Deglobalisierung

Seite 2: Missverständnisse über die Deglobalisierung

Den Weg der Deglobalisierung gilt es abzugrenzen gegen Versuche, die Globalisierung gerecht zu gestalten einerseits, Strategien der Lokalisierung andererseits. "Während die 'Gerecht Gestalten'-Strategie die Dynamik der Globalisierung stärkt, indem sie sie reformieren will, erliegt die Lokalisierungsstrategie der Gefahr einer Nischenpolitik ohne durchgreifende Wirkung."13

In der Konkretisierung dieser Deglobalisierung ist zu unterscheiden zwischen "passiv" zu unterlassenden Maßnahmen und aktiven Schritten hin zu einer regionalen Orientierung. Zu unterlassende Maßnahmen sind z. B. die Exportförderung (Agrarsubventionen, Hermesbürgschaften, Flug- und Schiffstreibstoffsubventionierung u.a.) und die Förderung Transnationaler Konzerne. Aktive Maßnahmen orientieren sich daran, dezentrale Wirtschaftsstrukturen aufzubauen - von der Energieversorgung bis zum ökologischen Landbau, langlebige Produkte zu fördern und eine die Reduktion von Rohstoffimporten ermöglichende Recyclingwirtschaft.

Diese Perspektive ist abzugrenzen von illusionären Plädoyers für "small is beautiful" und "Eigenproduktion" inklusive illusionären Erwartungen an den 3D-Drucker. (Vgl. zu diesen drei Themen Creydt 201814). Holger Görg, Leiter des Forschungszentrums Internationale Arbeitsteilung am Institut für Weltwirtschaft Kiel, weist hin auf den Adidas-Konzern, der "den 3D-Druck-Versuch mit einem Turnschuhmodell nach kurzer Zeit einstellte. 'Die Möglichkeiten technologischer Entwicklung sind da, aber beim Ausschöpfen sprechen wir eher von Dekaden' (Görg15)."16

Notwendige Bedingung für das Primat der Binnenwirtschaft ist nicht die Abkopplung vom weiterhin dominanten Weltmarkt, sondern dessen Überwindung durch die Konzentration v. a. auch der wirtschaftlich am meisten entwickelten Länder auf die Binnenwirtschaft. Insofern ist es eine Themaverfehlung, die Deglobalisierung mit den bisherigen Versuchen nationaler Abschottung gegenüber dem Weltmarkt zu delegitimieren. Diese Versuche betrafen bislang ökonomisch unterlegene Regionen zu Zeiten einer Koexistenz von Wirtschaftsstrukturen, die einander gegenseitig ausschlossen.

Der "freie Westen" hat sich nicht damit abgefunden, dass ein Teil der Erde kapitalistischen Imperativen entzogen war. Zu den eigenen Problemen der Wirtschaft im Ostblock kam der ihm aufgezwungene militärischen Wettbewerb hinzu. Mithalten zu können auf dem Gebiet militärisch anspruchsvoller Technologien forderte der Sowjetunion und ihren Verbündeten einen Reichtumstransfer in den Rüstungsbereich ab, der überproportional größer war als im ökonomisch stärkeren Westen.

Das Primat der Binnenwirtschaft und die gesellschaftliche Selbstgestaltung in einem bestimmten Raum können allein resultieren aus konvergierenden Prozessen, die die Mehrheit der ökonomisch führenden Nationen ergreifen.

Deglobalisierung ist kein Spaziergang

In Bezug auf eine Deglobalisierung stellt sich das Problem der Abhängigkeit je nach Bereich auf unterschiedliche Weise. In Bezug auf die Arzneimittelproduktion wurde manchen erst anlässlich der Covid-Seuche bewusst, dass z. B. ein großer Teil von Generika, also Nachahmungsprodukten von teuren Originalprodukten, in China hergestellt werden. Das lässt sich im Rahmen einer Deglobalisierung vergleichsweise leicht korrigieren.

