Der Coronatribalismus und die Übersterblichkeit
Andere Zeiträume legen andere Schlüsse nahe - vielleicht sind sie aber so oder so voreilig
Das Sars-CoV-2-Virus beeinflusst seit fast einem Jahr nicht nur die Körper von Infizierten, sondern in zunehmendem Ausmaß auch die Gemüter von Nichtinfizierten. Das führte dazu, dass Zahlen schnell "eingeordnet" werden. Die Art und Weise, wie das in traditionellen und sozialen Medien vor sich geht, erinnert manchmal an die Art und Weise, wie Politiker, Ökonomen, Medien und Finanzdienstleister in den 1990er und 2000er Jahren für oder gegen Aktien argumentierten (vgl. Anlagetipps von Glos und Steinbrück): Man sucht sich jeweils den Zeitraum heraus, der für den eigenen Glauben am besten passt.
New York Times vs. Bundesamt für Statistik
Die New York Times errechnete anhand von Durchschnittswerten aus den Jahren davor für 35 Länder die Übersterblichkeit in den Monaten März bis September/Oktober im ersten Coronapandemiejahr 2020. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass es unter anderem in Peru mit 133, in Bolivien mit 93 und in Ecuador mit 88 Prozent eine massive Übersterblichkeit gab. Für Ungarn, Tschechien und Deutschland gibt die Zeitung die Zahl der Toten in diesem Zeitraum als "normal" an.
Das deutsche Bundesamt für Statistik veröffentlichte dagegen "Sonderauswertungen", in denen es sich auf einzelne Monate konzentriert und unter anderem hervorhebt, dass es im April 2020 eine seinen Worten nach "deutliche" Übersterblichkeit gab, die im Mai verschwand und in der zweiten Oktoberhälfte längerfristig zurückkehrte. Außerdem wies die Behörde auf erhebliche Unterschiede unter den Bundesländern hin, wobei sie Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Baden-Württemberg als Negativbeispiele nannte.
"Der Blick auf die Sterbefallzahlen", so das Statistische Bundesamt in seiner Interpretation", "legt nahe, dass deren zeitweise Erhöhung in einem Zusammenhang mit der Pandemie stand". Das überzeugte unter anderem deshalb nicht jeden, weil die Behörde für die Darstellung auf ihrer Website nicht die altersverschiebungsbereinigten Zahlen verwendete (vgl. Keine Übersterblichkeit trotz Covid) und weil das Robert-Koch-Institut aus den teilweise höheren Übersterblichkeiten früherer Jahre regelmäßig eine deutlich höhere Zahl von Grippetoten behauptete, als Mediziner auf Totenscheinen attestiert hatten. 2018 waren so aus 1.674 Grippetoten 25.100 geworden.
Statistikbeeinflussendes Potenzial von Verkehrstoten eher gering
In früheren Jahren gab es aber weder Lockdowns noch vergleichbare staatliche Eingriffe in die Wirtschaft und die allgemeine Handlungsfreiheit, die die Verbreitung von Viren behindern sollten. Deshalb ist möglich, dass eine höhere Zahl an Toten wegen Covid-19 durch eine niedrigere an Toten durch andere ansteckende Krankheiten (vgl. Was gegen "Manspreading" und Grippewellen wirklich hilft), Verkehrsunfälle und Gewaltverbrechen teilweise aufgewogen wird.
Bezüglich der Zahl der Verkehrstoten meldete das statistische Bundesamt für den Zeitraum zwischen März und Juni mit 880 189 weniger als im Vergleichszeitraum 2019. Angesichts von zeitweise mehreren Hundert Toten täglich, die man auf Covid-19 zurückführt, wirkt das statistikbeeinflussende Potenzial dieses Effekts eher gering. Hinsichtlich der Tötungsdelikte ist von offizieller Seite lediglich zu erfahren, dass die Zahl der Morde, Totschlagsdelikte und Tötungen auf Verlangen 2019 bei 2.315 lag. Zu Verstorbenen durch Körperverletzung mit Todesfolge gibt es ebenso wenig eine Auskunft wie zu den Zahlen im ersten Coronajahr 2020.
Viren können auch auf indirektere Weise zum Tod führen
Im Gegenzug könnte es aber auch sein, dass es durch die Anti-Corona-Maßnahmen zusätzliche Tote gibt, die nicht am Sars-CoV-2-Virus sterben: Sie könnten sich beispielsweise unter den 74 Prozent der Übersterblichkeitstoten in Peru finden, die sich einer in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie nach nicht dem Virus zuordnen lassen. Oder den 35 Prozent der Übersterblichkeitstoten in Spanien und den 25 Prozent den USA, für die das ebenfalls gilt. Eine mögliche Erklärung für diese Toten wäre, dass Angehörige von Risikogruppen und ängstliche Menschen Arzt- und Krankenhausbesuche 2020 aus Angst vor einer Ansteckung auch dann mieden, wenn sie nötig gewesen wären. Die Isolation alter und kranker Menschen im Lockdown könnte auf die eine oder andere Weise ebenfalls zu dieser virusfreien Übersterblichkeit beigetragen haben.
Hinzu kommt, dass auch in Deutschland nur ein Teil der mit Sars-CoV-2 infizierten Toten genauer obduziert wird, weshalb nicht sicher feststeht, wer davon wirklich "an" und wer nur "mit" dem Virus starb. Wobei man berücksichtigen muss, dass die Erkrankung nicht nur durch direkt virusbedingtes Lungenversagen, sondern auch auf indirektere Weise zum Tod führen kann: In Hamburg zeigten Autopsien von zwölf Covid-19-Patienten beispielsweise, dass sechs davon eine vorher nicht diagnostizierte tiefe Beinvenenthrombose und drei davon eine daraus resultierende Lungenembolie hatten. Deren Symptome hielt man möglicherweise voreilig für direkt aus Covid-19 resultierende Atemschwierigkeiten und unterließ es deshalb vielleicht, mit Gerinnungshemmern, einer Fibrinolyse, einer Katheterbehandlung oder einer pulmonalen Embolektomie zu reagieren.
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