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Der Blick aus der Vagina

Bild: © The Jokers / Bac Film

Auch lesbische Sexszenen liegen im Auge des Betrachters: "Die Taschendiebin", die großartige Adaption eines romantischen Sarah Waters-Thrillers durch den Koreaner Park Chan-wook

Es beginnt mit einer jungen Frau, die offensichtlich einsam und verunsichert in einer Limousine sitzt. Ein Chauffeur fährt sie durch einen nächtlichen Wald. Sie kommt zu einem in einem prachtvollen Park gelegenen, riesengroßen, überaus altmodisch aussehenden, irgendwie geheimnisvollen Haus mit einem englisch eingerichteten und einem in japanischer Mode gehaltenen Trakt, mit verwirrend vielen Zimmern und Gängen und labyrinthischem Grundriss, dazu ein Keller, in den niemand hinein darf.

Auf den ersten Blick fühlt man sich in eine klassische Gothic Tale versetzt, eine Schauergeschichte der Schwarzen Romantik. Man spürt die viktorianische Atmosphäre der Vorlage "Solange du lügst" (im Original "Fingersmith") von Sarah Waters. Aber die junge Frau ist eine Koreanerin namens Sooki, und das Auto, mit dem sie anreist, zeigt, dass wir uns in den 1930er Jahren befinden. Dies war die Zeit der Besetzung Koreas und der Mandschurei durch das kaiserliche Japan.

Bild: © The jokers

Mit diesem Gebäude legt Regisseur Park Chan-wook bereits von Anfang an die Struktur seines Films offen: In seinem intensiven Liebes-Thriller entfaltet er ein Spiel über die Macht der Maskerade und der Täuschung voller unvorhersehbarer Wendungen.

Sooki soll als Dienerin in einem japanischen Haushalt arbeiten. Als allererstes bekommt sie und damit auch das Kinopublikum von der Hausvorsteherin eine Führung durch das gewaltige Gebäude. Sie lernt alles kennen, die kostbaren Räume, ihre erlesenen Einrichtungsgegenstände, aber auch Orte, die mit abgründigen Anekdoten verknüpft sind wie ein Kirschbaum im Garten, an dem, wie es heißt, die Tante der jetzigen Hausherrin sich erhängt habe.

Zentral ist der Fetischismus der Objekte - und hier wieder die kostbare Bibliothek des Onkels ihrer zukünftigen Herrin, eines berühmten Büchersammlers.

Der Betrug als Medium der Liebe

Sie selbst bekommt in dem Gebäude eine kleine fensterlose Kammer zugewiesen, direkt neben dem Schlafzimmer ihrer Herrin. Sie soll dieser schließlich jederzeit zur Stelle sein. "A good maid" heißt es, "is like chopsticks - her presence you do almost not realize, but her absence is cause of distress." Diese Herrin, eine Japanerin namens Hideko, ist eine unverheiratete Frau - und Erbin eines großen Vermögens.

Sehr kurz nach dieser Exposition wendet sich das Blatt: Sookis Erzählungen aus dem Off machen klar, dass ihrer Ankunft ein großer Schwindel zugrunde liegt: Die junge Dienerin wuchs als Waisenmädchen in einer Gangsterbande auf und ist eigentlich eine perfekt ausgebildete Taschendiebin, die bereits im Alter von fünf Jahren echte Edelsteine von falschen unterscheiden konnte, und die auch alle anderen ausgefeilten Tricks ihres Gewerbes kennt. Als Zuschauer wissen wir nun, dass sie in den Haushalt eingeschleust wurde, weil es eine kriminelle Verschwörung gegen Lady Hideko gibt, die sie um ihr reiches Erbe prellen soll.

Doch dann bekommt die Story eine weitere radikale Wendung: Bald erblühen zwischen den beiden Frauen nämlich Gefühle, die weit über ihr Dienstverhältnis hinausgehen - "All diese Knöpfe sind nur zu meinem Vergnügen da" - und die alle anderen Pläne zweitrangig machen. Oder ist auch das nur eine optische Täuschung? Ist alles noch einmal wieder ganz anders? "Verdammte Scheiße. Er hatte mir nicht gesagt, dass sie so schön ist." Der Betrug als Medium der Liebe.

