Demokratie: "Man kann von sicherem Boden aus Neues erproben"

Timo Rieg

Philosoph Andreas Urs Sommer.

Klipp und klar für den Volksentscheid? Gespräch mit dem Schweizer Philosophen Andreas Urs Sommer über Macht und Angst in Deutschland. Wie mündig wollen wir sein?

Der Schweizer Philosoph Prof. Dr. Andreas Urs Sommer, geb. 1972, Schweiz, hat einen Lehrstuhl für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Als Nietzsche-Spezialist leitet er eine Forschungsstelle an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zu seinen viel beachteten Veröffentlichungen gehört auch das Buch: Die Kunst, selber zu denken.

Das Verlockungspotential unserer Demokratie

Herr Professor Sommer, in Ihrem Essay-Buch "Entscheide dich!" zur Herausforderung des Ukraine-Krieges empfehlen Sie, unsere liberalen Demokratien müsse sich so attraktiv machen, "dass es selbst auf die Untertanen eines siegreichen autoritären Systems unwiderstehlich wirkt, sie an ihrer Untertanenschaft zweifeln und schließlich überlaufen lässt". Verlockt konkret die deutsche Demokratie bereits genügend zu diesem "Überlaufen"?

Andreas Urs Sommer: Das Verlockungspotential unserer gegenwärtigen Demokratie ist zumindest steigerbar. Wohl ist es derzeit eher das Wohlstands- als das Demokratieniveau, das anziehend wirkt. Der Krieg ist aber etwas, was uns dazu herausfordert, unsere Demokratie neu zu gestalten.

Sie sagen, auch radikal pazifistische Positionen müssten in einer liberalen Demokratie Raum haben. Wie steht es um die Vielfalt an Meinungen im öffentlichen Diskurs?

Andreas Urs Sommer: Es könnte darum besser bestellt sein. Unter den medialen Kriegseindrücken, die Solidaritätsemotionen zugunsten der Angegriffenen überborden lassen, hat eine Friedensbewegung, die vermeintlich Territorien und Menschen gegen Frieden verschachert, heftige Empörungsreaktionen provoziert. Manche zuvor noch als honorig und "politisch korrekt" geltende Möglichkeiten werden unter Kriegsdruck im gesellschaftlichen Gefüge marginalisiert.

Mit Nachdruck für Einführung direkter Demokratie

In Ihrem Buch "Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert" plädieren Sie für die Einführung direkter Demokratie in Deutschland. Bisher sei sie nur "halb fertig". Warum muss sich das System verändern?

Andreas Urs Sommer: Wir befinden uns in einer merkwürdigen politischen Zwischenlage. Auf der einen Seite traut man uns als Bürgerinnen und Bürgern absolute Mündigkeit und absolute Entscheidungskompetenz zu.

Wir sind seit der Aufklärung nach und nach so sozialisiert worden, dass wir selber die Individuen sein sollen, die über politische Fragen ganz allein und nur im Gebrauch unserer eigenen Vernunft entscheiden müssen.

Auf der anderen Seite traut man uns ganz offensichtlich nicht zu, die politischen Entscheidungen zu fällen, die das Gemeinwesen im Ganzen angehen. Sondern man erwartet von uns, dass wir irgendjemanden delegieren, eine Stellvertretung installieren, die für uns agiert.

Nur alle paar Jahre haben wir mal die Gelegenheit, diese unsere "Vertreter" für die Parlamente zu bestimmen.

Daher lautet meine These: Es ist nötig, unserer eigenen Mündigkeit zu politischem Nachdruck zu verhelfen, indem wir politische Entscheiderinnen und Entscheider werden.

Repräsentationsmüdigkeit

Aber das repräsentative System ist doch dazu da, gute Entscheidungen zu treffen, zu denen die etwas eigensüchtigen Bürger selbst nicht imstande sind ...

Andreas Urs Sommer: Dieses repräsentative System bildet eine Art Bollwerk gegen die "Herrschaft des Pöbels", der "viel zu vielen". Es ist eine typische Erfindung des 18. Jahrhunderts. Dieses auf Stellvertretung setzende System ist aber unserem politischen Bewusstsein und unserer Mündigkeit nicht angemessen.

Was so gerne als Politikmüdigkeit beschrieben wird, scheint mir wesentlich eine Repräsentationsmüdigkeit zu sein. Wir beschäftigen uns mit allen möglichen Fragen, die Nachrichten sind jeden Tag voll, aber am Ende entscheiden andere darüber.

Dessen müde zu werden, ist sehr natürlich.

Beispiel: semidirekte Demokratie in der Schweiz

Was ist dann für Sie das Ziel der Demokratie, wenn nicht der viel zitierte gewaltlose Austausch der Herrscher?

