Den Teufel mit Beelzebub austreiben
Grüner Guru Lovelock ruft zur Ausweitung der Kernenergie auf
James Lovelock gilt in der englischsprachigen Welt als der Erfinder der Idee, dass die Erde selbst ein Lebewesen ist, das sich selbst reguliert - so wie der Titel der (offenbar vergriffenen) deutschen Ausgabe seines Öko-Bestsellers lautet: "Gaia, Die Erde ist ein Lebewesen". Am Montag hat der 84-jährige Lovelock, ein bekennender Grüner, seine Besorgnis über den Klimawandel zum Ausdruck gebracht und seine grünen Freunde dazu aufgerufen, schnell die seiner Meinung nach einzige Lösung zu forcieren: die Kernkraft.
Wie Telepolis im Februar berichtete (Der Überlebenskampf der Kernenergie), ist die Kernkraft eine äußerst "saubere" Energiequelle, wenn man nur den Ausstoß von Treibhausgasen berücksichtigt und den Atommüll entweder ausklammert oder für (relativ) harmlos - oder zumindest handhabbar - erklärt. Im zweiten Teil des obigen Artikels (Atomkraft wird es auch in Zukunft geben, aber anders als Sie denken) wird unter anderem auch aufgezeigt, dass die Argumente der Kernkraftbefürworter neben dieser "Sauberkeit" der Kernenergie die vermeintliche Irrelevanz der Erneuerbaren Energien (EE) betonen. Nun hat ausgerechnet der grüne Guru James Lovelock ein treffliches Beispiel solcher Argumentation geliefert:
Wir können nicht weiterhin Energie aus fossilen Brennstoffen gewinnen und es gibt keine Möglichkeit, dass die erneuerbaren Energien Wind, Gezeiten und Wasserkraft ausreichend und rechtzeitig ausreichend Energie liefern werden. Wenn wir 50 Jahre oder noch länger Zeit hätten, dann könnten wir daraus unsere Hauptenergiequellen bilden. Aber wir haben keine 50 Jahre mehr zur Verfügung. Die Erde ist schon jetzt so beschädigt durch die heimtückische Vergiftung mit Treibhausgasen, dass die von uns bereits verursachten Folgen weitere 1.000 Jahre andauern werden, auch wenn wir sofort jede Verbrennung von fossilen Brennstoffen stoppen würden. Jedes Jahr, in dem wir weiter Kohle verbrennen, verschlechtert die Situation für unsere nachkommen und für die Zivilisation.
Es liegt mir fern, Lovelock generell zu widersprechen. Er weist nicht nur zu recht darauf hin, dass die Nutzung von Kernkraft nicht zur Erderwärmung beiträgt, sondern auch, dass die Ansammlung von CO2 in der Atmosphäre zeitverzögert stattfindet. Ich gehöre auch - wie Lovelock - zu denen, die glauben, dass die Erderwärmung schlimme Folgen für die Menschheit haben wird.
Zwar könnten manche Gebiete wie Russland und Deutschland - rein theoretisch - durchaus von einer leichten Erwärmung profitieren, aber wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Wird die üppiger werdende Vegetation weltweit mehr CO2 aufnehmen und den Anstieg der Treibhausgase in Schach halten? Das könnte zu mehr Artenvielfalt und höheren Erträgen in der Landwirtschaft führen, wie australische Forscher am Montag berichteten. Oder wird das relativ kalte Deutschland eher das trockene, unfruchtbare Klima von Oklahoma annehmen, wie ein prominenter deutscher Klimaforscher meint (Wird Deutschland ein zweites Oklahoma?)? Oder wird doch eher ein neues Eiszeitalter einbrechen, wie der neue Film The Day After Tomorrow uns vorführt?
Sicher ist nur, dass man sich auf schnelle Veränderungen nicht gefasst machen kann, wenn man nicht weiß, wie sie aussehen werden. Wenn ich weiß, dass Deutschland üppiger wird, pflanze ich mehr Obstbäume. Wenn Deutschland aber in 20 Jahren zur Wüste wird, verkaufe ich heute mein Haus und ziehe weg (aber wohin?). Weil man aber nichts vorhersagen kann und die Menschen sowieso nicht hinziehen können, wo sie hin wollen, muss jeder Klimawandel verheerende Folgen für die Menschheit haben.
Lovelock versteht die Klimamechanismen dahinter wohl so gut wie jeder andere. Aber was ist von seinem Vorschlag zu halten, die Kernkraft soll zur Rettung der Erde hochgefahren werden? Hier spalten sich die Lager wieder nach Glaubensrichtungen: Entweder der Atommüll muss auf jeden Fall vermieden werden oder er ist handhabbar. Lovelock gehört zur letzteren Konfession:
Die Ablehnung der Atomenergie basiert auf der irrationalen geschürte Angst, die durch eine Fiktion im Hollywood-Stil, durch grüne Lobbys und die Medien geschürt wird. Diese Ängste sind ungerechtfertigt. Die Atomenergie hat von ihrem Beginn an im Jahr 1952 gezeigt, dass sie die sicherste aller Energiequellen ist. Wir müssen aufhören, uns über winzige statistische Krebsrisiken durch Chemikalien oder Strahlung Sorgen zu machen.
