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Der Feind in meiner Diskussion

Einen emanzipatorischen Anspruch haben viele in der Politik. Doch ihnen steht der Niedergang der Debattenkultur im Weg. Was nun getan werden kann

Angesichts der eskalierenden Kriegsgefahr drängt sich immer mehr die Frage auf: Wieso gibt es keine starke Friedensbewegung? Im Frühjahr 2014 bildeten sich immerhin aufgrund der damaligen Zuspitzung um die Ukraine zahlreiche örtliche Mahnwachen für den Frieden.

Deren politisch diffuser Charakter beziehungsweise die Versuche einer Vereinnahmung von rechtslastigen Kräften führten aber auch zu heftigen Kontroversen in der Friedensbewegung, die bis heute nachwirken.

Dieses muss auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass über das Pro und Contra der Mahnwachen und dabei verwendete Schlagwörter wie "Querfront" kaum direkte Gespräche im offenen Dialog geführt wurden.

Trotz der gegenüber 2014 noch wesentlich verschärften Kriegsgefahr – bei der wiederum die Ukraine eine Hauptrolle spielt – ist diese in der öffentlichen Wahrnehmung erschreckend wenig präsent. Eine zentrale Rolle spielt dabei der in den letzten Jahren erfolgte Niedergang der Debattenkultur.

"Cancel Culture" als neue Wortschöpfung

Diese Entwicklung ist international zu beobachten und kann an dem aus den USA stammenden Begriff "Cancel Culture" festgemacht werden. In Deutschland gibt es hierfür inzwischen sogar eine eigene Internet-Plattform mit dem Titel cancelculture.de [1], wo sich eine umfangreiche Sammlung der Umgangsformen gegenüber Einzelpersonen findet. Dort heißt es:

Cancel Culture ist die Bezeichnung für eine Debattenkultur, bei der Meinungen nicht kritisiert, sondern unterdrückt werden.

Kritik, auch scharfe Kritik, ist der Kern jeder echten Debatte. Diffamierung, Drohung, Deplatforming, Sprachvorschriften, Zensur und vorauseilender Gehorsam sind die Instrumente der Cancel Culture [...]

Cancel Culture ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit und damit unabhängig von der politischen Stoßrichtung ein Problem. Derzeit überwiegen Fälle, bei denen Betroffene sich selbst im Meinungsspektrum eher rechts sehen oder von den Angreifern dort gesehen werden. Es gibt aber auch CC-Angriffe gegen links und solche, die sich im ohnehin brüchig gewordenen Links-Rechts-Schema schwer einordnen lassen.

Diese Charakterisierung bezieht sich vorwiegend auf innenpolitische Debatten und aktuell im Streit um die deutsche Corona-Politik sowie dem medialen Umgang mit den massiven Protesten gegen eine Impfpflicht bzw. eine Bewertung der Impfgegner.

"Bewährte" Kriegspropaganda mit Feindbildern

Außen vor bleibt dabei, dass vor allem Kriegspropaganda, wie sie aktuell (wieder) auf Hochtouren läuft, mit personalisierten Feindbildern arbeitet.

Beispielhaft wurde dieses zum Höhepunkt der Ukraine-Krise 2014 auf einem Titelfoto [2] des Friedensjournals dargestellt, mit der medialen Darstellung von "Licht"- und "Dunkel"-Gestalten der internationalen Politik.

Bereits damals fungierte "Kreml-Chef Putin" als der Super-Bösewicht, wie man ihn ansonsten nur aus James-Bond-Filmen kennt. So werden natürlich auch Jüngste Forderungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin (wie es im allgemeinen Sprachgebrauch eigentlich respektvoll heißen müsste) nur verzerrt kommentiert wiedergegeben.

Was er tatsächlich zur Deeskalation des aktuellen Konfliktes rund um die Ukraine vollumfänglich gesagt hat, erfährt man nicht. Ganz zu schweigen von der Historie, wie etwa, dass Wladimir Putin 2001 im Deutschen Bundestag eine Rede hielt, die mit stehenden Ovationen von allen Abgeordneten aufgenommen wurde.

