Deindustrialisierung: Deutsche Wirtschaft auf Talfahrt
Experten befürchten Rückkehr der Rezession – Unternehmen korrigieren Prognosen drastisch. Internationale Beobachter warnen.
Dass es sich bei der Deindustrialisierung Deutschlands um ein bloßes (Lobby-)Gespenst oder gar zersetzende Propaganda handelt, erscheint immer weniger glaubwürdig. Im Gegensatz zur heimischen Politik sprechen internationale Beobachter immer unverhohlener über besorgniserregende Entwicklungen des deutschen Wirtschaftsstandorts.
Zwei der bedeutendsten deutschen Industriekonzerne, BASF und ThyssenKrupp, haben ihre Umsatz- bzw. Quartalsprognosen zuletzt deutlich nach unten korrigiert und einschneidende Maßnahmen angekündigt, mit denen sie auf die schwierige Lage reagieren wollen.
Radikaler Stellenabbau droht
So verzeichnete der Chemiekonzern BASF Medienberichten zufolge im zweiten Quartal einen Umsatzrückgang von 6,9 Prozent auf 16,1 Milliarden Euro. BASF habe mittlerweile das zweite Jahr in Folge Verluste zu verzeichnen.
Als wesentliche Gründe dafür nennt das Unternehmen gesunkene Verkaufspreise und negative Währungseffekte – Einbußen, die der Chemie-Riese trotz höherer Absatzmengen nicht ausgleichen könne.
Dass der bereinigte operative Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen leicht um 0,6 Prozent auf knapp zwei Milliarden Euro stieg, sei dem strengen Sparkurs des Unternehmens zu verdanken. Zu diesem milliardenschweren Sparprogramm, das bis Ende 2026 jährlich eine Milliarde Euro einsparen soll, zähle auch ein Stellenabbau im Stammwerk Ludwigshafen. Wie viele Arbeitsplätze betroffen sind, bleibt unklar. Auch die Schließung weiterer Anlagen hat das Unternehmen nicht ausgeschlossen.
Auch der Stahl-Konzern ThyssenKrupp sieht sich Medienberichten zufolge gezwungen, seine Prognosen erneut nach unten zu korrigieren. So rechne das Unternehmen für das laufende Geschäftsjahr mit einem Umsatzrückgang von sechs bis acht Prozent. Als Grund dafür gibt ThyssenKrupp eine schwache Nachfrage bei steigenden Kosten an.
Um besagte Kosten zu senken, plane das Unternehmen mit Hauptsitz in Essen demnach, seine Stahl-Erzeugungskapazitäten in Duisburg deutlich zurückzufahren, was ebenfalls mit einem umfangreichen Stellenabbau verbunden sein wird.
Der Konzern hatte bereits während der Corona-Krise angekündigt, weltweit Tausende Arbeitsplätze zu streichen. Die IG Metall, die zuletzt im April vor den "bedrohliche(n) Symptomen einer Deindustrialisierung" gewarnt hatte, verspricht, um jeden Arbeitsplatz zu kämpfen.
Als zusätzliche Maßnahme wird unter deutschen Industriegiganten seit geraumer Zeit bekanntlich auch eine Verlagerung der Produktion ins Ausland diskutiert. Besonders jene Vertreter der energieintensiven Industrie hatten in diesem Zusammenhang wiederholt vor der "akuten Gefahr" einer Abwanderung gewarnt.
Deutliche Eintrübung auch im Geschäftsklima
Die genannten Entwicklungen scheinen sich auch in der allgemeinen Stimmung der deutschen Wirtschaft niederzuschlagen. So fiel der ifo-Geschäftsklimaindex im Juli von 88,6 Punkten im Vormonat auf 87,0 Punkte. Unternehmen zeigten sich weniger zufrieden mit ihrer aktuellen Geschäftslage und blicken skeptischer in die Zukunft, heißt es im ifo-Bericht.
Besonderen Anteil daran hat demzufolge eben jenes verarbeitende Gewerbe. Dessen Auftragsbestände seien erneut zurückgegangen, während die Kapazitätsauslastung auf 77,5 Prozent, und damit um sechs Prozentpunkte unter den langfristigen Durchschnitt gefallen sei.
Aber auch im Dienstleistungssektor, dem (Einzel-)Handel und im Baugewerbe beurteilten die befragten Unternehmen ihre Geschäftslage als schlecht und äußerten durchweg pessimistische Erwartungen.