Gesa Busch vom Fachbereich Agrarökonomie der Uni Göttingen betont in Bezug auf den Lebensmittelbereich: Würde man sich auf Waren aus regionalem Anbau beschränken, so gäbe es weniger Auswahl bei Obst und Gemüse. "'Mit der aktuellen Marktstruktur wäre auf keinen Fall eine größere Änderung zu Gunsten von mehr Regionalisierung möglich.' (Busch). Anbieter mit regionalen Vermarktungsstrukturen seien oft schon gut ausgelastet und könnten ein mehr an Nachfrage gar nicht decken."17

Die - faktisch brisantere - Abhängigkeit von Rohstoffen, die es exklusiv in bestimmten Weltgegenden gibt, fordert Forschungs- und Entwicklungsarbeiten heraus. Sie sollen den Ersatz dieser Stoffe ermöglichen. Kommt es dazu, verringert sich deren Import und Export massiv. Sollte die Abhängigkeit von wenigen fremden Rohstoffen fortbestehen, so unterscheidet sich der diesbezüglich notwendig bleibende Außenhandel ums Ganze vom gegenwärtigen Zustand: Unter der Herrschaft des Weltmarkts besteht flächendeckender Zwang zu Export und Import. Arme Länder müssen um jeden Preis exportieren. Und die Exportweltmeister wie Deutschland machen das Gelingen ihrer Wirtschaft von der anspruchsvollen Voraussetzung abhängig, dass auch in Zukunft deutsche Maschinen und hochwertige Autos nahezu konkurrenzlos bleiben.

Sich den großen Aufwand zu vergegenwärtigen, den eine Deglobalisierung erforderlich macht, spricht weniger gegen diese Veränderung als gegen weit verbreitete Denkfehler. Wer unter gutem Leben täglich frische Schnittblumen aus Lateinamerika und exotisches Obst versteht und diese Auswahlfreiheit als Moment seiner Vorstellung von postmoderner Vielfalt begrüßt, gewichtet auf recht spezielle Art zwischen den Vorteilen dieser Form von Genuss und den negativen Auswirkungen des Weltmarkts. Viele verdrängen, dass die Ausweitung des internationalen Angebots von zu konsumierendem Obst einherging mit der Verringerung der Vielfalt einheimischer Obstsorten.

Wer nicht mehr die Geschmacksunterschiede zwischen den verschiedenen einheimischen deutschen Apfelsorten genossen hat, für den ist die Wahrnehmung des Verlustes schwierig. Die Fixierung auf die Sorge, bei massiver Reduktion internationaler Lieferketten würden manche Produkte teurer, sieht von der positiven Entwicklung der Lebensqualität ab, die durch einen Rückbau des Weltmarkts möglich wird.

Kosmopolitische Mentalitäten

Wer angesichts der Perspektive der skizzierten Deglobalisierung Provinzialismus assoziiert, verkennt, dass nicht Kleinstaaterei, sondern das Primat der Selbstversorgung in Wirtschaftsräumen gemeint ist, die mehrere Länder umfassen. Es geht darum, das Überbietungsrennen zwischen Ökonomien durch starke Ausdünnung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen größeren Räumen, die intern stark vernetzt sind, zu beenden.

Dem in Gegenfixierung auf den Provinzialismus sich definierenden Kosmopolitismus fehlt das Bewusstsein für die Grenzen der von ihm favorisierten Raumordnung. "Das Entfernteste rückt näher, um den Preis, die Distanz zum Näheren zu erweitern."18 "Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe."19 Über die Schauspielerin Sophie von Kessel heißt es: "Mexiko, Finnland, Österreich, USA: Wer seine Kindheit (in diesem Fall als Tochter eines Diplomaten) an so vielen Orten absolviert, für den ist Vielseitigkeit Programm. 'Ich kenne kein Heimatgefühl, vermisse es auch nicht. Das macht mich flexibel', bringt es die stilvolle Aktrice auf den Punkt."20

Die kosmopolitische Mobilität verstärkt die Ortlosigkeit und das "raumlose Überall"21. Für immer mehr Kosmopoliten gibt es nurmehr zeitweilige Durchgangsstationen. Einheimisch sind sie vor allem auf den Flugplätzen. Der beständige Ortswechsel untergräbt die lokale Verankerung und soziale Assoziation von Menschen. Sie kommen nicht auf die Idee, sich vor Ort zu engagieren.

