die Leute, die dann Politik machen wollen, vielleicht nicht genau die sind, die er sich wünschen würde – und dass sie im konkreten Fall eben das tun, was sie für richtig halten, und nicht das, was man sich als "Volk" wünschen würde.

Dass die Wenigen, die in irgendeiner Form Politik machen wollen, dann dennoch nicht nur an sich, sondern an alle Belange der Gesellschaft denken, und dass sich nicht allmählich aus der freiheitlichen Gesellschaft eine Diktatur entwickeln kann, dafür sollen die guten alten Ideen der Gewaltenteilung sorgen. Und hier liegt es tatsächlich im Argen – allerdings aus anderen Gründen als oft angenommen.

Gewaltenteilung meint eigentlich eine Aufgabenteilung, die dazu führt, dass sich die politische Macht nicht auf ganz wenige konzentrieren kann, sondern immer auf die nicht ganz so wenigen verteilt, die am politischen Prozess teilhaben wollen.

Die wichtigste Teilung ist zunächst die zwischen Legislative und Exekutive, es gibt aber neben der dritten Gewalt, der Rechtsprechung, auch noch Aufteilungen zwischen der Zentralregierung und den regionalen und kommunalen politischen Kräften und andere.

Um all die ist es hierzulande ziemlich schlecht bestellt, und das ist weniger von den politischen Kräften gewollt, auch wenn einige davon profitieren, als vielmehr gerade vom Volk, von der Öffentlichkeit und von den Medien, die gerne als "vierte Gewalt" bezeichnet werden.

Die Machtpyramide

Vereinfacht gesagt, gibt es in Deutschland kaum noch eine funktionierende Gewaltenteilung, sondern eine Machtpyramide. Schauen wir zunächst auf die Bundespolitik. Die Macht ist nicht ausbalanciert zwischen Bundestag und Bundesregierung, vielmehr finden wir in der Machtpyramide eine ziemlich klare Hierarchie: An der Spitze steht der Bundeskanzler, dann kommen seine Minister, denen die Ministerien zur Seite stehen.

Ihre Macht ist fundiert in den Bundestagsfraktionen der Regierungskoalition, die sich wiederum auf die breite Basis der Parteisoldaten stützen können.

Das ist ein etwas vereinfachtes Bild, aber dazu später mehr. Das Problem ist, dass es einen breiten Konsens in der Öffentlichkeit, im Alltag der unpolitischen Bürger und in den Medien gibt, dass das so auch in Ordnung sei. Regelmäßig liest man, dass der Kanzler Führungsstärke zeigen soll, dass er seine Minister, dass die Regierung insgesamt ihre Fraktionen im Griff haben sollen, dass die Fraktionschefs für Disziplin sorgen sollen.

Es wird als Schwäche und Unfähigkeit des "Führungspersonals" hingestellt, wenn Parlamentarier sich nicht diszipliniert an die "Abmachungen" der kleinen Zirkel aus Ministern, Koalitionsausschuss und Fraktionsführung halten.

Auch die Parteimitglieder an der Basis sollen weitgehend diszipliniert sein. Wenn ein Parteivorsitzender keine Mehrheit erhält, die an DDR-Volkskammerergebnisse denken lässt, räsonieren die Medien über eine Schwäche der Partei und diagnostizieren den Verfall von Volksparteien.

Kompromiss und Interessenausgleich sind vielen suspekt

Alle wollen eine starke Führung – und das ist sogar verständlich, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen eben nicht viel mit Politik zu tun haben wollen.

Sie wollen einfach, dass es läuft, und zwar reibungslos und zügig: Problem erkannt, Problem gebannt. Lange Diskussionen, Verhandlungen, Interessenausgleich, Kompromissfindung – das ist vielen suspekt. Deshalb verachten viele auch das Parlament, insbesondere, wenn es ewig diskutiert und nicht rasch entscheidet.

Diese Einstellung, die alle politischen Diskussionen – von Familien über "soziale Medien", bis hin zu Zeitungen und Talkshows – bestimmt, schadet der Demokratie weit mehr als die Inkompetenz und Eigennützigkeit der Politiker und die Diskrepanz zwischen dem, was Politiker tun, und dem, was "das Volk" angeblich will.

Denn es konzentriert am Ende die Macht eben bei ganz wenigen an der Spitze der Machtpyramide, die dann ziemlich lange das tun können, was sie gerade für richtig halten, ohne sich um den Interessenausgleich mit allen politischen Kräften kümmern zu müssen.

