Der Arabische Krieg
Der "Westfälische Frieden" als Modell für einen Krieg, den niemand gewinnen kann - Gastkommentar
Statt nun bereits von einem "terroristischen Weltkrieg" zu sprechen, sind wir aufgefordert, nun einen Schritt zurückzutreten und einen genauen Blick auf den Ordnungszerfall und die Zeitenwende in der arabischen Welt zu werfen und dabei die vielfältig ineinander verschränkten Konfliktlinien zu entwirren. Die globale Kriegserklärung des Islamischen Staates müssen wir nicht annehmen, wenn es der internationalen Staatengemeinschaft gelingt, einen tatsächlichen Neuordnungs- und Friedensprozess zu initiieren.
Nun also zieht die Bundesrepublik Deutschland in den gemeinsamen Kampf gegen den IS, jenen Islamischen Staat, den Abu Bakr al-Baghdadi im Frühsommer 2014 - sowie sich dabei selbst als Kalif - ausgerufen hat.
Der "Krieg gegen den Terror" hat nun einen protostaatlichen Hauptfeind. So die allgemeine Lesart in einem Großteil der Medien und der Politik im Westen wie in Russland - und sie ist falsch. Der Islamische Staat ist nur Symptom. Eigentlich war der Dschihadismus, die militant-extremistische Strömung des Islamismus, bereits im Niedergang begriffen. Dschabhad al-Nusra, der 2012 während des syrischen Bürgerkrieges gegründete Ableger des dschihadistischen Terrornetzwerkes al-Qaida, hat im offenen Konflikt mit dem Islamischen Staat bereits schwere Niederlagen erlitten.
Faktisch ist der Islamische Staat bisher der Hauptprofiteur der Widersprüche eines Stellvertreterkrieges im Nahen Osten - eines Krieges, den wir den "Arabischen Krieg" nennen können und nennen sollten -, in dem sich geostrategische und regionale Machtinteressen mit einem Modernisierungskonflikt in der islamischen Welt verschränken und in einer politischen und gesellschaftlichen Neuordnung der Region entladen.
Vielfältig verschränkte Konfliktlinien
Auf einer übergeordneten Ebene ist der Arabische Krieg Kampfplatz in den Geburtswehen der Entstehung einer tatsächlichen multipolaren Weltordnung mit mehreren kulturell-religiösen, wirtschaftlichen und militärischen Zentren und dabei Rückzugskrieg der abnehmenden globalen Dominanz des Westens unter Führung der USA und - erneut - gegen Russland.
Diese Neuordnung dominiert bereits auf einer zweiten Ebene darunter den Stellvertretercharakter des Kampfes der Regionalmächte Türkei, Israel, Iran und Saudi-Arabien. Dieser verschränkte Neuordnungskampf trifft auf der untersten Ebene auf die Modernisierungskrise der gesamten islamischen Welt, in der seit der Jahrtausendwende Alphabetisierung, demografische Entwicklung - die arabischen Gesellschaften sind enorm junge Gesellschaften - und ein kommunikationstechnologisch geprägtes politisches Erwachen nahezu aller Bevölkerungsschichten zu einer geistigen Entwurzelung geführt hat, die wir als Dschihadismus, als politischen Islam, als Arabischen Frühling oder - jüngst - als das Staatsgründungsprojekt des IS erlebt haben und erleben.
Mit dem Ende des Kalten Krieges zerfällt in der arabischen Welt die nach dem Ersten Weltkrieg und der Auflösung des Osmanischen Reiches (1922) entstandene postkoloniale Ordnung und mit ihr deren geografischen und politischen Hinterlassenschaften: die künstlichen Grenzziehungen des in der Region fast überall verhassten Sykes-Picot-Abkommens ebenso, wie die von unterschiedlichen Seiten hofierten autokratischen und korrupten Systeme. Und es ist bereits heute absehbar, dass am Ende auch Saudi-Arabien und Pakistan ebenfalls von dieser Zeitenwende ergriffen werden.
Der Arabische Krieg ist dabei, ähnlich dem Dreißigjähren Krieg im Europa des siebzehnten Jahrhunderts, nur vordergründig ein Religionskrieg. Tatsächlich werden die Macht- und Interessenkämpfe unter Instrumentalisierung des sunnitisch-schiitischen Religionsgegensatzes ausgetragen. So ist das Kalifat des Islamischen Staates im Kern ein machtpolitisches Staatsgründungsprojekt, das nur in einem entstehenden Vakuum von sich vielfältig überlagernden Stellvertreterkonflikten möglich gewesen ist.
