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Der Faschismus und wir: "Alles bewältigt und nichts begriffen"

Frank-Walter Steinmeier 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Bild: bundespraesident.de (Screenshot)

Die Karriere der bundesdeutschen NS-Vergangenheitsbewältigung – von einer lästigen Pflicht zur hochgeschätzten "Erinnerungskultur": ein Paradefall imperialer Selbstgerechtigkeit

Seit Adenauers Zeiten muss das bundesdeutsche Nationalbewusstsein eine Pflichtübung absolvieren, nämlich zwölf dunkle Jahre bewältigen, damit das geläuterte Deutschland umso heller strahlt. Bundespräsident Steinmeier, der ein Virtuose dieses erinnerungspolitischen Betriebs ist, wurde also am 13. Februar gerechterweise wiedergewählt.

Die alternativen Nationalisten von der AfD wollen das, national borniert wie sie sind, nicht einsehen, und beklagen sich stattdessen über einen "Schuldkult". Wie ein AfD-Abgeordneter im Bundestag verlauten ließ, handle es sich bei Steinmeier um einen "Spalter und Hetzer", den "schlimmsten Bundespräsidenten aller Zeiten" (SZ, 2.2.2022). 2020 hatte bereits ein AfD-Landtagsabgeordneter anlässlich von Steinmeiers Rede in Yad Vashem gefordert [1]: "Schluss mit dem deutschen Schuldkult".

Dabei könnte man am Fall des (jetzt weiter) amtierenden Präsidenten gerade feststellen, welche imperiale Wucht die hochgeschätzte deutsche Erinnerungskultur entfaltet, die inzwischen auch anderen Nationen als Vorbild empfohlen wird. Ältere und neuere kritische Analysen gibt es dazu. Hier einige Hinweise.

"Ein Wunder der Versöhnung"

1997 veröffentlichten die Erziehungswissenschaftler Rolf Gutte und Freerk Huisken eine umfangreiche Bestandsaufnahme, die den Bildungsbetrieb, aber vor allem das geschichtspolitische Interesse des NS-Nachfolgestaates BRD ins Visier nahm. Was die beiden Experten unter dem programmatischen Titel Alles bewältigt, nichts begriffen! [2] zusammentrugen, ist allerdings keine der üblichen Defizitmeldungen, die wieder einmal bestätigt, dass zu wenig in puncto Aufarbeitung der Vergangenheit geschehen ist.

Antifaschistische Erziehung wurde nicht nur in der DDR (die damit ihre Gründung veredelte), sondern auch in der Bundesrepublik zum Staatsauftrag. Sie hatte aber, so Gutte/Huisken, nicht die Erklärung – und damit die Kritik – des faschistischen Herrschaftssystems zum Ziel, sondern das Programm, eine unbequeme Vergangenheit zu bewältigen.

Auf diese Weise pflegte der Verliererstaat des Zweiten Weltkriegs also seine politische Moral und trug sie als Ausweis seiner demokratischen Läuterung auf dem seit der Wiedervereinigung beendeten Weg zur "Normalisierung" nach außen und innen vor. Gemäß dieser staatspolitischen Vorgabe erging der Auftrag an die Pädagogik – und diese hat somit "nicht aufgeklärte Faschismuskritiker, sondern deutsche Nationaldemokraten hervorgebracht", so die Autoren, siehe auch die Website von Huisken [3].

Die alte BRD hat sich allerdings immer wieder schwergetan mit diesem Programm. Und auch nach der Vereinigung von West- und Ostdeutschland, die einen Aufschwung der einschlägigen Geschichtspolitik mit sich brachte, hat man für die Großtat, ein Holocaust-Mahnmal in der Hauptstadt zu platzieren, immerhin noch anderthalb Jahrzehnte gebraucht.

Mittlerweile ist jedoch eine "antitotalitär" angelegte Erinnerungskultur etabliert, die sich selber über den grünen Klee lobt. Das führte etwa 2020, als der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren gedacht wurde, Bundespräsident Steinmeier im Bundestag exemplarisch vor. Er beschwor das "Wunder der Versöhnung" und diese Selbstbeweihräucherung ging allseits – die AfD eingeschlossen – unwidersprochen durch [4]

Bei diesem Wunder gibt es aber eine bemerkenswerte Lücke, die auch bei dem genannten Gedenktag hätte auffallen müssen: Auschwitz wurde ja von der Roten Armee befreit, die aber anders als der Staat Israel mit seinem hochgerüsteten Militärapparat keinen Ehrenplatz in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik einnimmt.