Debattenkultur in der Partei Die Linke

In der Partei Die Linke tobt seit Längerem ein personenbezogener Streit, der nach dem Desaster der letzten Bundestagswahl noch an Schärfe zugelegt hat. Betroffen sind davon sowohl Prominente wie Sahra Wagenknecht als auch diejenigen, die hauptsächlich friedenspolitisch bisher eine starke Stütze für die Friedensbewegung waren.

Über die Entwicklungen in ihrer Partei schrieb die linke Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen [3] in einem Zeitungskommentar:

Kritik an Auslandseinsätzen der Bundeswehr wie an den Kriegen um Rohstoffe und geopolitischen Einfluss der USA und ihres Juniorpartners Deutschland unterbleibt. Statt dessen wird versucht, Die Linke als liberale Menschenrechtspartei aufzustellen, wobei die sozialen Menschenrechte etwa der über 800 Millionen Hungernden weltweit nicht mehr explizit hervorgehoben und Krieg als größte Menschenrechtsverletzung nicht mehr als Problem benannt werden. [...]

Die USA werden als Land, dessen prekäre Menschenrechtslage und mörderischen Rassismus Die Linke kritisiert, nicht mehr benannt. Statt dessen gilt die Sorge etwa der Presse- und Meinungsfreiheit in Nicaragua, Bürgerrechten in Russland oder Gewerkschaftsrechten in China.

Zum Verständnis dessen, was Dagdelen hier beklagt, muss man den Generationswechsel in der Mitgliederstruktur dieser Partei sehen. Dass diese mittlerweile einen starken Zulauf durch junge Mitglieder hat, ist auf den ersten Blick erfreulich. Allerdings ergeben sich damit auch zunehmend Defizite in der politischen Bildung.

Statt eines tiefer gehenden Verständnisses von politischen Prozessen, mit den dahinter stehenden Interessen und dem Kontext historischer Entwicklungen, beschränkt sich politisches Engagement zunehmend auf moralisierende Positionierungen.

Friedenspolitische Debattenkultur und die AfD

Der Streit darüber, inwieweit von Friedensbewegten eine Abgrenzung nach rechts erfolgen muss, konzentriert sich mittlerweile verstärkt um den Umgang mit der AfD. Einerseits gibt es zwischen dieser Partei mit ihrer offen militaristischen und rassistischen Programmatik keinerlei Schnittmengen zur Friedensbewegung.

Andererseits führt die zunehmende Äquidistanz gegenüber Russland durch die Partei Die Linke dazu, dass sich die AfD zunehmend als Opposition gegen eine antirussische Außenpolitik profilieren kann.

Kritik im Bundestag findet sich dabei zwar auch noch stark vertreten in der SPD, auf Fraktionsebene mittlerweile nur noch bei den Linken und der AfD, letztere aber lediglich als Sprachrohr bestimmter Kapitalinteressen.

Bei der entscheidenden Frage nach dem aggressiven Charakter der Nato dürfte es künftig sogar überhaupt keine Fraktion im Bundestag mehr geben, die man als Rückgrat der Friedensbewegung ansehen könnte.

Covid-19-Impfgegner und demokratische Grundrechte

Die Ablehnung von Covid-19-Impfungen vereint ein breites Spektrum: Angefangen von klassischen Gegnern der Schulmedizin und Anhängern der Anthroposophie über berechtigtes Misstrauen gegenüber der Pharmaindustrie bis hin zum legitimen Beharren auf Eigenverantwortlichkeit.

Wer dieses pauschal als neoliberal individualistisch und gesellschaftlich unsolidarisch abqualifiziert, befürwortet in der Konsequenz letztlich auch Berufsverbote für Pflegekräfte, bei denen die Ablehnung von Covid-19-Impfungen stark ausgeprägt ist. Wohlgemerkt geht es hierbei nicht darum, wie man die deutsche Covid-19-Politik als solche im internationalen Vergleich bewertet, denn dieses ist auch im Umfeld der Friedensbewegung sehr umstritten.

Differenzierte Sichtweise statt Cancel Culture!

Wenngleich durch die Abwesenheit von linken Kräften vor allem im Osten Deutschlands die AfD bei den Corona-Protesten mittlerweile eine starke Rolle spielt, muss man einen Blick auf dort vorgebrachte Forderungen richten. Beispielsweise finden sich bei der Bewegung "München steht auf [4]" folgende auf deren Homepage dokumentierte Ziele:

Wie sehen wir die Zukunft

• Die Menschen überwinden friedlich ihre Differenzen und finden zu einer funktionierenden transparent kooperativen Gesellschaft zusammen.