Einzutreten ist für die "Verkürzung der sachlichen, sozialen und zeitlichen Distanz zwischen Handlungen und Handlungsfolgen auf jenes Maß, das es überhaupt erst erlaubt, die Qualität jenes Zusammenhangs kognitiv zu erfassen und wie auch immer politisch-moralisch zu beurteilen."22 Für die hier beschriebene Deglobalisierung sprechen ökologische und demokratische Gründe sowie der Wert einer Lebensweise mit weniger Konkurrenz und wirtschaftlichem Druck.

Das Wirtschaftlichkeitsprinzip ("Suche nach möglichst großem Ertrag bei geringst möglichen Kosten!") erweist sich auch hier als eine Orientierung, die von der Wirklichkeit abhebt. Im Preismedium lassen sich Belange der Nachhaltigkeit, der Demokratie und der Lebensqualität nur sehr selektiv ausdrücken. Wer es auf die Orientierung an Geldmengen absieht, muss von diesen Qualitäten absehen. Was im Radar der Preise nicht vorkommt, lässt sich im Schleiertanz des Geldes vernachlässigen und schädigen. "Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören" (Hegel).

"Der Niedergang antiker Städte vollzog sich über Jahrhunderte, der meiner Heimatstadt Detroit über zwanzig Jahre. So schnell passt sich unser Orts- und Heimatgefühl nicht an."23 Notwendig wird es, Räume nicht länger als passives Resultat von Wirtschaftskonjunkturen, Handelsbeziehungen und Verkehrsströmen zu traktieren und den entsprechenden Zufällen zu überlasen. Stattdessen geht es um den Wert des konkreten Gefüges. Er besteht in der Gegenseitigkeit, Ergänzung und dem sinnvollen Aufeinander-bezogen-Sein der verschiedenen Aktivitäten in einem bestimmten Raum. Angesichts des Eigenwerts dieser raumbezogenen "Vernetzung" wird der Preis fremder Waren und die Effizienz einzelner Techniken zweitrangig.

Der Weltstaat als Illusion

Die durch den Weltmarkt gegebene Situation besteht in einer Koexistenz von übermächtigen internationalen Wirtschaftsdynamiken und einer Politik, die national zersplittert und insofern der Internationalität der Kapitaldynamik nicht gewachsen ist. Angesichts der immens hohen Konsens- und Kooperationskosten internationaler Zusammenarbeit ist eine globale Weltrepublik ein illusionäres Ziel. Die Aufmerksamkeit dafür wächst, dass mit der Größe des zu regierenden Raums und der Zahl der Bevölkerung die Entfernung zwischen den Wählern und den Gewählten zunimmt. Dafür, dass die Bevölkerung Herr im Haus sein kann, bildet der massive Rückbau des Weltmarkts eine notwendige Bedingung.

Es gilt sich von der Vorstellung zu verabschieden, einen entfalteten Weltmarkt politisch bändigen zu können. Diese Vorstellung hat illusionäre Erwartungen an die Politik. Es gibt "Objekte", die wie der Weltmarkt zu groß, zu komplex und zu eigendynamisch sind, als dass sie sich regulieren lassen. Der Weltmarkt bildet eine objektive Fehlentwicklung, die zurückgebaut werden muss. Gewiss bildet der Weltmarkt nicht das alleinige Problem der bestehenden kapitalistischen Wirtschaft. Dessen Rückbau würde aber einen massiven Treiber der Konkurrenz und des Wirtschaftswachstums, das vorrangig der Kapitalakkumulation dient, überwinden.