Demokratische Illusion: Warum Liberale bei den Wahlen in Russland scheitern müssen

Seite 2: Kandidatur nicht ohne Risiko für das Establishment

Dennoch birgt ein zugelassener Liberaler für die russische Politmaschinerie ein kleines Risiko. Denn Präsidentschaftswahlen sind Persönlichkeitswahlen, und ein geschickter und aktiver Kandidat mit Charisma könnte mit etwas Glück einen Achtungserfolg erzielen.

Vor allem, wenn er die Kriegsmüdigkeit großer Teile der russischen Bevölkerung nutzt, ohne mit radikaleren Aussagen vom russischen Strafrecht aus dem Verkehr gezogen zu werden.

Seit dem Sommer steigt in einer regelmäßigen Umfrage des Lewada-Zentrums der Anteil der Russen, die Friedensverhandlungen eher oder sofort befürworten, und lag im Oktober bei 56 Prozent. Unter jungen und städtischen Russen ist diese Gruppe noch größer. Ein Achtungserfolg würde eine neue Symbolfigur der russischen Antikriegsbewegung schaffen.

Wahlen in Russland: Der Fall Pawel Grudinin

Ziel des politischen Establishments im Falle einer solchen Kandidatur wäre es daher, genau einen solchen Achtungserfolg zu verhindern. Dazu stehen zahlreiche politisch-technische Instrumente zur Verfügung. Diese wurden bereits bei früheren Wahlen eingesetzt, um die Ergebnisse der eigenen Dauerkandidaten nicht nur an der absoluten Spitze zu "verbessern".

So erreichte bei den letzten Präsidentschaftswahlen der kommunistische Kandidat Pawel Grudinin zeitweise sehr hohe Popularitätswerte. Sofort starteten die übermächtigen Kreml-Medien eine massive Hetzkampagne gegen ihn, um seinen Ruf zu zerstören, während die anderen, eher aussichtslosen Mitbewerber kaum beachtet wurden.

Heerscharen von Journalisten stehen heute wie damals bereit, um jeden tatsächlichen oder vermeintlichen Schmutz aus der Vergangenheit eines allzu aussichtsreichen Kandidaten ans Tageslicht zu befördern.

Opportunistische Kommunisten

Die Kommunisten haben daraus gelernt und werden 2024 gegen Putin nur den eher farblosen 75-jährigen Politiker Nikolai Charitonow aufstellen, der schon 2004 gegen den noch deutlich schwächeren Amtsinhaber Putin nur 13,69 Prozent der Stimmen erhielt.

Derweil kann man sicher davon ausgehen, dass das gesamte russische Establishment vor der Wahl in Lobeshymnen auf den eigenen Langzeitpräsidenten ausbricht. Das gilt für Politiker ebenso wie für Showgrößen, in Moskau ebenso wie beim sibirischen Provinzgouverneur.

Willfährige Medien sorgen für den richtigen Echoraum, um das Dauerlob bis in die letzte Straße hörbar zu machen. In den Reihen der Kremlpolitiker werden sich die Lobeshymnen schon deshalb überbieten, weil Putin nach den bisherigen Wiederwahlen seinen Apparat immer wieder durch den Austausch einzelner Funktionsträger neu geordnet hat. Niemand will vor der Wahl der Leisetreter sein.