De Sade in Asien

Dies ist, in mehreren Kapiteln erzählt, eine Geschichte der Vexierspiele und Perspektivwechsel, der Wendungen und vielen Überraschungen. Das Herrenhaus spielt darin eine Rolle mit seinen vielen Räumen und deren grundverschiedenem Charakter, der Onkel und seine Bibliothek, die Organisation und der Auftraggeber Sookis und ein Irrenhaus, von dem gesagt wird, es sei "constructed by the rational Germans".

Wie die titelgebende Taschendiebin Sooki täuscht auch der Film ein ums andere Mal, bedient sich Finten und Umkehrungen. Überaus virtuos erzählt Regisseur Park Chan-wook, der einst mit dem Film "Old Boy" berühmt wurde, im Kern eine komplexe Liebesgeschichte, die sich mit dem Sujet eines romantischen Kriminalthrillers verbindet.

Denn auch Hideko hat offenbar noch andere Seiten: Sie erlebte ihre sehr persönliche Form sexueller Initiation durch ihren Onkel, den Bücherfreund, indem dieser sie dafür trainierte, in perfekter Geisha-Aufmachung stundenlang vor einem exquisiten Kreis von Gästen aus seiner Bibliothek zu lesen, genauer gesagt aus deren expliziter erotischer Literatur, Werken wie "Decadent Girls Sell Lingerie" oder die des Marquis de Sade. Die darin geschilderten Positionen demonstriert sie dem Publikum mit Hilfe einer Holzpuppe.

"Die Taschendiebin" ist ein Film voller Eleganz und Tempo, Drive und Dynamik, getrieben von schöner Musik und bemerkenswerter Inszenierungskunst. Zudem ist es eine koreanisch-japanische Liebesgeschichte, noch dazu eine unter Frauen, in Asien immer noch schon als solche ein Tabubruch.

Fetischismus im Zentrum

Auch hier aber steht, wie meist in Parks Filmen, der Fetischismus im Zentrum. Der des Zuschauers versteht sich: Denn alles hier ist vom Kameramann Chung Chung-hoon mit großer Sorgfalt und Eleganz komponiert, es ist opulent inszeniert, prachtvoll ausgestattet und anzusehen: Die kostbaren Bücher der Bibliothek des Hauses, die Wandgemälde, Möbel und Tapeten und selbst ein riesiger Octopus, der einmal in einem viel zu kleinen Aquarium im für die Story bedeutenden Keller des Onkels auftaucht.

Dies ist auch als lustiges Selbstzitat des Regisseurs herrlich (denn in "Old Boy" wurde ein kleiner Octopus lebendig gegessen), und bezogen auf andere Selbst-Zitate: Schwarze Tinte im Mund des Onkels, eine Zahnbehandlung, und natürlich die von Park gewohnten höchst expliziten Folterszenen. Hinzu kommen japanische Malerei, kunstvoller Buchdruck, Musik von Mozart und Rameau sowie vor allem die nackten Frauen- und Männerleiber bei den gelegentlichen, vergleichsweise expliziten Sexszenen.

Bild: © The Jokers / Bac Film

Dieser Sex ist wie die betreffenden Körper sehr photogen, also nicht politisch korrekt, daher umso schöner und erotischer anzusehen - selbstverständlich hat "Die Taschendiebin" seine Soft-Porno-Momente, ab er darüber kann sich nur ernsthaft aufregen [1], wer erstens es prinzipiell doof findet, wenn Männer Filme über Frauen machen, zweitens komplett übersieht, dass Park Chan-wook auch richtige Porno-Momente in dem Film hat: explizite Rein-Raus-Bewegungen.

