"Dem deutschen Volke"

Kuppel des Reichstagsgebäudes. Bild: Olga Ernst, CC BY-SA 4.0

Die Inschrift prangt am Reichstagsgebäude. Seine Entstehung 
weist auf ein Ereignis vor genau 150 Jahren zurück. Versuch einer 
historischen Einordnung



Heute vor exakt 150 Jahren, am 21. März 1871, tagte erstmals der 
neue Reichstag. Versammlungsort war das Stadtschloss Berlin. Die 
Körperschaft hatte noch keinen (Bau-)Körper, kein eigenes Haus 
und musste auf Provisorien ausweichen. Eine lebhafte Debatte 
entspann sich, wie ein Neubau auszusehen habe. Neorenaissance 
stand bei der Ideenfindung gegen Neogotik. Der Historismus stand 
in voller Blüte. Die Tür zur Moderne war noch nicht aufgestoßen, 
nicht bei Repräsentationsbauten.




Auch die Frage einer Kuppel war strittig. Was herauskam, schloss 
so oder so an vergangene Zeiten an. Der Architekt Paul 
Wallot war der 
Renaissance verpflichtet und mischte Barock darunter. Die 
turmartigen Aufbauten an den Ecken verleihen dem Haus den 
Charakter einer Trutzburg, und die Kuppel ist eine imperiale 
Geste, an welcher dem Kaiser sehr gelegen war. Er redete dem 
Architekten bis zum Überdruss hinein. Nach zehn Jahren Bauzeit, 
1894, war endlich der neue Rahmen für die neue Volksvertretung 
des neuen Reiches geschaffen. Man könnte von Framing 
sprechen.




Das Datum der Reichstagseröffnung verblasst etwas gegenüber 
dem 18. Januar 1871, der Proklamation Wilhelms I. zum Kaiser im 
Spiegelsaal von Versailles. Das war eine maximale Demütigung für 
Frankreich. Aber auch der Nachgang im Schloss von Berlin ließ 
nichts zu wünschen übrig.




"Unter Hochrufen betritt die kaiserliche Entourage den Saal: Den 
Hofchargen und Zeremonienmeistern, die ein Spalier bilden, 
folgen die preußischen Generäle und der Oberstkämmerer, die mit 
Schwert, Apfel, Zepter und Krone die Reichsinsignien 
hereintragen und auf Podesten neben dem Thron ablegen. 
Generalfeldmarschall von Wrangel schreitet dem Kaiser voran 
und tritt mit der Reichsfahne rechts, General Moltke mit dem 
Reichsschwert links hinter den Thron."1




Bismarck wurde zeitgleich zum Reichskanzler ernannt. In die 
lange Debatte über den Reichstags-Neubau schaltete er sich dann 
auch ein und verlangte etwas Einfaches, Sachliches, das heißt eher 
Unbedeutendes. Er hatte einen feinen Machtinstinkt. Sein 
Plädoyer erklärt zugleich den tieferen Sinn hinter dem ganzen 
feudalen Brimborium. Es sollte Aufmerksamkeit ablenken vom 
Wirken der Abgeordneten auf einer neuen Bühne und die Macht 
auf den neuen Kaiser und seinen Kanzler konzentrieren. Wilhelm 
sah die Einheit des Reiches als "Fürstenbund" an. Volksvertreter 
spielten da eine untergeordnete Rolle.




Das verzopfte Zeremoniell war auch eine Reaktion auf die 
Revolution von 1848, deren Kräfte in der Frankfurter 
Nationalversammlung gebündelt und auf eine institutionelle Basis 
gestellt werden sollten. Den freiheitlichen und demokratischen 
Zielen der Paulskirchen-
Versammlung hatte der preußische König Friedrich Wilhelm 
IV. schnell den Garaus gemacht. Aber die Angst vor 
Volksaufständen ließ die Herrschenden in Preußen nicht mehr 
los.




Das Volk oder genauer: die intellektuelle, künstlerische und 
studentische Szene des 19. Jahrhunderts war jedoch durch einen 
inneren Widerspruch gebremst. Patriotisch hatten sie sich, 
darunter Schriftsteller wie Theodor Körner, für die 
Freiheitskriege gegen Napoleons Besatzungsfeldzug 
begeistert.