Wer das Kalifat folglich zunächst isolieren, dann eindämmen und ihm schließlich seine politischen und - bisher noch - protostaatlichen Grundlagen entziehen will, muss alle involvierten Global- und Regionalmächte in eine ständige Konferenz bringen, denn niemand wird diesen Arabischen Krieg für sich entscheiden können. Sonst wird die unbestreitbare taktische und sogar strategische Intelligenz und der Pragmatismus des Islamischen Staates weiterhin die Brüche der multipolaren Weltordnung und die Konkurrenz der Regionalmächte zu seinen Gunsten auszunutzen wissen. Dabei wird er den Krieg um seiner selbst willen am Leben halten, auch als Krieg in unseren Städten, seine Kämpfer dabei aus den sozialen und gesellschaftlichen Bruchstellen Arabiens, des Westens, Afrikas und Russlands rekrutierend.
Der "Westfälische Frieden" als Modell
Es bedarf in der Tat einer ständigen Konferenz, in der zunächst überhaupt einmal Teilnehmer, gemeinsame Akzeptanz der faktisch eingetretenen politischen Neuordnung und allgemeine Absicht eines Friedensschlusses festgestellt werden (Vorfriedensvertrag).
Erst dann kann in einem zweiten Schritt über die Schlüsselfragen des Arabischen Krieges verhandelt werden (Universalfriedenskonferenz), mindestens aber die Entflechtung aller Stellvertreterkonflikte, die das Staatsgründungsprojekt Islamischer Staat überhaupt erst militärisch, ökonomisch und ideologisch ermöglichen. Dabei ist die Herstellung eines Kräftegleichgewichts in der Region ebenso bedeutend, wie die Herausarbeitung derjenigen Selbstverwaltungs- und Staatsgründungstendenzen jenseits des Islamischen Staates, die, wenn nicht gleich demokratischen, so doch republikanischen und konföderalen Charakter annehmen können.
Diese Neuordnung ist nicht von außen herzustellen, nicht von den USA, nicht von Europa, nicht von Russland oder China. Sie ist nur unter Beteiligung der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und unter der Bedingung eines gemeinsamen Drucks auf die Regionalmächte Türkei, Israel, Iran und Saudi-Arabien gemeinsam mit den anderen, auch zivilgesellschaftlichen Akteuren auszuhandeln.
Wir Europäer kennen einen solch komplexen und langjährigen Friedensprozess. Im "Westfälischen Frieden" von Münster und Osnabrück (1648), der den barbarischen Dreißigjährigen Krieg beendete, gelang es am Ende eine neue Rechtsordnung, religiöse Toleranz und ein tragfähige politische Neugestaltung durchzusetzen.
Globale Destabilisierungs- und Weltkriegsgefahren
Ob der im Wiener Prozess begonnene Weg tatsächlich diese Richtung nehmen wird, hängt von der Einsicht ab, dass die Nutzenverrechnungen der jeweiligen Interessen nicht aufgehen werden, weder die geopolitischen noch die regionalen. Der Arabische Krieg ist schlicht von keiner Partei zu gewinnen und droht daher von Partikularinteressen befeuert und damit auf Dauer gestellt zu sein.
Der Islamische Staat könnte sich dabei sogar zu einem Destabilisierungsfaktor von globalen Ausmaßen entwickeln - das erklärte Ziel al-Baghdadis. Denn auf der obersten, geostrategischen Ebene droht die Eskalation in einen Weltkrieg zu münden, auf der untersten Ebene wird die Modernisierungskrise der islamischen Welt nur dann zu Ruhe kommen, wenn dem kriegerischen Staatsgründungsprojekt Islamischer Staat friedliche Staatsgründungsprojekte entgegengesetzt werden.
Es bleibt gar keine andere Möglichkeit mehr, als die, die Ausgangslage zu verändern, indem man das Faktum "politische Neuordnung" akzeptiert und dafür friedliche Lösungswege und die entsprechenden politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen herausarbeitet. Denn der eigentliche Feind ist nun der Krieg. Nicht im allgemeinen, ethischen Sinne, sondern ganz konkret in diesem realen historischen Moment einer zusammenwachsenden und erstmals politisch erwachten Menschheit, die zwar bereits einen - mittlerweile brüchig gewordenen - völkerrechtlichen Ausdruck gefunden hat, deren politisches Subjekt sich aber gerade erst herauszubilden beginnt.
Es ist dies vielleicht sogar die erste zivilisatorische Wegscheide globaler Art, die wir erleben. Und wir täten gut daran, unsere historisch überkommenen, kriegerischen Handlungs- und Lösungsmuster zu hinterfragen und unter den Kulturräumen einander abzugleichen. Dies ist nicht unmöglich, aber unabdingbar geworden. Denn die zweite Wegscheide steht uns mit den abzusehenden Folgen des beginnenden Klimawandels ebenfalls noch bevor.
Robert Zion ist Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und gilt als einer der linken Vordenker seiner Partei. Er tritt zur Urwahl für die Spitzenkandidatur seiner Partei 2017 an.