Andreas Urs Sommer: Demokratie ist diejenige Staatsform, in der möglichst viele den gemeinsamen politischen Raum gestalten. Dies an Dritte zu delegieren, kann nur situativ greifen. Sie könnten zwar sagen, im Bereich der Rüstungspolitik fühlen Sie sich selbst nicht kompetent, deshalb möchten Sie Ihre Stimme in Rüstungsfragen an die kompetente Nachbarin abgeben. Aber prinzipiell entzieht sich die Gestaltung des politischen Raumes, in dem wir leben, der Delegation.

Das wird regelmäßig als praktisch unmöglich abgetan. Nur über Repräsentation seien die vielen komplizierten Fragen zu bearbeiten.

Andreas Urs Sommer: Wenn Sie sich semidirekte Demokratien wie die Schweiz ansehen, werden Sie feststellen, dass es sehr wohl für einige Abstimmungswochenenden im Jahr möglich ist, die nötige Anzahl von Stimmzetteln zu drucken oder das Ganze digital aufzugleisen.

Technisch ist es überhaupt kein Problem, anstatt 4 Millionen Stimmzettel 60 Millionen zu drucken und zu verschicken. Die Vorstellung, dass gewählte Repräsentanten entscheiden müssen, ist keine geoffenbarte Wahrheit. Das Repräsentationsmodell ist der historisch einst berechtigte Kompromiss zwischen oligarchisch-aristokratischeren Regierungsformen und einer Radikaldemokratie, in der womöglich tatsächlich die Mehrheit die Minderheit tyrannisiert.

Die Macht der Bürgerinnen und Bürger als Entscheider

Also permanent Volksabstimmungen zu allen Fragen?

Andreas Urs Sommer: Nein, ich will überhaupt nicht die Parlamente abschaffen, aber wir brauchen die Drohmacht der Bürgerinnen und Bürger als Entscheider. Parlamentarier diskutieren und beschließen ein Gesetz, aber sie müssen immer damit rechnen, dass ein paar Leute nicht damit einverstanden sind und dann genügend Stimmen sammeln, um eine Abstimmung der Bürger über dieses Gesetz herbeizuführen. Oder ganz andere Ideen haben und gegen parlamentarische Trägheit eine Initiative lancieren.

Schreit dieser Ansatz nicht geradezu danach, noch deutlicher die Machtfrage zu stellen? Der Blick in unsere Menschheitsgeschichte zeigt eine fortwährende Abfolge von Herrschaftskämpfen. Und doch gilt heute Herrschaftskritik in der Demokratie mindestens als Schwurbelei, wenn nicht gar als Verfassungsfeindlichkeit. Dem liegt vermutlich die mir sehr rätselhafte Weltsicht zugrunde, früher sei zwar tatsächlich vieles schlecht gewesen, doch heute lebten wir im bestmöglichen aller Systeme.

Andreas Urs Sommer: Natürlich ist die Ängstlichkeit, über das Grundlegende im politischen Gefüge zu reden, in der Bundesrepublik Deutschland aus bekannten historischen Gründen ganz besonders groß, sodass es dann gleich heißt, wenn man mal eine spinnert anmutende Idee äußert, sie bedrohe die sogenannte freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Da würde ich zu etwas mehr Gelassenheit raten und zu Bereitschaft, sich auf Experimentelles einzulassen. Andererseits bin ich, was die Wandlungsfähigkeit dieser Demokratie angeht, durchaus optimistisch. Auch mit den von einer Ewigkeitsklausel geschützten Fundamenten des Grundgesetzes wären bundesweite Volksentscheide vereinbar. Es sieht solche in Artikel 20 (2) sogar vor.

Angst vor Populismus?

Und Sie haben keine Angst vor Populismus und antidemokratischen Strömungen, die sich das Experiment zunutze machen könnten"?

Andreas Urs Sommer: Unser politisches System ist so weit konsolidiert und steht so sicher auf den eigenen Füßen, dass gerade jetzt auch Möglichkeiten der Veränderung gegeben sind. Man kann quasi von sicherem Boden aus Neues erproben.

Die Bürgerräte sind so etwas. Wichtig dabei ist, dass Partizipation kein einmaliges Ereignis sein darf, in das man dann alles Mögliche hineinprojiziert, denken Sie an Brexit, denken Sie an Stuttgart 21. Wenn Bürger nur alle 20 Jahre mal in der Sache entscheiden dürfen, dann wird in dem Moment über alles Mögliche abgestimmt, nur nicht über das, was eigentlich zur Abstimmung steht.

"Wir sind Wesen, die teilhaben wollen"

Sie sind klipp und klar für den Volksentscheid und sagen, nur das sei direkte Demokratie: wenn alle über alles entscheiden. Ich werbe für aleatorische Demokratie, bei der jeweils nur einige hundert ausgeloste Bürger ein Thema beraten und dieses entscheiden, und ich halte das auch für direkte Demokratie. Denn es gibt keine Mittelsleute, sondern ein "Mini Populus", eben eine Stichprobe der entscheidungsberechtigten Bevölkerung, die die Gesamtheit in allen statistisch relevanten Parametern widerspiegelt.

