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Der Frieden hat seinen Preis

US-Geheimverhandlungen mit Taliban

Der NATO-Krieg in Afghanistan ist mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen. Das hat sich zehn Jahre nach Kriegsbeginn selbst bei den Bellizisten rumgesprochen. Also muss der "Sieg" auf andere Weise errungen werden! Die US-Regierung setzt darauf, zwischen das Bündnis aus Taliban und al-Qaida einen Keil zu treiben, und hat dazu – wieder einmal - Geheimverhandlungen mit den Taliban aufgenommen: Divide et impera! Nun wollen die Taliban ein offizielles Büro im NATO-Staat Türkei eröffnen.

Die NATO als Opfer ihrer eigenen Kriegspropaganda

Noch am Abend des 11. September 2001 gaben die Taliban eine Erklärung heraus, in der sie sich von dem Anschlag distanzierten. Allerdings wurde diese Verlautbarung damals kaum beachtet. Stattdessen begann die US-Regierung sofort mit der Aktualisierung ihrer Kriegspläne. Am 7. Oktober 2001 begann der amerikanische Angriff auf Afghanistan (OPERATION ENDURING FREEDOM – OEF).

Die Operation hatte zwei Ziele, die al-Qaida aus Afghanistan zu vertreiben und das Taliban-Regime in Kabul zu stürzen. Mit dem Angriff auf Tora-Bora im Dezember 2011 flüchteten die letzten geschlossenen Einheiten der al-Qaida – mit stillschweigender Duldung des Pentagon - ins pakistanische Waziristan, wo vermutlich Osama Bin Laden und Ayman al-Zawahiri bis heute untertauchen konnten, so dass dieses Ziel nur bedingt erreicht werden konnte. Auch das zweite Ziel wurde nicht verwirklicht. Zwar konnten die amerikanischen Truppen das Taliban-Regime in Kabul stürzen und mit Hamid Karzai eine US-Import-Marionette installieren, aber das Land wird zu großen Teilen weiterhin von den Talibaneinheiten kontrolliert.

Es sind im wesentlichen sechs verschiedene Gruppierungen [1], gegen die die NATO-Truppen heute Krieg führen: die drei afghanisch-paschtunischen Organisationen Taliban (Mullah Mohammed Omar), "Hezb-e Islami" (Gulbuddin Hekmatyar) und das "Haqqani-Netzwerk" (Jalaluddin Haqqani), sowie die drei transnationalen Gruppierungen "Qaida al-Islami" (Osama Bin Laden), "Islamische Bewegung Usbekistan" (Usmon Odil) und deren Abspaltung "Islamische Dschihad-Union" (Abdallah Fatih).

"Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!", verkündete George Bush und in der Folge unterstellte die Kriegspropaganda der NATO, dass die Taliban und die al-Qaida eine Einheit seien. Nach der Militärlogik der NATO muss der Feind zerschlagen werden, um den "Terrorherd" Afghanistan ein für allemal auszumerzen, damit von afghanischem Boden keine weitere Terrorgefahr für die USA und die Staaten Europas ausgeht.

Man erinnere sich nur an die Bemerkung des damaligen Bundesverteidigungsministers Peter Struck (SPD), die Sicherheit der Bundesrepublik würde am Hindukusch verteidigt. Um dem Krieg nicht seine vermeintliche Legitimationsgrundlage zu entziehen, musste die Kriegspropaganda der NATO bewusst verschweigen, dass von den Taliban nie eine Terrorgefahr für Deutschland bzw. Europa ausgegangen war. Damit diese Rhetorik funktionierte, mussten alle Differenzen zwischen Taliban und al-Qaida verschwiegen werden. Die Folge davon war, dass die NATO die Differenzen zwischen den verschiedenen Widerstandgruppen lange Zeit nicht für ihre Kriegführung ausnutzen konnte, sondern immer tiefe in dem afghanischen "Sumpf" versank.