Allerdings ist es ein Finger, der hier in einem fremden Mund rein-raus-geführt wird: Als Hideko, in der Badewanne liegend, von ihrer Dienerin gewaschen wird, beklagt sie sich über einen spitzen Zahn der sie schmerzt. Sooki weiß Abhilfe und steckt ihren mit einem Fingerhut ummantelten Zeigefinger ganz langsam, ganz tief in den Mund ihrer Herrin. Sie reibt an deren Backenzahn, schiebt ihren Finger immer wieder hinein und zieht ihn hinaus, um so den Zahn liebevoll anzufeilen - ein Exzess, so explizit wie subtil.

Die Geschichte des Auges

Später dann wird es noch deutlicher, intimer: Ein Blick bleibt stehen, ein Atemzug verharrt, ein Finger streicht über einen Ellenbogen und bleibt dort liegen. Und schließlich taucht Sookis erregtes Gesicht mit halb geöffnetem Mund und ein wenig erigierter spitzer Zunge zwischen Hideko Schenkel, dann ein Schnitt, dann blickt das durch die Kamera vermittelte Auge des Zuschauers aus der Perspektive zentriert aus Hidekos Vagina.

Die Geschichte des Auges zeigt weitere Facetten. Denn nicht minder erotisch, mitunter sogar noch deutlicher aufgeladen ist die Nacktheit, die man nicht zu sehen bekommt, die aber unsere Vorstellung prägt. Das Pendant zu derartigem vorgestellten, vor allem aber dem gezeigten Objekt bildet der Blick: ohne Voyeurismus kein Fetischismus.

Der größte Fetisch ist das Haus, doch dies ist zugleich eine einzige große Blickmaschine. Weil dieser Film größtenteils in Innenräumen spielt, überwiegen dunkle, vor allem braune Farbtöne. Sie sind eng und insofern klaustrophobisch angehaucht, es wird fortwährend eingeengt, und umgekehrt geöffnet - diese Bewegung ist wie ein Atmen der Gegenstände.

Wer zuletzt blickt, blickt am stärksten

Es gibt entsprechend in diesem Haus, wie es sich uns im Film zeigt, lauter Fenster, Türen, Fensterspalten und Schlüssellöcher, es stehen Ferngläser und es öffnen sich Gucklöcher. Es wird fortwährend beobachtet, und Beobachtung reflektiert. Die Menschen erfahren sich als Objekt, und wie in Jean Paul Sartre klassischem Kapitel über den Blick ("Sur le regard" aus "Das Sein und das Nichts") ist diese Erfahrung eine masochistische, gegen die man ich nur durch Zurückblicken zur Wehr zu setzen vermag.

Bild: © The jokers

Wer zuletzt blickt, blickt am stärksten - es geht am Ende hier um Erlangung oder Wiedererlangung der Souveränität durch die Figuren.

Park erfüllt insofern mit diesem Film alle Erwartungen an sein Kino und an das Kino überhaupt: "Die Taschendiebin" argumentiert in Bildern; dies ist ein Film der sinnlichen Gewissheiten, nicht so sehr der intellektuellen Analyse und psychologischen Triftigkeit, die auch die guten Filme europäischer und nordamerikanischer Regisseure oft im ästhetischen Würgegriff hält.

Trotzdem ist dies aber eben nicht nur Oberfläche, sondern auch ein in seiner Tiefe kluges, facettenreiches Kinokunstwerk.

Über die Titel herrscht Verwirrung. Der internationale "Handmaiden" ist pragmatisch wie ein Nietzsche-Leser es erwarten dürfte, der französische "Mademoiselle" der schönste, der deutsche "Taschendiebin" der hölzernste. Der koreanische Titel dagegen bedeutet in wörtlicher Übersetzung übrigens "unverheiratete Frau", und bezieht sich insofern im Gegensatz zum internationalen und deutschen Titel auf Hideko - oder zumindest auf beide Hauptfiguren. Dies ist nur ein zusätzlicher Beleg dafür, dass in dieser Art Kino alles im Auge des Betrachters liegt.


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[1] http://www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/thriller-die-taschendiebin-die-kleider-meiner-herrin/19204920.html