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Der Fall Morosow: Spioniert ein oppositioneller russischer Agent in Estland?

Wjatscheslaw Morosow. Bild: Universität Tartu

Der russische Professor wurde als mutmaßlicher Spion festgenommen. Die Uni in Tartu hat ihn entlassen. Dabei ist Morosow kritisch gegenüber dem Kreml. Was ist da los?

Wjatscheslaw Morosow ist ein anerkannter Experte auf dem Gebiet der internationalen Politik und lehrte an den Universitäten von Sankt Petersburg, Denver in den USA und zuletzt Tartu in Estland.

Studiert hatte er zuvor selbst unter anderem in Irland und widmete sich wissenschaftlich vor allem der Untersuchung der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und der EU.

Kein Unterstützer der Kreml-Außenpolitik

Morosow hat sich ablehnend gegenüber der russischen Invasion in der Ukraine verhalten. In einem Interview [1] mit der Onlinezeitung Posle von 2023 kritisierte er die aktuelle außenpolitische Strategie Russlands.

Sie gebe nur Russland, aber nicht der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung. Russlands Politik sei "aggressiver geworden", Russland versuche eine imperiale Identität aufzubauen, die nur für andere Völker und Kulturen offen sei, wenn sie "den Vorrang der russischen Kultur und des russischen Volkes als Rückgrat des Staates anerkennen".

Das imperiale Prinzip zeige sich auch in Putins Bemerkung, dass "Russlands Grenzen endlos sind".

Morosow als Oppositioneller

Dabei bewahrte sich Morosow jedoch auch einen kritischen Blick auf die Außenpolitik des Westens und konzentrierte sich auf die tiefere Analyse der weltpolitischen Vorgänge. Anders als viele westliche Kollegen befürwortete er jedoch nach dem Kriegsausbruch [2] die Fortsetzung des Dialogs zwischen westlichen und russischen Wissenschaftlern, um "Russland nach der Invasion der Ukraine am 24. Februar zu verstehen".

Gleichzeitig pflegte er den Austausch mit russischen Oppositionellen, wie dem Moskauer Soziologen Grigory Judin.

Der Sankt Petersburger Historiker Iwan Kurilla bezeichnete seinen Kollegen [3] als "weltweit führend" in der politischen Analyse und eine Person, die sich "durch ausgewogene Urteile auszeichnet".

Ein weiterer russischer Kollege, Professor Dmitry Dubrowsky, sieht Morosow [4] als Mitglied einer "intellektuellen Opposition" in Russland. Er sei nie Politiker gewesen, habe aber "immer dafür gesorgt, dass sich in Russland Menschen mit kritischeren und unabhängigeren Köpfen heranwuchsen".

Russlandreisen werden zum Verhängnis

Trotz der zunehmenden Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, hielt sich Morosow regelmäßig weiter in Russland auf. Dort leben nach Informationen der Sankt Petersburger Onlinezeitung Bumaga seine Eltern, während der Professor mit seiner Frau mittlerweile in Estland wohnt.

Die Reisen wurden ihm zum Verhängnis, denn die estnische Staatsanwaltschaft wirft ihm jetzt vor, in Russland Kontakt zu den russischen Geheimdiensten gehabt und ihnen geheime Informationen aus Estland geliefert zu haben. Einzelheiten zu den Vorwürfen gaben die estnischen Behörden, die sich auf noch laufende Ermittlungen berufen, nicht bekannt.

Die Chefin der estnischen Sicherheitspolizei Margot Pallson riet dazu [5] in der estnischen Onlinezeitung ERR, Reisen nach Russland zu überdenken, da die ernsthafte Gefahr bestehe, unter den Druck russischer Geheimdienste zu geraten.

Sowjetisches Erbe in Estland?

Eine Theorie, an die etwa Dmitry Dubrowsky glaubt, geht davon aus, dass Morosow vom russischen Geheimdienst erpresst worden sei und habe wenn, dann nur deswegen Informationen geliefert. Morosow wolle sich nun mit den Strafverfolgungsbehörden außergerichtlich einigen, so Dubrowsky.

Nicht mit Morosow solidarisiert, sondern diesen sofort nach Erhebung der Vorwürfe entlassen, hat ihn sein Arbeitgeber, die Universität Tartu in Estland. Sie betont in ihrer Begründung vor allem den Schaden für Estland durch russische Agenten.

Iwan Kurilla sieht die Entlassung, noch bevor ein Schuldnachweis vorliegt, sehr kritisch. "Die Universität hat mit dieser Praxis bewiesen, dass ihr sowjetisches Erbe stärker ist, als ihr europäisches".


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9601523

Links in diesem Artikel:
[1] https://posle.media/language/en/anti-western-in-form-neoliberal-in-content/?fbclid=IwAR2nr3Nmn0PDIU5BdFDhaL_3FzZLVm2Gg3Pa5LD5i8JY2Slze2nopFSFZBE
[2] https://www.facebook.com/viacheslav.morozov.14/posts/pfbid028mzuvUKFb7LNRtLF7nQEdpBVuqw8ijMWit2jNfb6kLFfz5HvFC9Sx2nBeZAJwzjEl
[3] https://www.facebook.com/ivan.kurilla.9/posts/pfbid02vAwnXMadoyFTd2tSKzkh6wCfZMRPQRpoTLkLs4MyYccjYYQM268Hh4R8SceDZ87Ml
[4] https://storage.googleapis.com/istories/news/2024/01/16/v-estonii-po-delu-o-shpionazhe-zaderzhali-rossiiskogo-postkolonialnogo-issledovatelya-vyacheslava-morozova-on-zanimalsya-kritikoi-imperskogo-naslediya-rossii/index.html?utm_source=telegram&utm_medium=mainpage
[5] https://rus.err.ee/1609223588/professora-tu-vjacheslava-morozova-zaderzhali-po-podozreniju-v-rabote-na-rossijskie-specsluzhby