Der Abstieg der Nachhaltigkeit zur Marketingfloskel

Fritz Reheis über den zur Mode gewordenen Begriff der Nachhaltigkeit. Weshalb man den Begriff anders denken sollte. Und was das neue Verständnis mit dem Kapitalismus zu tun hat.

In seinem Buch Erhalten und erneuern widmet sich der Publizist und Hochschullehrer Fritz Reheis dem medial ideologisch geprägten und ursprünglich vor allem von den Grünen gekaperten Begriff, zeigt seine realen Dimensionen auf und liefert dessen systematische Darstellung. Ein Gespräch mit dem Autor.


Herr Reheis, Ihr Buch dreht sich um "Nachhaltigkeit". Ich muss zugeben, ich muss bei diesem Begriff Gefühle konkreten, oktoberfestesken Unwohlseins unterdrücken und Sie selbst geben in Ihrem Buch ja ein Beispiel für das Schindluder, das gewöhnlich damit getrieben wird: Beim Erwerb eines Chalets in dem Öko-Luxus-Resort bei Kitzbühel, bei dem natürliche Materialien verwendet wurden, Plastik vermieden und mit Erdwärme geheizt sowie regionale Kost in den zugehörigen Restaurants angeboten wird, gibt es als Gipfel der Nachhaltigkeit einen veganen Elektro-Porsche mit einem Boden aus recycelten Fischernetzen gratis dazu.

Ausgerechnet die Spitze der Wohlhabenden, deren Öko-Bilanz verheerend ist, können sich also mit der "Nachhaltigkeit" ein gutes Gewissen erkaufen. Dreht es Ihnen hier nicht auch den Magen um?

Fritz Reheis: Ja, der Nachhaltigkeitsbegriff ist längst zur Vertrauenswährung des Marketings verkommen. Fast alles wird heute als "nachhaltig" verkauft. Die Taxonomie für Finanzanlagen der Europäischen Kommission zeichnet ja "bestimmte Atomkraft- und Erdgasaktivitäten als umweltverträglich" aus, was das EU-Parlament im Sommer letzten Jahres ausdrücklich abgesegnet hat. Und die Rüstungslobby spricht bereits ernsthaft vom "grünen" Panzer, weil er ja angeblich Frieden stifte.

"Durch kurzfristige Profitinteressen werden langfristig Arbeitsplätze nicht gesichert"

Wie kommt die soziale Dimension hier mit rein?

Fritz Reheis: Folgt man den Marketing-Sprüchen, ist auch die Sicherung von Arbeitsplätzen ein Gebot der Nachhaltigkeit. Wer jetzt auf Rüstungsaktien setzt, deren Kurse seit einem Jahr förmlich explodieren, wird so gleich doppelt vor möglichen Gewissenskonflikten bewahrt: Er leistet nicht nur einen Beitrag für den Frieden, er sichert zudem Arbeitsplätze.

Dass in Wahrheit durch kurzfristige Profitinteressen langfristig Arbeitsplätze nicht gesichert, sondern gefährdet und vernichtet werden, hat die deutsche Automobilindustrie mit ihrer jahrzehntelangen Ausrichtung auf eine ökologisch verheerende Art der Mobilität eindrucksvoll vorführt.

Im Übrigen: Wem es wirklich um die soziale Dimension der Nachhaltigkeit geht, der darf sich nicht nur damit zufriedengeben, dass ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Er muss auch nach der Qualität der Arbeit, den Löhnen und der sozialen Absicherung fragen, und zwar entlang der gesamten Lieferkette, vom Globalen Süden (Rohstoffbergbau) bis in den Globalen Norden der Welt (Produktion, Handel, Entsorgung).

Welches Konzept von Nachhaltigkeit verfolgen Sie hingegen mit Ihrem Buch?

Fritz Reheis: Im Gegensatz zur rein instrumentell-ideologischen Rede von "Nachhaltigkeit" nehme ich den Begriff der Nachhaltigkeit ernst. Er verweist ja auf die Zeitdimension. Denn wer erklären will, was "nachhaltig" bedeutet, ist gezwungen, auf Zeithorizonte, Kreisläufe und weitere Modalitäten der Zeit Bezug zu nehmen.

Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass wir Zeit nicht sehen, hören oder schmecken können, weil wir für die Zeit, im Gegensatz zum Raum, kein Sinnesorgan haben. Es sind immer nur Veränderungen von Objekten (ihrer Größe, ihrer Form, ihrer Lage im Raum), aus denen wir hinterher schließen, dass Zeit vergangen sein muss. Genau genommen geht es also bei der Nachhaltigkeit um die Muster von Veränderungen im Zeitablauf.

"Wo lineare oder gar exponentielle Prozesse überhandnehmen, verliert der Mensch die Kontrolle"

Sie selbst bringen Ihr Konzept von Nachhaltigkeit mit Begriffen wie "Wiederholbarkeit" und "Zyklizität" in Zusammenhang. Können Sie das erläutern?

Fritz Reheis. Bild: Wolf-Dietrich Weissbach / CC-BY-SA-3.0

Fritz Reheis: Das Urbeispiel für Nachhaltigkeit ist bekanntlich die Forstwirtschaft (Carl von Carlowitz): Man darf nicht mehr Bäume fällen, als wieder nachwachsen, wenn der Wald erhalten werden soll. Ähnlich bei der ökologischen Landwirtschaft: Man darf dem Boden nur so viel Kraft entziehen, dass er sich immer wieder erholen kann. Nur so bleibt er fruchtbar.

Deshalb der Fruchtwechsel und die Ruhephasen. Und auch in der industriellen Wirtschaft gibt es längst das Leitbild der Kreislaufwirtschaft. Kurz: Soll der menschliche Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen durchhaltbar, dauerhaft, eben nachhaltig sein, muss er wiederholbar sein. Und das ist er nur, wenn er sich mit den Zyklen der Natur synchronisiert.

Die Natur, die älter ist als der Mensch, gibt den zeitlichen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die Kultur bewegen muss. Oder, wie die indische Physikerin, Philosophin und Aktivistin Vandana Shiva sagt: Die menschliche Wirtschaft ist nichts anderes als die Fortsetzung der "Wirtschaft der Natur".

Zwar verändert der Mensch die Naturzyklen in bestimmten Grenzen, betreibt also Innovation, indem er an bestimmten Punkten lineare Fortschrittsprozesse in Gang setzt, etwa Urwälder rodet, Pflanzen und Tiere züchtet und, um Transporte zu beschleunigen, die Landschaft mit linearer Infrastruktur (Straßen, Schienen) durchschneidet. Aber die Zyklen der Natur bleiben stets die stabile Basis der Kultur, wenn das Zusammenspiel von Natur und Kultur nachhaltig sein soll.

Anders gesagt: Nachhaltigkeit ist "Wiederkehr des Ähnlichen" (Ludwig Klages). Die fortschrittssüchtige Moderne hat diese "zeitökologische" Grunderkenntnis immer mehr verdrängt. Wo lineare oder gar exponentielle Prozesse überhandnehmen und sich von den zugrundeliegenden Zyklen lösen, verliert der Mensch über kurz oder lang die Kontrolle. Klimakrise und Pandemien sind die Quittung dafür.

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