Der Anti-Populist Macron: Wie lange ist er noch Präsident?

Macron im Kreml. Foto (06.02.2022): Kremlin.ru/CC BY 3.0

Alles kann passieren, nichts scheint unmöglich: Die französische Republik vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen

Wenn es sehr sehr schlecht läuft für Europa, dann erlebt es in zwei Tagen ein politisches Erdbeben ohnegleichen. Oder in zwei Wochen. Dann wird nämlich der amtierende französische Präsident Emmanuel Macron bereits diesen Sonntag in den Vorwahlen ausscheiden (das ist extrem unwahrscheinlich), oder er wird bei der Stichwahl am Sonntag in zwei Wochen unterliegen. Auch das ist sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.

Teflon-Wahlkampf

Der "Teflon-Wahlkampf" der letzten Wochen, eine Wahlkampagne, die selbst an den Franzosen abglitt und niemanden wirklich interessierte, zeigt Folgen: "Etwa die Hälfte der Wahlberechtigten beabsichtigt ihre Stimme bei der ersten Runde anderen Kandidaten zu geben als einem der Favoriten. Etwa ein Drittel der Wahlberechtigten, könnte gar nicht erst zur Wahl gehen", berichtet die langjährige Paris-Korrespondentin der Frankfurter Rundschau, Martina Meister in einem Beitrag, der in der Welt, in der österreichischen Kleinen Zeitung und in deutschen Regionalblättern erschien.

Sein Blick und sein Gesichtsausdruck verraten ihn. Entschlossene Härte, Konzentration, die Souveränität eines politischen Führers scheinen sie auszudrücken. Doch das leichte Flackern in den Augen, die Unruhe verraten, dass er mit seinen Gedanken längst woanders ist. Die Weltlage, Brüssel und Berlin, der amerikanische Präsident, Putin, China, Mali... Corona und das Klima sowieso. Es gibt wirklich wichtigere Dinge als diese Präsidentschaftswahlen. Ist er denn nicht der Klügste, Beste für diesen Job?

Emmanuel Macron wirkt jederzeit so, als wisse er, dass er nicht zu schlagen ist. Man sieht ihm an, dass er nun mal der Beste und Klügste ist, der Einzige, der Frankreich in die Zukunft führen kann. Er kann nichts dafür.

Doch Parbleu! Nun schmilzt der Vorsprung des Präsidenten. Droht Emmanuel Macron das Schicksal von Valerie Giscard d'Estaing? Der war noch am Morgen des 10. Mai 1981 in der ganzen Siegesgewissheit einer zweiten Amtszeit zum Wahllokal gefahren. Am Abend hatte Francois Mitterand gewonnen. Und Giscard konnte seine Niederlage selbst dann noch nicht fassen, als das Ergebnis bereits einige Tage lang feststand.

Ein ungeliebter Favorit

Mit einer Wiederwahl Macrons wird allgemein gerechnet. Und doch wäre sie genaugenommen eine Überraschung. Denn schon Macrons Vorgänger Nicolas Sarkozy und Francois Hollande kamen nicht über ein einziges Mandat hinaus, weil die Franzosen nach fünf Jahren genug von ihnen hatten. Und auch Jacques Chirac, der einzige wiedergewählte französische Präsident seit 1988 (der Wiederwahl Mitterands), erreichte mit 19,88 Prozent im ersten Wahlgang kein sehr starkes Ergebnis. Macron steht zweifellos besser da. Sollte er über den 24 Prozent liegen, die er 2017 im ersten Wahlgang erzielt hätte, wäre dies ein historischer Triumph.

Macron ist zwar ein ungeliebter Favorit, aber er hat von seinen Vorgängern gelernt. Nicht nur von den Verlierern Sarkozy und Hollande, sondern vor allem von Francois Mitterrand, der vom ewigen Zweiten nach 1981 zum ewigen Gewinner wurde. Mitterrand sicherte sich und seiner Partei eine über 20 Jahre andauernde politische Hegemonie.

Der Gauillist Jacques Chirac kam nur deswegen 1995 an die Macht, weil er Mitterrand besser imitierte als Lionel Jospin, der Kandidat der "Parti Sozialiste". Und weil er am Ende die Hilfe des scheidenden Präsidenten gegen seinen parteiinternen Rivalen Edouard Balladur bekam.