Im Gegenteil, beim Blick nach Osten, wo die deutsche Wehrmacht mit einem rassistischen Vernichtungskrieg wütete, der 27 Millionen Menschen das Leben kostete, ist das hiesige Gedächtnis nicht mit Schuld belastet, muss auch nicht in sich gehen, mit Stolpersteinen immer wieder an die damalige Zeit erinnert oder mit Besuchen der Schuljugend auf Friedhöfen wach gehalten werden. Es wird vielmehr eine Feindbildpflege betrieben, die die alten antibolschewistischen und antirussischen Stereotype gegen das "autokratische" Regime im Kreml munter fortführt.

Der alte Feind ist der neue

Dass es in der Hinsicht stets einen lockeren Umgang mit dem NS-Gedenken gab, dass von einer Last deutscher Schuld keine Rede sein kann, war übrigens 2021 vom Bundespräsidenten selber zu erfahren, woran jetzt eine neue Streitschrift zur Kritik der deutschen Erinnerungskultur erinnert ("Ein nationaler Aufreger [5]").

Der Autor, Johannes Schillo, der auch für Telepolis schreibt, verweist dazu auf die feierliche Rede, die Steinmeier 2021 zum 80. Gedenken an das "Unternehmen Barbarossa", den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Sowjetrussland am 22. Juli 1941, hielt.

Bei diesem offiziellen Gedenkakt, der auch zum ersten Mal in besonderer Weise an das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen erinnerte, stellte Steinmeier fest: "Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen Sowjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid – und unsere Verantwortung – es fordern." (Rede Frank-Walter Steinmeiers vom 18.6.2021 [6])

In der Tat, das bundes-, d.h. westdeutsche Gedächtnis hat sich mit diesen Millionen Toten nie belastet, das hat jüngst ein Kommentar [7] zur aktuellen antirussischen Feindbildpflege des Westens noch einmal hervorgehoben. Dabei kam auch der bemerkenswerte Umstand zur Sprache, dass sich gerade der oberste Organisator des bundesdeutschen Erinnerungsbetriebs, der die Verantwortung für die Ausgestaltung der Geschichtspolitik trägt, en passant zu einem solchen Defizit bekennt. Bemerkenswert zudem, dass aus der wachsamen Öffentlichkeit hier keine Nachfragen kamen und dass sich keiner für den offenkundigen Widerspruch interessierte.

Die neue Streitschrift zum "nationalen Aufreger" der Vergangenheitsbewältigung verweist darauf, wie Steinmeier 2021 die fällige Verneigung vor den sowjetischen Opfern ganz im Geist einer imperialen Selbstgerechtigkeit über die Bühne brachte. In einem Interview stellte er bereits vor der offiziellen Gedenkveranstaltung, und in Verbindung mit möglichen Sanktionen bei Nord Stream 2, klar, dass das deutsche Schuldeingeständnis in keiner Weise ein Zugeständnis an Putin einschließt. Deutschland habe damals moralisch schwer gefehlt, aber "das rechtfertigt kein Fehlverhalten der russischen Politik" (Rheinische Post, 6.2.2021).

Erinnerung als nationaler Besitzstand

Die einzelnen Methoden, das bundesdeutsche Erinnerungswesen je nach weltpolitischem Bedarf in Stellung zu bringen, werden in der Schrift der "Edition Endzeit" aufs Korn genommen. Auch wird der grundsätzliche Auftrag der Nationalbewusstseinsbildung kritisiert.

Die Erinnerungskultur, mit ihrem Zentrum, der Singularität von Auschwitz, und der unbedingten Israel-Solidarität als Folge, gilt ja als nationaler Besitzstand, den sich Deutschland nicht nehmen lassen will. Man weiß eben, was man daran hat. Das zeigte sich vor einigen Jahren, als der israelische Premierminister den Deutschen gewissermaßen das Angebot machte, sie aus ihrer Verantwortung für den Holocaust zu entlassen.

Hitler habe "zunächst nur eine Vertreibung und keinen Massenmord an den Juden geplant", sagte Netanjahu 2015 in einer viel beachteten Rede; der palästinensische Großmufti von Jerusalem habe Hitler aber zur systematischen Vernichtung der Juden gedrängt. Mit seinen Einlassungen wollte Netanjahu zeigen, "dass der Vater der palästinensischen Nation schon damals, ohne Staat und ohne sogenannte ‚Besatzung‘, mit systematischer Hetze zur Vernichtung der Juden aufrief". (Handelsblatt, 21.19.2015)

Das Dementi der Bundesregierung kam prompt, diesen Besitzstand lässt man sich nicht nehmen. "Wir wissen um die ureigene deutsche Verantwortung an diesem Menschheitsverbrechen. Ich sehe keinen Grund, dass wir unser Geschichtsbild in irgendeiner Weise ändern", sagte Regierungssprecher Seibert.