Argumente für die erneuerbaren Energien
Wir müssen wohl warten, bis die nächste Katastrophe eintritt, damit für einige Jahre niemand mehr so argumentiert. Manche dachten wohl, es wäre mit Tschernobyl schon genug passiert. Ob Lovelock auch der Auffassung ist, dass ein Mensch so viel Ausstrahlung vom Verzehr einer Banane wie von einem Endlager wie Yucca Mountain abkriegt, wie manche Apologeten meinen? Noch heute wird heftig debattiert, wie viele Menschen durch Kernkraft gestorben sind - Schätzungen für Tschernobyl reichen bis 15.000. Die International Atomic Energy Agency hat dieses Jahr ein Chernobyl Forum ins Leben gerufen, um diese Frage zu klären.
Und wie sieht es aus mit anderen EE wie Photovoltaik (Warum das bewölkte Deutschland einen PV-Boom auslösen kann) oder Geothermie (Das Erd-Dorado) aus? Hier kann ein Kernkraft-Befürworter nur argumentieren, wie Lovelock dies tut, dass die EE zu gering seien, um mitgezählt zu werden. Das Argument aber stimmt nicht.
Zum Vergleich: Windexperte Paul Gipe listet auf seiner Webseite 22 Tote durch Windenergie weltweit auf. Bis auf einen Gleitschirmflieger waren alle am Bau oder Instandhaltung beschäftigt, d.h. niemand ist etwa durch umgefallene Anlagen erschlagen worden (ob der tote Flieger dem Gleitschirmfliegen oder der Windkraft zuzurechnen ist, überlasse ich dem Leser). Das ist relativ wenig, wenn man andere Zahlen von Bauprojekten nimmt, wie z.B. die rund 100 Toten vom Bau des 2000-MW-starken Hoover Staudamms in den USA.
Von der Windkraft kann man aber nicht behaupten, dass sie klein wäre: Heute beträgt die installierte Leistung 40.000 MW - das 20-Fache des Hoover Staudamms. Außerdem ist es überhaupt nicht klar, ob die Kernkraft schneller als EE ausgebaut werden kann. Heute boomen alle EE weltweit (die Photovoltaik rund 30% jährlich), und es dauert Jahre, bis ein Atomkraftwerk steht. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass weit mehr Forschungsgelder für fossile Energien und Kernkraft als für EE zur Verfügung gestanden haben: In den USA rund drei Mal so viel in den letzten 50 Jahren laut der US Public Interest Research Group.
Wenn Lovelock also schreibt, dass wir keine 50 Jahre haben und deshalb schnell handeln müssen, sollte man - selbst abgesehen von Fragen der Endlagerung - darauf hinweisen, dass Windkraftanlagen, Photovoltaik und andere EE schneller als die Kernkraft ausgebaut werden können. Sie müssen nur die Unterstützung bekommen, die fossile Energien und die Kernkraft (jedenfalls bis Tschernobyl) genossen haben.
Natürlich kann man gleichzeitig die EE und die Kernkraft ausbauen; das eine schließt das andere keineswegs aus. Man kann sogar sagen, dass sie sich bestens ergänzen: die Kernkraft als Grundlaststrom und die meisten EE als Mittellast- und Spitzenlaststrom, denn nur Biomasse, Geothermie und Wasserkraftwerke können die Grundlast decken. Wenn man auch noch auf Energieeffizienz setzt, muss man so viel nicht ausbauen.
Die Erderwärmung wäre damit auf jeden Fall nicht beschleunigt. Und wenn kein Gleitschirmflieger in eine Windanlage oder ein Kernkraftwerk fliegt, stirbt auch kaum jemand. Die Natur wird uns danken, wenn Windanlagen nicht in sensiblen Naturgebieten stehen. Sie sollten auch nicht in der Nähe von Siedlungen stehen, falls sie doch umfallen oder ein Rotorblatt wegfliegt, was ja selten passiert. In Deutschland muss ein Windrad sowieso meistens mindestens 300 m (bei gemischten Siedlungsgebieten) bis 500 m (bei reinen Wohngebieten) entfernt stehen. Diese Zahl hängt jedoch nicht von einer etwaigen Gefahr eines umgestoßenen Windrads ab, sondern von der Lärm- und Schattenbelästigung: Andere Gefahren für (nicht fliegende) Menschen gehen von Windanlagen nicht aus.
Im Gegenzug sollten Kernkraftwerke auch ähnliche Auflagen erfüllen, also auch nicht zu nahe an Siedlungen oder an Flüssen stehen, falls es doch zum GAU kommt (was ja auch selten passiert). In Tschernobyl beträgt die Sperrzone 2.800 km2; allerdings ist das gesamte verstrahlte Gebiet wohl größer als die Schweiz. Also müsste das Gebiet um ein KKW entweder im Umkreis von 30 km (2.800 km2) oder in der Größenordnung der Schweiz leer stehen oder geräumt werden, und KKW dürften sowieso nicht in tektonisch labilen Gebieten wie Japan gebaut werden, wo bereits 52 stehen, wie eine US-Wissenschaftlerin vom Yucca-Projekt am Montag sagte:
Es gibt auf der ganzen Welt fast keine für Atomenergie gefährlicheren geologischen Bedingungen wie in Japan - das an der dritten Stelle weltweit mit den meisten Atomreaktoren steht.
Das bedeutet: Keine KKW in Japan, keine am Rhein, keine an der Rhône, usw. Vielleicht können wir sie auf dem Mond bauen und mit der Erde verkabeln? Wenn die Technik so weit ist und die Kosten nicht zu hoch, hätte ich nichts dagegen. Aber ich hinterlasse meinen Kindern lieber eine saubere, wenn auch verspargelte Landschaft als eine mit KKW, End- und Zwischenlagern verminte Welt.