Demokratische Re-Regulierung

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Foto von Susanne Gölitzer

Es täte mir sehr leid, wenn der Eindruck entstanden ist, daß in meinen überpointierten Charakterisierungen insbesondere gegen Sie Spitzen enthalten wären. Das war eine ganz allgemeine Charakterisierung. Ich habe von Ihren politischen Interventionen in Europa immer sehr profitiert. Im Prinzip gibt es in dieser Einschätzung kaum nennenswerte Differenzen. Ich würde auch die Fragen stellen, die Sie formuliert haben, aber ich würde bloß meinen, daß wir aufrechter oder vielleicht auch selbstkritischer im Versuch sein müssen, sie zu beantworten. Die Fragen, wie der Staat aussehen soll, sind deswegen so schwer zu beantworten, weil unsere Theorien und unsere Vorstellungswelten auf den Nationalstaat festgelegt sind und wir politische Grundrechte, Freiheiten oder soziale Sicherheiten ebenso wie militärische Aufrüstung oder Souveränität am Nationalstaat festmachen.

Eine Aufgabe der politischen Theorie und der Sozialwissenschaften liegt darin, aus der Sackgasse falscher Alternativen herauszuführen. Es ist beispielsweise wichtig, eine Unterscheidung zu treffen, die nicht notwendig darauf hinaus läuft, daß Europa nach dem Bild des Nationalstaates als ein Vereinigtes Europa, also so wie die Vereinigten Staaten von Amerika, gedacht wird, sondern daß man Europa sehr zentral als Antwort auf Globalisierungsfragen entwirft. Dazu muß man aber zunächst noch einmal einen Schritt zurückgehen, denn der vielbeschworene Gegner des Neoliberalismus ist als solcher eine Politik, die sich nicht zu erkennen gibt. Es gibt ja den Weltmarkt nicht, es gibt nur politische Akteure, die versuchen, bestimmte Regelungen durchzusetzen. Sonst käme man zu einer Metaphysik des Marktes. Der Neoliberalismus ist ein bestimmtes Projekt von einzelnen Institutionen, etwa von der Welthandelsorganisation oder von transnationalen Unternehmen, das man mit politischen Projekten beantworten muß. Ich glaube, daß die Politik der Deregulierung, der für den gesamten Bereich der transnationalen Organisationen typisch ist, durch eine Politik der Reregulierung in Frage gestellt werden müßte, also im Sinne sozialer, demokratischer und ökologischer Standards. Ich glaube auch nicht, daß solche verbindlichen Standards keineswegs nur als eine Behinderung, sondern auch als eine Kanalisierung des Marktes begriffen werden können. Eine solche Politik muß als Antwort auf diese Art von Globalisierung formuliert werden. Aber dann müßte man sich auch von den Vorstellungen entfernen, Europa als Nationalstaat zu entwerfen, und stärker Vorstellungen entwickeln, die die Kooperation und das transnationale Geflecht zwischen Staaten ins Zentrum geben. Ich denke dabei an Theoretiker wie David Held aus Cambridge, die versucht haben, so etwas wie eine kosmopolitische Demokratie in Abgrenzung vom Bild des Nationalstaates und orientiert an Kooperationen zwischen Institutionen von Nationalstaaten zu denken, die darüber auch eine neue Form politischer Beweglichkeit entwickeln können. Neben den konkreten Problemen und den Aufrufen, die praktische Politik zu organisieren, ist es aber schon sinnvoll, die dabei vorausgesetzten Konzepte und Ziele zu überlegen. Dabei können Sozialwissenschaftler einen wichtigen Beitrag liefern.

Zum Thema der Empirie möchte ich nur sagen, daß ich beispielsweise sehr von den Studien von Martin Albrow beeindruckt bin, in denen er Globalisierung nicht nur als Makrophänomen dargestellt hat, sondern als ein Phänomen, das Bestandteil des Alltagstags, der alltäglichen Biographien und der Sozialstrukturen vor Ort ist. Er zeigt, daß die Prämisse, die man bislang unterstellt hat, nämlich daß Gemeinschaft ortsgebunden stattfindet, im Zuge der Globalisierungsprozesse historisch durch transnationale Netzwerke und Räume aufgehoben wird. Mit welchen Problemen, Krisen und Möglichkeit sich das abspielt, müssen wir überhaupt erst erkunden. Das aber wäre der Hintergrund für die Frage, die Sie mit Recht aufwerfen, wie eine transnationale Mobilisierung möglich ist.

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