In der neuen Analyse des nationalen Aufregerthemas kommt auch die in der öffentlichen Diskussion anerkannte Notwendigkeit zur Sprache, im Hinblick auf die aktuell angesagte Feindbildpflege nachzujustieren. Die Forderung, die großartige Erinnerungskultur einer "Renovierung" zu unterziehen, gehört ja seit geraumer Zeit – von Harald Welzer bis Björn Höcke – zum Standardrepertoire der politischen Kultur.

Das geht bis dahin, dass bei Gelegenheit schon mal der Wert des Vergessens hervorgehoben wird. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.1.2022) ließ etwa jüngst einen Historiker daran erinnern, es sei langsam angebracht, "nach der Pflicht zum Erinnern auch an das Recht auf Vergessen zu erinnern".

Den Erinnerungsbetrieb ganz einstellen will natürlich keiner, auch die FAZ nicht. Sie hält zum Beispiel in einem Kommentar zu den "Lehren der Vergangenheit" (28.1.2022) fest: "Der Auschwitz-Imperativ ist nicht nur Leitlinie für die Gründung der Bundesrepublik gewesen, sondern auch zur Richtschnur außen- wie innenpolitischer Entscheidungen geworden", um ein paar Zeilen später die "Regierung Scholz" dafür zu kritisieren, dass sie in der Ukraine-Krise "die deutsche Vergangenheit als Grund für Zurückhaltung" anführt.

Man sieht, wie passend es ist, wenn Steinmeier in seinen Reden die damalige imperialistische Politik, die die Größe Deutschlands durch neuen "Lebensraum" herstellen wollte, auf nichts anderes als eine unbegreifliche, scheusalhafte Mördergesellschaft herunterbringt: auf das absolut Böse, das in seiner zweckfreien "mörderischen Barbarei" und mit seinen – von heute aus völlig unbegreiflichen – rassistischen Kriegszielen die "Unmenschlichkeit zum Prinzip" erhoben habe. Das heutige Deutschland dokumentiert damit eben, dass es zu den Guten gehört, und kann daher mit nationalem Selbstbewusstsein auftreten.

Wie auch schon zuvor bei Steinmeiers Auschwitz-Gedenkrede in Yad Vashem 2020 wird "das Böse" als eine Macht beschworen, die sich vor 80 Jahren in Deutschland breit machte. Mit diesem billigen Moralismus, das führt Ko-Autor Manfred Henle in der neuen Publikation aus, werden nicht nur die damaligen imperialistischen Kalkulationen, die der modernen Staatenwelt (die BRD inbegriffen) gar nicht fremd sind, zum Verschwinden gebracht; Sondern es wird automatisch die eigene Güte unter Beweis gestellt.

Wer sich so geläutert hat, kann sich dann ganz im Sinne der FAZ völlig unbelastet in alle möglichen Konfliktlagen auf dem Globus einmischen – gerade auch da, wo er in der Vergangenheit schweres Unrecht begangen hat. Steinmeier in seiner offiziellen Gedenkrede: "Wir erinnern nicht mit dem Rücken zur Zukunft, sondern wir erinnern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wieder ein solcher Krieg!" Nein, solche Kriege, bei denen man alleinsteht und auch noch verliert, hat das neue Deutschland nun wirklich nicht vor.

Henle schließt daher seinen Beitrag über das deutsche Gedenken an das "Unternehmen Barbarossa" mit einem Hinweis auf das überaus gute Gewissen, das der Westen hat, wenn er sich gegen das störende russische Regime aufstellt. Nach den neuesten Ansagen aus Nato oder EU soll die Welt ja keine Staatsmänner mehr nötig haben, die sich als "Killer" (Biden über Putin) aufführen, sondern etwa Frauen, die sich – wie die neue deutsche Außenministerin – im Völkerrecht auskennen. Baerbock im Vorwahlkampf:

"Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht." Das Fazit der neuen Streitschrift dazu: Ist das gewissenhaft geprüft, dann steht auch einer notfalls nuklearen Auseinandersetzung mit dem Aggressiven und Bösen nichts mehr im Wege!

Frank Bernhardt ist Pädagoge und schreibt für die Hamburger Lehrerzeitung (hlz) der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), LV Hamburg, sowie fürs GEW-Magazin Auswege.


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https://www.heise.de/-6457375

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tag24.de/nachrichten/afd-alternative-fuer-deutschland-stefan-raepple-holocaust-gedenktag-schuldkult-steinmeier-shitstorm-1369744
[2] https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/alles-bewaeltigt-nichts-begriffen/
[3] http://www.fhuisken.de/
[4] https://www.heise.de/tp/features/Kulturkampf-von-rechts-4657804.html
[5] https://www.klemm-oelschlaeger.de/epages/79140548.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/79140548/Products/978-3-86281-173-1
[6] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2021/06/210618-D-Russ-Museum-Karlshorst.html
[7] https://krass-und-konkret.de/politik-wirtschaft/deutschland-bleibt-sich-treu-und-der-neue-feind-der-alte-russland/