Der Antisemitismusvorwurf in Aktion

Seite 2: Nationalreligiöser Klartext: Der Judenstaat

Dabei ist weniger interessant, wie Israel entstanden ist. Entscheidend ist die Frage, wie es sich selber definiert, welche Rechte es für sich reklamiert und wie es aktuell handelt. In seinem Nationalstaatsgesetz (auch National- oder Nationalitätengesetz; 23.5.2021) bezeichnet sich Israel als Staat des jüdischen Volkes. Dies ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Zum einen, weil der Staat Israel seine Bevölkerung glaubensmäßig sortiert und sich nur als Staat derer bezeichnet, die jüdischen Glaubens sind. Der Rest der Bevölkerung wird zwar nicht vertrieben, sondern damit im Prinzip "nur" zu Bürgern zweiter Klasse erklärt. Das hat z.B. den ehemaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel zu der Äußerung veranlasst, Israel sei ein Apartheidstaat.

Zum anderen bezeichnet sich Israel als "Heimstatt aller Juden", macht damit ungefragt alle Juden in der Welt zu ideellen Staatsbürgern Israels - ganz gleich, ob sie diese Heimstatt haben wollen oder nicht. Es ist eben eine staatliche Leistung, sein Volk zu definieren, und nicht eine Leistung der so angesprochenen Bürger. Es gibt ja auch nicht wenige Juden, die es sich verbitten, mit der Politik Israels in Verbindung gebracht zu werden; sie finden aber nur selten Gehör. In der Öffentlichkeit präsent sind dagegen - auf jeden Fall in Deutschland - die zahlreichen Vertreter jüdischer Organisationen außerhalb Israels, die wie Abgesandte dieses Staates auftreten.

Im Nationalstaatsgesetz ist der Siedlungsbau zudem als nationaler Wert gekennzeichnet und damit festgeschrieben, dass der israelische Staat den Siedlungsbau unterstützt und konsolidiert. Damit bringt er zum Ausdruck, dass er sich als unfertigen Staat betrachtet, dessen Grenzen keineswegs festliegen und der seine territoriale Ausdehnung weiter betreiben will.

Die weitere Vertreibung von Palästinensern gehört damit - implizit und von "ultranationalistischer" Seite auch offen ausgesprochen - zum Staatsprogramm. Jede Gegenwehr wird zum Sicherheitsrisiko erklärt, und das israelische Sicherheitsinteresse beansprucht, dass kein Staat in der Region sich diesen Ansprüchen widersetzen kann. Israel fordert so die Anerkennung als überlegene Macht in der Region.

"Die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands"

Wenn Außenminister Heiko Maas nach Israel reist und Israel Deutschlands uneingeschränkte Solidarität zusichert (SZ, 21.5.2021), dem Land jedes Recht zur Selbstverteidigung bescheinigt, dann stellt er klar, dass er an diesem Programm des israelischen Staates nichts zu kritisieren hat. Wenn er zudem das Recht auf Selbstverteidigung betont, dann ist jede Gegenwehr gegen die weitere Landnahme und Vertreibung Unrecht, also Terrorismus. Dabei streben die verschiedenen Palästinenserorganisationen nichts anderes an als das, was Israel behauptet: eine eigene Souveränität.

Zwar wird trotz ständiger Ausweitung der israelischen Siedlungen auf der Westbank offiziell immer noch von einer Zweistaatenlösung gesprochen - und auch die neue US-Regierung hat wieder etwas Unverbindliches in diesem Sinne verlauten lassen. Jeder Akt der Selbstbehauptung der Palästinenser in dieser Hinsicht wird aber als Unrechtsakt deklariert.

Israel betreibt so ständig seine Ausweitung, übt praktisch die Souveränität über ganz Palästina aus, gleichzeitig gilt der jetzige Zustand völkerrechtlich als vorläufig.

Dabei befinden sich die Palästinenser unter der Oberhoheit Israels, das z.B. seine Grenzen mit einer Mauer (dem Menschheitsverbrechen des Ostblocks!) schützt und den Gaza-Streifen in ein Ghetto verwandelt. Diesem Gebilde fehlt jede Lebensgrundlage, so dass es völlig von Lebensmittellieferungen der UN abhängig ist. Die Autonomiebehörde in Ramallah bekommt Wasser oder Geld nach Gutdünken der Regierung des Staates Israel.

Und Israel signalisiert mit jeder Handlung, dass es an diesem Zustand nichts zu ändern gedenkt und mit der Siedlungspolitik den Lebensraum der Palästinenser weiter einzuschränken plant.

Seit seiner Gründung befindet sich dieser Staat in Konfrontation zu seinen Nachbarn, hat Teile Syriens annektiert und definiert seine Sicherheitsinteressen so, dass er ungefährdet alle Nachbarn bedrohen kann. Dazu ist er nicht nur von den USA reichlich mit Waffen ausgestattet worden, sondern auch von Deutschland. So werden Nachbarn wie Syrien oder auch der Iran immer wieder terrorisiert, und israelische Luftschläge gelten selbstverständlich als vorbeugende Gefahrenabwehr.

Mit diesem dauerhaften Kriegszustand gefährdet der israelische Staat auch das Leben vieler Menschen, als deren Heimstatt er sich in Szene setzt. Dies alles wird von Seiten der deutschen Regierung mit ihrer Solidaritätsadresse abgehakt, Recht und Unrecht in bester Schwarz-Weiß-Manier auf die beiden Parteien verteilt.

Dagegen zu protestieren, gilt dann als Anschlag auf Israel und sein Selbstverteidigungsrecht. Der Anspruch, dass der israelische Staat identisch ist mit allen Juden, die sich irgendwo auf dem Globus finden lassen, dass er also in deren Volksnatur verankert ist, wird nicht in Frage gestellt.

Wenn sich aber Demonstranten darauf beziehen und in der nationalistischen Logik weiterdenken, gilt das schlichtweg als Antisemitismus, als Ausdruck eines irrationalen Judenhasses, der - so die spezielle deutsche Nutzanwendung - unverkennbar aus einer fremden (muslimischen, arabischen…) Welt stammen muss: "importierter Antisemitismus" eben, der in der mustergültig geläuterten deutschen Nation nichts zu suchen hat.