Der Zwiespalt lag darin, dass sie "das Kind mit dem Bade" 
ausschütteten, indem sie sich zwangsläufig gegen die 
Errungenschaften der Französischen Revolution stellten, gegen 
das Frankreich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der 
revolutionäre Schneid war ihnen abgekauft.




Die Romantik, die ihr wichtigstes künstlerisches Genre war, 
verlegte die aufrührerischen Elemente ins Innere, in die Seele. 
Diese kontemplative Innerlichkeit machten sich wieder die 
Siegermächte zu eigen, um alle französischen Erneuerungen und 
zugleich jedwedes Unruhepotential zunichte zu machen. Die Rede 
ist vom Wiener Kongress (1815) und den Karlsbader 
Beschlüssen.

Vormärz und das Revolutionsjahr 1848



Allerdings rief diese "Restauration" unter jungen Schriftstellern 
eine Gegenbewegung hervor, die handfestere, kommunistische 
Gestalt annahm. Im Untergrund der Gedichte hielten sich 
romantische Elemente. Diese Dichter des sogenannten Vormärz – 
das heißt: vor 1848 – hatten Kontakt zu Marx und Engels.




Revolutionäre Bestrebungen wurden in Deutschland selten oder 
nie bis zum Erfolg geführt. Wenn sie gewaltsam abgebrochen 
wurden, verschränkte sich das mit der inneren Zerrissenheit der 
Aufrührerischen. Sie kämpften gegen Autoritäten, nur um 
festzustellen, dass sie sich in diesem Kampf noch größeren 
Autoritäten unterworfen hatten. Das war das Erbe des 19. 
Jahrhunderts, als die jungen Männer und Patrioten begeistert –
wieder einmal – gen Frankreich zogen.




Sie schwankten zwischen der Neigung zum Aufruhr und dem 
Respekt vor der Obrigkeit, schreibt Theodor W. Adorno. Der 
Zusammenbruch von 1918 legte ihre Konflikte mit dem 
patriarchalischen Wilhelminismus offen. Aber der kurze Aufstand 
mündete in die Unterwerfung unter einen totalitären Staat, der 
alles an Gewalt überbot.




Adorno spielt auf die Jugendbewegung an und den Umschlag ihrer 
Ideale in völkische und rassistische Ideologie. In ihren 
Ohnmachts-bzw. Allmachtsphantasien waren die "Brüderhorden" 
leicht von Demagogen einzufangen. Sie wurden in SA-Uniformen 
gesteckt.




Aus dem Aufbegehren wurde Putschismus. Der Kollaps 
traditioneller Autoritäten wurde durch verlockende Angebote 
neuer Führer kompensiert. Wer es zu seiner Selbstermächtigung 
nötig hatte, durfte die Weimarer Verfassung "Judenverfassung" 
nennen. Die Brüche der neueren deutschen Geschichte, die durch 
die Gesellschaft wie durch die Psyche gingen, holten auch den 
Reichstagsbau ein. Die Geschichte prägt das Haus und verdichtet 
sich in ihm zu einer Symbolkraft, die auf die Gesellschaft 
zurückwirkt. 



Drehbuch zu einem Brand



Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit 
wurden zunächst auf die Straße getragen. Die vorübergehende 
Verlegung der verfassunggebenden Versammlung nach Weimar 
half nicht, die Lage zu beruhigen. Die Straße machte Druck. Die 
Auseinandersetzungen schwappten in den Berliner Reichstag 
zurück, der während des Kapp-
Putsches 
kurzzeitig besetzt war.




Seit den frühen Zwanzigerjahren waren Provokationen und 
Schlägereien in den Räumlichkeiten an der Tagesordnung. 1930 
marschierten Fraktionsmitglieder der NSDAP in Uniform 
versuchsweise in das Hohe Haus ein. Von Hitler selbst ist 
überliefert, seine Partei wolle "möglichst viele Sitze im Parlament, 
um dieses von innen her lahmzulegen und zuletzt die Verfassung 
aus dem Sattel zu heben."2




Putschisten suchen einerseits die politische Bühne des 
Parlaments, um sie von innen und außen in die Zange zu nehmen. 
Von außen dringt der von ihnen mobilisierte Mob in das Gebäude 
ein, und von innen verkünden ihre Demagogen, dass die zuletzt 
stattgefundene Wahl ein Betrug der eingesessenen Regierung sei 
und nur sie die Mehrheit des Volkes hinter sich haben. Das ist 
nicht anders von Cola di 
Rienzo 
bis Donald Trump.