Reale Unterschiede zwischen Taliban und al-Qaida

Dabei sind "Da Afghanistan da Taliban Islami Tahrik" (Kurzname: Taliban) und "Qaida al-Islami" (Kurzname: al-Qaida) zwei verschiedene Organisationen, die sich bisher nicht miteinander vereinigt haben und dies auch in Zukunft nicht tun werden. Schließlich haben sie kaum Gemeinsamkeiten, wie u. a. eine neue Studie Separating the Taliban from al-Qaeda: The Core of Success in Afghanistan [2] vom Februar 2011 belegt. Die beiden Autoren, Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn arbeiten z. Zt. in Kandahar und betreiben die Website Afghan Wire [3]. Ihre Analyse wurde vom Center on International Cooperation der New York University veröffentlicht.

Taliban und al-Qaida sind "islamistisch" geprägt, allerdings wird der arabische Wahhabismus der al-Qaida-Mitglieder von den Taliban nicht geteilt, die der hanafitisch-deobandischen Strömung angehören. Außerdem verorten sich beide Gruppierungen in der Tradition der Mudschaheddin, die in den achtziger Jahren gegen die sowjetischen Besatzer kämpften. Allerdings wurde al-Qaida erst 1989 gegründet, also in dem Jahr, als die sowjetischen Truppen abzogen, und die Taliban bildeten sich erst ab 1994 aus den Reihen ehemaliger Kriegsflüchtlinge und ihrer Kinder in Pakistan. Immerhin bestehen zwischen Taliban und Mitgliedern der al-Qaida persönliche Freundschaften, die sich erst durch den gemeinsamen Kampf gegen die Amerikaner herausgebildet haben. Schließlich gilt auch in diesem Fall die Parole: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Die Taliban rekrutieren sich lediglich aus Paschtunen, die oftmals nur über die einfache Schulbildung der pakistanischen Koranschulen verfügen. Sie streben die politische Macht in Kabul an, um ihr afghanisches Emirat zu errichten. Der Krieg in Afghanistan ist ihr Ursprung und Lebensinhalt. Ansonsten verfolgen sie keine über den afghanischen Raum hinausgehenden Interessen. So haben die Taliban auf dem Gebiet der internationalen Politik bisher nur wenige Erfahrungen sammeln können. In diesem Sinne sind die Taliban "apolitisch".

Gegenüber den Taliban hat die al-Qaida eine völlig konträre Charakteristik. Sie setzt sich vor allem aus Arabern zusammen, die oft über eine höhere Bildung verfügen und mehrere Länder bereist haben. Die Gruppierung verfolgt eine weltweite panislamistische Mission. Nach ihrer Auffassung stehen sie im Krieg gegen Amerikaner und Juden und wollen die korrupten Marionettenregime in den arabischen Staaten stürzen. Der Krieg in Afghanistan ist dabei nur eine Etappe in ihrem historischen Kampf.

In den Jahren 1996 bis 2001 war das Verhältnis zwischen Taliban und al-Qaida schwierig, da beide Organisationen kaum Kenntnisse übereinander besaßen. Außerdem nutzte die Führung der al-Qaida die politische Unerfahrenheit der Taliban auf internationalem Parkett für eigene Zwecke aus, was aber längerfristig kontraproduktiv war, da die Taliban schließlich merkten, dass sie von Führung der al-Qaida benutzt worden waren. So warfen die Taliban Osama Bin Laden vor, dass er ihre Gastfreundschaft missbraucht hatte. Außerdem befürchteten einzelne Talibanführer, wie z. B. Mullah Mohammad Rabbani, dass die aggressive Politik der al-Qaida negative Auswirkungen für die afghanische Bevölkerung haben würde.

Für die Autoren Strick und Kuehn ergibt sich daraus folgende Schlussfolgerung:

The claim that the link between the Taliban and al-Qaeda is stronger than ever, or unbreakable, is potentially a major intelligence failure that hinders the United States and the international community from achieving their core objectives. Al-Qaeda and the Afghan Taliban remain two distinct groups, with different membership, agendas, ideologies, and objectives.