Andreas Urs Sommer: Wir sind Wesen, die teilhaben wollen. Wir möchten an Erwägungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt sein, das macht uns aus. Bei aleatorischen Varianten haben wir wieder einen sehr eingeschränkten Entscheiderkreis und damit das gleiche Problem wie bei der repräsentativen Demokratie.

Die Beratung wäre abgeladen bei den "Happy Few", die ausgelost sind, die intensive Zeit miteinander verbringen und dann besser informiert sind als ich. Der demokratische Prozess wäre wieder delegiert, und ich bin in meiner Mündigkeit nicht ernst genommen.

Ich bezweifle auch das Argument der Ressourcensparsamkeit. Wir sollten das Politische nicht nur in der Entscheidung sehen, sondern vor allen Dingen im Prozess der Entscheidungsfindung. Im schweizerischen Kontext habe ich oft beobachtet, dass Leute zu Beginn einer Abstimmungskampagne eine andere Position vertreten haben als dann am Tag der Entscheidung.

Dieser lange Deliberationsprozess erscheint mir sehr wichtig. Warum sollten wir darauf verzichten und ihn den "Happy Few" überlassen?

Mit aleatorischen Verfahren kann man über Themen entscheiden lassen, die viel zu klein, zu komplex oder sonst irgendwie ungeeignet für eine Volksabstimmung sind. Fragen, zu denen die meisten Menschen keine Meinung haben, für die sie sich auch gar nicht interessieren, irgendein Unterkapitel im Denkmalschutz oder eine Detailänderung im Steuerrecht. Damit will sich "der politische Raum" nicht beschäftigen.
Aber die Ausgelosten müssten es halt. Aus meinen Erfahrungen mit Planungszellen kann ich sagen: das funktioniert. Die Bürger nehmen ihr zugelostes Amt ernst und beschäftigen sich eine Woche lang mit Detailfragen, von denen sie vorher noch nie gehört haben. Was spricht dagegen?

Andreas Urs Sommer: Dagegen spricht gar nichts. Hingegen über ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema engagiert zu diskutieren, aber am Ende nicht mit abstimmen zu können, soweit ich nicht zufällig einer der Ausgelosten bin, ist unbefriedigend.

Überall da, wo ich mich einbringen will als Mitentscheider, soll ich mich auch einbringen können. Dass ich dann manche Dinge wie ein zu novellierendes Denkmalschutzgesetz für wenig relevant halte, stört nicht. Natürlich sieht man das bei den Abstimmungen in der Schweiz.

Eine Verzerrung, die in Ordnung ist

Damit haben wir aber eine Selektion, die zu starken Verzerrungen führt. Die Denkmalschützer bekommen ihr gewünschtes Gesetz, weil sie alle zur Abstimmung gehen, während sich die meisten, die davon später mal irgendwie negativ betroffen sein könnten, gar nicht dafür interessieren und zu Hause bleiben.

Andreas Urs Sommer: Ja, das ist eine Verzerrung, aber sie ist in Ordnung. Ich würde in jedem Fall von Abstimmungspflichten Abstand nehmen, denn dann wird einfach irgendwas entschieden. Nein, wir haben unbedingt das Recht, uns in bestimmten Fällen überhaupt nicht zu verhalten. Und wer prinzipiell die Gestaltung des politischen Raums anderen überlassen will, darf das tun.

Aber damit fallen dann eben alle Themen durch, die das Quorum nicht erreichen, bei denen sich nicht genügend Menschen an der Abstimmung beteiligen. Können wir da nicht wenigstens für heute einen Kompromiss hinbekommen? Wir führen jetzt - gedanklich - die Volksabstimmung in Deutschland ein. Aber alles, was das nötige Quorum nicht erreicht, landet dann automatisch in gelosten Gremien?

Andreas Urs Sommer: Diesen Kompromiss könnte ich ohne Weiteres eingehen. Er scheint mir pragmatisch sinnvoll zu sein. Mein einziges Bedenken ist natürlich die Zwangsauswahl. Bürgerinnen und Bürger zu verpflichten, sich mit etwas zu beschäftigen, was sie absolut nicht interessiert, ist mit der Freiheitsidee nur schwer zusammenzubringen.

Ihre Lösung?

Andreas Urs Sommer: Tatsächlich könnte man das dann als Bürgerpflicht verankern, wenn es alle betrifft, so wie beim Schöffenamt, zu dem wir prinzipiell verpflichtet werden können, wenn sich nicht genügend Freiwillige finden. Man wird sehen. Im Zusammenspiel mit den Volksabstimmungen wächst da sicherlich auch ein neues demokratisches Bewusstsein.

Anmerkung: Der Text erschien bereits in einer kürzeren Fassung in einer anderen Publikation.