Und da kann eine Koalition eben viel Schaden anrichten – zumal, wenn es ihr gelingt, länger als eine Legislaturperiode an der Macht zu bleiben, indem sie sich als führungsstark in schweren Zeiten inszeniert.

Mögliche Auswege

Das führt dann aber dazu, dass das Land sich zu lange in eine Richtung entwickelt, die für viele am Ende doch nicht akzeptabel ist – der soziale Frieden geht in die Brüche und die Stabilität des ganzen Systems gerät in Gefahr. Was ist zu tun? Den Ausweg findet man, wenn man bedenkt, dass das Bild der Machtpyramide natürlich eine holzschnittartige Überzeichnung ist.

Beginnen wir an der Basis: Die Mitglieder der Parteiorganisationen vor Ort sind mitnichten nur Soldaten, sie sind zugleich Arbeitskollegen und Familienmitglieder und spüren die Unzufriedenheit unter den Leuten. Diese müssen sie in ihre Parteien hineintragen – das ist ja zugleich im Ursprung die Funktion der Parteien, deshalb leisten wir uns diese Organisationen.

Die Machtpyramide wird auf diese Weise von unten immer wieder aufgelockert und erschüttert – und das ist sicher in einem größeren Maß notwendig, als es heute üblich ist.

Parteimitglieder dürfen ihre politischen Vorstellungen nicht nur aus den Programmen herauslesen und nach außen tragen, wenn sie auf den Wahlkampfständen stehen, sie müssen das, was die Leute draußen bewegt, auch nach innen tragen. Und sie müssen die Persönlichkeiten auf ihre Listen für die Wahlen setzen, die sie für widerspenstig genug halten, den Fraktionsspitzen Paroli zu bieten.

Hier tut sich allerdings ein großes Problem auf. Wer es in einer Partei zu etwas bringen will, will meist durch die Legislative in die Exekutive, man will erst Abgeordneter werden, um später vielleicht Staatssekretär oder Minister zu werden.

Besser wäre, wenn sich viele aus dem politischen Personal ausschließlich fürs Parlament entscheiden würden und nicht auf den Regierungsposten schielten – dazu müssten diese Postionen aber vor allem in der Öffentlichkeit mehr wert sein. Dann könnten sich eigenständige Querköpfe im Parlament etablieren – auch hier sind Öffentlichkeit und Medien gefragt.

In den Medien und in der öffentlichen Wahrnehmung müsste die kontroverse Bundestagsdebatte eine viel größere, positive Rolle erhalten. Wir müssen fordern und erwarten, dass das Parlament sich mit den großen Fragen der Gesellschaft: Klima, Infektionsschutz, militärische Sicherheit, Fachkräftemangel in großen Debatten beschäftigt, aus denen dann, für alle sichtbar, Gesetzesvorlagen erst entstehen.

Das Parlament darf sich die Gesetzesinitiative nicht letztlich von Ministerialbeamten aus der Hand nehmen lassen und sich nicht mit Klein-Klein-Abstimmungen beschäftigen lassen.

Schließlich spielt auch die Gewaltenteilung zwischen Zentrale und Regionen, in unserem Fall also zwischen Bund und Ländern, eine wichtige Rolle, wenn es um Interessenausgleich geht. Auch hier spielt die öffentliche Meinung eine fatale Rolle: Viel zu oft wird es als "Flickenteppich" diffamiert, wenn Bundesländer ihr eigenes Ding machen wollen.

Das nützt am Ende nicht der guten Lösung, sondern der Stärkung der Machtpyramide. Dazu kommt, dass auch Landespolitiker die Regionalpolitik oft nur als Durchgangsstation zu "höherem" – zu einem Platz am Kabinettstisch in Berlin – ansehen. Auch hier wäre ein Umdenken in der öffentlichen Wahrnehmung ein erster Schritt.

Ob es realistisch ist, das demokratische System auf diese Weise wieder in Ordnung zu bringen, ist eine offene Frage, die nicht beantwortet werden kann. Aber sie muss weiter diskutiert werden, und wir müssen die Probleme an den richtigen Stellen identifizieren.

Dann wird vielleicht nicht alles gut, aber die Demokratie geht auch nicht völlig vor die Hunde. Und vielleicht ist das ja auch das Schicksal dieser Herrschaftsform, dass sie eigentlich immer so aussieht, als ob sie nicht richtig rund läuft, aber gerade dadurch langfristig besser ist als alle anderen.