Gewonnen hat Macron noch lange nicht.

"Die Wahl Le Pens ist nicht unmöglich"

Die Beispiele der letzten Jahre, der Brexit, die Wahl Donald Trumps, die immer höheren Fehlerquoten der demoskopischen Meinungsumfragen sollten Warnung genug sein.

In diesen Umfragen führt Macron, der wochenlang klar in Führung lag, nur noch mit drei bis vier Prozentpunkten vor der Rechtsextremistin Marine Le Pen. Dass Macron im zweiten Wahlgang am 24. April auf Le Pen treffen wird, gilt als ausgemacht, auch wenn der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon auf dem dritten Platz Außenseiterchancen hat.

"Die Wahl Le Pens zur Präsidentin ist unwahrscheinlich, aber sie ist nicht unmöglich." (Martina Meister). Die größte Stärke von Marine Le Pen ist, dass ihr keiner den Sieg zutraut. Dies mag auch zu ihrer größten Schwäche werden, denn es könnte auf den letzten Metern des Rennens Menschen davon abhalten, für sie zustimmen.

Elite im Land der Egalität

Der Professorensohn und Jesuitenschüler Macron erscheint seinen bodenständigeren Herausforderern gegenüber tatsächlich wie das idealtypische Produkt der bildungsbürgerlich-kosmopolitischen Elite Frankreichs – deren politische Vorherrschaft allerdings weit weniger die Regel ist, als man es in Deutschland gerne wahrhaben möchte. Oder als es die anti-elitären Reden der populistischen Antipolitiker suggerieren.

Denn im egalitären Frankreich kommen immer wieder Politiker in die erste Reihe, die Kinder von Emigranten oder Flüchtlingsfamilien sind oder Pieds Noirs (Franzosen aus den nordafrikanischen Kolonien Algerien oder Tunesien). So zum Beispiel Nicolas Sarkozy, Eduard Balladur oder Philippe Séguin. Oder sie kommen aus sozialen Verhältnissen, deren Kindern keineswegs der Besuch von Eliteuniversitäten und der Einzug in den Elysee vorgezeichnet ist wie die ehemaligen Präsidenten Georges Pompidou und Francois Mitterand.

Insgesamt haben Macrons Umfragewerte seit Beginn des Ukraine-Krieges zugenommen, die von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon allerdings auch, während alle anderen Kandidaten seitdem stark abfielen.

Der agile Superpräsident und Strahlemann, den die Zeitung Le Monde als "außergewöhnlichen Verführer" bezeichnet, hat auch Schwachpunkte. Der größte Schwachpunkt ist er selbst: Macron sieht gut aus und verkörpert Erfolg. Beides ist in Frankreich, jedenfalls im Feld der Politik, kein Plus.

Im Verhältnis zu einfachen Bürgern wirkt Macron auch nach fünf Jahren im Amt abgehoben – er wird nie ein Landesvater sein, wie es De Gaulle, Pompidou, Mitterrand oder Chirac waren. Dadurch dass er immer noch jünger aussieht als er ist, wirkt der 45-Jährige wie ein unreifer Jugendlicher mit Allmachtsfantasien. Es gibt auch Franzosen, die sehen in Macron vor allem den ehemaligen Rothschild-Banker, manche setzen die Behauptung in die Welt er sei Jude, "wenigstens ein bisschen".

Präsident der urbanen, gutverdienenden Mittelschicht

Seine Wähler, das sind dagegen die Franzosen, denen es gut geht. Mitglieder einer urbanen Mittelschicht, die mit grundsätzlichem Optimismus an Probleme herangehen, zuversichtlich, dass diese lösbar sind, selbst wenn es sich um das Coronavirus oder das Weltklima handelt. Sie sind Kritiker von Imperialismus und Kolonialismus, sie sind gebildet und gut vernetzt, während die Touristen aus aller Welt zum Wochenendtrip nach Paris kommen, reisen sie über das Wochenende nach Mailand, Barcelona oder Berlin.

So verkörpert Macron perfekt die gegenwärtige Stimmungslage in Frankreich, den Antipopulismus, der immer noch eine klare Mehrheit auf seiner Seite hat. Seine Bewegung En Marche ist dagegen schon längst zusammengefallen. Zu einer Stärkung der alten Parteien der politischen Rechten und Linken hat das aber nicht geführt, hinterlassen hat En Marche ein politisches Vakuum.