Reichstagsgebäude um 1895. Bild: gemeinfrei




Andererseits ist diese Bühne überflüssig geworden, sobald der 
Coup gelungen ist. Das haben die Nazis ganz wörtlich genommen, 
indem sie den Reichstag in der Nacht auf den 28. Februar 1933 
abfackelten - abfackeln ließen, müsste man genauer sagen, denn 
wenn das beschriebene Drehbuch von Staatsstreichen eine auch 
nur halbwegs logische Stringenz hat, hätten sich die Nazis daran 
gehalten.




Ein kriminalistischer Aspekt kommt hinzu, die Cui-bono-Frage: 
Wem nützt es? Der Brand diente den Nazis dazu, schon am 
nächsten Tag eine Reichstagsbrandverordnung hervorzuzaubern, 
die wichtige Grundrechte außer Kraft setzte. Die parlamentarische 
Demokratie war zu Brandschutt geworden.




Aber niemand, und das gilt auch für die obigen Aussagen, kann 
darüber hinweggehen, dass nur Indizien und von subjektiven 
Interessen geleitete Schlussfolgerungen zur Brandursache 
vorliegen. Außer Brandstiftung steht nichts fest. Das macht das 
Reichstagsgebäude zu einem frühen Symbol des Fake-News-
Verwirrspiels.

Aus Geschichte werden Geschichten. Jeder weiß 
etwas anderes. Zur Frage, ob Marinus van der 
Lubbe ein Einzeltäter war oder nicht, ist ein 
wahrer Historikerstreit entbrannt. Deutlich ist zu spüren, wie die 
Profilneurosen einzelner Wissenschaftler zur Vorlage immer 
neuer Fakten führen.




Die Reichstagsbrandverordnung steht in einer Reihe von 
Notverordnungen, die in der Endphase der Weimarer Republik 
inflationär angewendet wurden (Art. 48). Die Paralyse der 
politischen Parteien und die Handlungsunfähigkeit der 
zerbrechenden Regierungen in den 30er Jahren gaben dem 
Reichspräsidenten Anlass, per Verordnung die Exekutive zu 
stärken, die demokratischen Rechte aufzuheben und in der Folge 
den Reichstag aufzulösen.




Statt die Rückkehr zur Demokratie anzubahnen, spielten die 
Notverordnungen einer Partei in die Hände, die es allein darauf 
anlegte, die Exekutive zur Okkupation des gesamten Staats an sich 
zu reißen und nicht wieder herzugeben.




Das ist die Aporie der Demokratie. Wenn sie den Vormarsch der 
Gegner der Demokratie gemäß demokratischer Grundsätze 
toleriert, wird sie von diesen ihren Gegnern beseitigt. Wenn sie 
mit exekutiven Mitteln und Notstandsparagraphen gegen ihre 
Gegner vorgeht, wird sie selbst zur Diktatur.




Die Notstandsdiskussion kommt immer wieder auf, zuletzt in der 
68er-Zeit und neuerdings angestoßen durch die Pandemie. 
Staatliche Maßnahmen werden, meist aus der Ecke der 
Querdenker, als grundsätzliche Einschränkung der Grundrechte 
gewertet. Die Frage ist, ob diese Gruppierungen unter für sie 
günstigen Umständen nicht ihrerseits solche Einschränkungen 
begrüßen würden.



Für die Nazis war die Notstandsverordnung ein Schritt, um die Weimarer Verfassung als Ganzes zu begraben, ohne Rückfahrkarte. Nachdem das Reichstagsgebäude ausgeräuchert worden war, folgte mit dem Handschlag zwischen Hitler und Hindenburg das Bündnis der alten und der neuen, totalitär gesinnten Mächte. Dazwischen gab es nichts mehr. Der Handschlag kennzeichnet den „Tag von Potsdam“ am 21.3.1933, genau 62 Jahre nach der ersten Reichstagssitzung.

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