• Die Menschen gehen achtsam miteinander um.

• Medien und Politik gehen respektvoll sowohl miteinander als auch mit der Bevölkerung um.

• Die Moralkompetenz der Menschen ist wiederhergestellt.

• Es besteht ein vielfältiger öffentlicher Diskurs, der unsere Gesellschaft widerspiegelt.

• Angestellte und Arbeiter in den sozialen Berufen werden als wichtige Bausteine unseres Zusammenlebens gewürdigt.

Neue soziale Bewegungen auch in anderen Ländern

Auch in anderen Ländern haben sich in den letzten Jahren neue soziale Bewegungen herausgebildet, wie etwa die Ende 2018 in Frankreich entstandene und sofort als rechtslastig verschriene Gelbwestenbewegung. Überhaupt nicht thematisiert wurde hierzulande hingegen, dass diese Bewegung massiver Polizeigewalt und damit einer massiven Beschneidung demokratischer Grundrechte ausgesetzt war.

Die Kritik an der staatlichen Pandemiepolitik hat bereits 2020 zu Massenbewegungen in mehreren Ländern geführt. Aus Italien gibt es dazu eine interessante Analyse, die in einem Gespräch mit dem Autorenkollektiv Wu Ming [5] (Jungle World vom 11.11.2021) dokumentiert ist. Darin heißt es:

In ihrem Bestreben, sich von diesen Demonstrationen zu distanzieren, hat eine gewisse Social-Network-Linke ihre Verachtung für persönliche Freiheiten, die als "bürgerliche" Freiheiten gelten, zur Schau gestellt.

Man muss vorsichtig sein, welche Begriffe man in abwertender Weise verwendet. Individualismus und Egoismus sind eine Sache; die Sphäre der Autonomie, die jeder Mensch genießen muss, ist eine andere.

Ohne diese Unterscheidung kommt es zu einer schrecklichen Verwirrung und wir enden damit, dass wir den Autoritarismus befürworten, noch dazu in einem kapitalistischen Kontext, ohne auch nur den Vorwand der Diktatur des Proletariats!

Wichtig ist vor allem, dass diese Art der Pandemiebewältigung die kollektive und soziale Dimension angreift, die Beziehungen zwischen den Menschen. "Freiheit" bedeutet in diesem Zusammenhang auch die Freiheit, gemeinsam zu leben, zu streiten, zu demonstrieren.

Sich darauf zu beschränken, dies alles als "faschistisch" zu bezeichnen, ist zumindest ein Zeichen von ideologischer Verblendung.

Fazit: ohne Dialogfähigkeit keine Friedensbewegung!

Die "alte" Friedensbewegung hat nur eine Chance, wenn der notwendige Generationswechsel sich in einer offenen Debattenkultur vollzieht. Ansatzweise ist dieses bisher nur in der Kampagne "Stopp Air Base Ramstein" der Fall. Das jährliche Friedenscamp im Rahmen der sommerlichen Aktionswoche vor Ort, war im letzten Jahr auch Debattenraum rund um Corona, was in diesem Jahr gleichfalls zu erwarten ist.

Aufklärung über Faschismus und dessen Zusammenhang mit Krieg und Kriegsvorbereitung erreicht man jedoch nicht, indem man die Protestierenden gegen die offizielle Corona-Politik pauschal als Nazis und Antisemiten verteufelt.

Ein aufklärerischer und emanzipatorischer Anspruch muss zuallererst gegen den dramatischen Niedergang der Debattenkultur durchgesetzt werden. Nur damit lässt sich auch für größere, politisch sensibilisierte Bevölkerungskreise vermitteln, welche dramatische, globale Kriegsgefahr derzeit besteht.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6343611

Links in diesem Artikel:
[1] https://cancelculture.de/
[2] https://www.frieden-und-zukunft.de/pdf/fj/FJ_2014-4.pdf
[3] https://www.sevimdagdelen.de/die-richtung-muss-stimmen/
[4] http://muenchen-steht-auf.de/
[5] https://jungle.world/artikel/2021/45/der-green-pass-ist-ein-reines-propagandainstrument/