So sorgen die Umfragen jedenfalls dafür, dass sich der Amtsinhaber noch nicht in Sicherheit wiegen kann. Während Le Pen in den Umfragen zulegt, verliert Macron. Martina Meister: "Sollten sie in der Stichwahl aufeinandertreffen, wäre der Abstand so gering wie nie zuvor." 2017 verlor Le Pen gegen Macron mit einer einem Abstand von zehn Millionen Stimmen. Das heißt, ihr würde es genügen, im zweiten Wahlgang etwa fünf Millionen Stimmen hinzuzugewinnen.

"Le Pen lügt die Leute an"

Die Gefahr ist groß genug, dass Macron nun bei seiner ersten und einzigen Wahlkampfveranstaltung am letzten Samstag zu einer "Generalmobilmachung" aufrief. Viele Wahlen der jüngsten Vergangenheit hätten gezeigt, so Macron, das "passieren kann, was unmöglich scheint".

Macron wirft seiner Gegenkandidatin vor, mit Versprechen wie einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Energieprodukte etwas nicht finanzierbares anzukündigen: "Sie lügt die Leute an." Außerdem würde Le Pen mit einem "rassistischen" Programm die Gesellschaft spalten.

Volksverhetzer und Putin-Freunde

Macron verliert wiederum Zustimmung, seit er angekündigt hat, das Rentenalter von 62 auf 65 anheben zu wollen und die Auszahlung der Mindestsicherung an unter 25-Jährige an die Bedingung zu knüpfen, dass diese bis zu 20 Stunden pro Woche arbeiten. Damit bestätigte er seinen Ruf, ein "Präsident der sozialen Kälte" zu sein.

Der Chefin des rechtsextremistischen ehemaligen Front National ist es gelungen, das Thema Kaufkraft zum Wahlkampfthema zu machen. Dies ist derzeit die größte Sorge der Menschen in Frankreich: Nicht die Ukraine oder das französische Verhältnis zur Nato oder zu Russland. Le Pens Vorschlag der "nationalen Präferenz", eine illegale Diskriminierung, kommt an. Le Pen gewinnt auch gegen den noch rechtsradikaleren Kandidaten Eric Zemmour.

Zemmour gegenüber erscheint sie vielen plötzlich moderat. Ihr nützt die Kandidatur des Mannes, der mehrfach wegen Volksverhetzung verurteilt worden ist, denn insgesamt ist mit ihm das rechtsextreme Lager erstarkt, und zugleich sieht Le Pen Zemmour gegenüber bürgerlicher aus.

Erstarkt ist auch das Lager der Linkspopulisten: Jean-Luc Mélenchon liegt derzeit auf dem dritten Platz und hat weiterhin Chancen auf einen Einzug in die Stichwahl. Dass Mélenchon einen Austritt Frankreichs aus der Nato fordert, und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin freundlich zugetan ist, schadet ihm nicht wesentlich.

Autoritarismus gegen Bürokratismus

Der Gegensatz in Frankreich ist keiner zwischen links und rechts. Es ist vor allem der zwischen Stadt und Land, urbaner Metropole und Provinz. Es ist ein Gegensatz zwischen reich und arm, gebildet und ungebildet. Und es ist ein Gegensatz zwischen Autoritarismus und Bürokratismus.

Also jenem neuen Autoritarismus, der in vielen Demokratien in den letzten Jahrzehnten um sich greift und schnelle einfache Lösungen verspricht, und den Vertretern des Systems, die an Sachzwänge appellieren, diese aber zunehmend schlechter erklären können und ihre Machtausübung bürokratisch kaschieren, anstatt sie zu erklären. Demokratie erscheint im ersten Fall als Exekution dessen, "was das Volk will" und im zweiten Fall dessen, "was für das Volk gut ist".

Lange Zeit und immer wieder konnte Macron diese Kluft überbrücken, seine Politik in einfachen, klaren Worten erklären, und mit politischen Visionen unterfüttern. Aber auch er scheint zunehmend als ein Gefangener jener Sach- und Systemzwänge, die die Zerschlagungsphantasien der Populisten und Extremisten provozieren.

Dieser Kampf geht nun in Frankreich in die nächste Runde.