"Rückkehr der Rezession"
Hinzu kommt, dass die schwache Entwicklung in Deutschland mehr und mehr die gesamte Eurozone belastet. So fiel der vom US-Finanzdienstleister S&P Global ermittelte Einkaufsmanagerindex (PMI) auf den niedrigsten Stand seit fünf Monaten, was befragten Experten zufolge auf eine "Rückkehr der Rezession" hindeute.
Der stabile Wert, den Analysten eigentlich erwartet hatten, sei durch die schlechte Entwicklung des Dienstleistungssektors als auch der Industrie getrübt worden, heißt es.
Vor diesem Hintergrund blickt auch die internationale Presse mit Sorge auf die europäische Wirtschaft. Die US-Nachrichtenagentur Reuters führt das deutsche Geschäftsklima mit ähnlichen Entwicklungen im Nachbarland Frankreich zusammen, dessen Unternehmen ebenfalls über eine mangelnde Auslands-Nachfrage klagen und dessen Dienstleistungssektor sich auf den tiefsten Stand seit April 2021 verschlechterte.
Die britische Financial Times berichtet ebenfalls über jenen Rückgang der deutschen Geschäftstätigkeit, der die Wirtschaft der Eurozone belaste. So seien europäische Aktien am vergangenen Donnerstag auf den tiefsten Stand seit über zwei Monaten gesunken.
Die Automobilwerte verloren demnach 2,3 Prozent, belastet durch einen Kursrutsch von 8 Prozent bei Stellantis. Auch der Luxusgütersektor sei um 2 Prozent auf ein Sechs-Monats-Tief gefallen.
"Abgesehen von den zyklischen Problemen stellt sich weiter die Frage, ob Europa noch die richtigen Produkte herstellt, um vom globalen Wachstum zu profitieren", äußerte sich Dirk Schumacher, Ökonom bei Natixis, gegenüber Reuters.
Die Automobilbranche könnte Investitionen zurückhalten, nachdem der erwartete Boom bei Elektrofahrzeugen ausblieb und die Sorge vor möglichen neuen US-Zöllen für den Fall umgeht, dass der ehemalige Präsident Donald Trump die Wahl im November gewinnen sollte, so Schumacher weiter.
Finanzsektor: "Ernste Probleme", verhaltene Hoffnung
"Das sieht nach einem ernsten Problem aus", zitiert das Branchenportal poundsterlinglive.com den Chefökonomen der Hamburg Commercial Bank (vormals HSH Norddbank), Cyrus de la Rubia, mit Blick auf den "dramatische(n) Rückgang der Produktion im verarbeitenden Gewerbe".
Salomon Fiedler, Ökonom bei der Berenberg Bank, weist dem genannten Bericht zufolge auf strukturelle Probleme hin, die das Wachstumspotenzial des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erheblich behinderten: "Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, unzureichende Investitionen in Produktionskapazitäten, hohe Energiekosten, übermäßige Besteuerung und Regulierung".
"Die deutsche Wirtschaft ist zurück als Problemkind der Eurozone", bilanziert auch die Direktbank INGDiba in einer Stellungnahme zur aktuellen Situation des Wirtschaftsstandorts. Allerdings schlägt die INGDiba einen deutlich optimistischeren Ton an und will "positive Überraschungen" nicht ausschließen.
So könnten die extrem schwachen Mai-Daten aufgrund der vielen Feiertage und langen Wochenenden übertrieben gewesen sein, heißt es. Es bedürfe "nur einer kleinen Verbesserung bei den Auftragsbüchern der Industrie, um die Industrieproduktion wieder wachsen zu lassen", wenn auch von einem niedrigen Niveau aus.
Der höchste Anstieg der Reallöhne seit mehr als einem Jahrzehnt, so die Stellungnahme weiter, dürfte schließlich auch die traditionell sehr knappen Geldbörsen der deutschen Verbraucher lockern.
Weitere Hoffnungen setzt die Direktbank in die neue "Wachstumsinitiative" der deutschen Regierung (gemeint ist das Wachstumschancengesetz), die darauf abziele, jene strukturellen Schwächen der Wirtschaft zu beseitigen.
Doch auch über diesen Lichtblick scheint sich ein Schatten zu werfen: "Leider ist die Initiative eher reich an Worten und Absichten als an Geld und wird daher keine unmittelbare Erleichterung bringen, aber sie könnte zu einer allmählichen Verbesserung beitragen", heißt es.