Geheimverhandlungen der US-Regierung mit den Taliban ab 1998

Um die Erfolgsaussichten der aktuellen Gespräche beurteilen zu können, lohnt sich ein Blick auf die erfolglosen Verhandlungen der vergangenen Jahre. Bereits mehrfach hat die US-Regierung Gespräche mit den – in ihren Augen - verhassten Taliban geführt:

Nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Afghanistan im Jahre 1989 musste die al-Qaida für sich eine neue Aufgabe suchen. Im Jahre 1991 übersiedelte die Gruppierung mit 300 bis 500 Kämpfern von Afghanistan nach Sudan, wo die al-Qaida in ihrer Aufbauphase mehrere Wirtschaftsunternehmen aufzog. Die sudanesische Regierung von Präsident Omar al-Bashir bot der amerikanischen Regierung die Auslieferung von Osama Bin Laden an, aber die Clinton-Administration lehnte dies ab, weil es in den USA damals noch keinen Haftbefehl gegen Osama Bin Laden gab und ein Strafprozess wenig aussichtsreich erschien!

Außerdem interessierte sich Bill Clinton damals mehr für Monica Lewinsky als für Osama Bin Laden. Als die saudische Regierung im Mai 1996 die Auslieferung von Osama Bin Laden forderte, mussten die Führungsleute der al-Qaida den Sudan verlassen. Für die Führungskader der al-Qaida blieb nur die Rückkehr nach Afghanistan. Damit waren zunächst alle Seiten zufrieden gestellt. In der Isolation der Lehmhütten im afghanischen Bergland schien Osama Bin Laden neutralisiert zu sein. Allerdings mussten die Taliban fünf Jahre später ihre "Gastfreundschaft" teuer bezahlen.

Bei einem Besuch in Kabul am 16. April 1998 erörterte der amerikanische UN-Botschafter William Richardson den Fall Bin Laden mit den Taliban. Nach Einschätzung des damaligen US-Botschafters in Pakistan, Simons, spielten [4] die Taliban das Problem allerdings herunter: "Er besitzt nicht die religiöse Autorität, eine Fatwa zu verkünden, und deshalb dürfte das auch kein Problem für Sie darstellen."

Aber die Taliban hatten sich in der Gefährlichkeit von Osama Bin Laden getäuscht: Am 7. August 1998 verübten zwei Kommandos die ersten großen Sprengstoffanschläge der al-Qaida, die internationales Aufsehen erregten. Bei dem Angriff auf die US-Botschaften in Tansania und Kenia starben 223 Menschen, über 4.000 wurden verletzt. Als Vergeltung für die Attacke ordnete US Präsident Bill Clinton einen Angriff auf eine Medizinfabrik al-Shifa im Sudan und die Terrorcamps der al-Qaida in Afghanistan mit 75 Marschflugkörpern an (OPERATION INFINITE REACH). Vom 20. bis 30. August 1998 wurden u. a. die afghanischen Ausbildungslager Al-Farouq, Khost, Muawai und Zhawar Kili al-Badr attackiert.

Zwar erwies sich diese Luftoffensive als militärischer Fehlschlag, aber sie hatte weitreichende militärpolitische Folgen. Denn die afghanische Zentralregierung in Kabul, die von den Taliban gestellt wurde, war damals gerade in Verhandlungen mit der Clinton-Regierung über eine Auslieferung von Osama Bin Laden. Aber mit dem amerikanischen Angriff auf afghanisches Territorium waren die Gespräche vorerst gescheitert.

Daraufhin setzte die US-Regierung zunächst auf Gespräche mit dem afghanischen Ex-König Sahir Schah im römischen Exil, um eine Gegenregierung zu den Taliban aufzubauen. Diese sollte es dem amerikanischen Ölkonzern Unocal ermöglichen, eine Pipeline durch Afghanistan zu bauen, um die Ölfelder in den innerasiatischen Republiken ausbeuten zu können. Allerdings scheiterte dieses Vorhaben.

US-Geheimverhandlungen 2001

Im Jahr 2001 versuchte die US Regierung erneut, die Differenzen zwischen Taliban und al-Qaida zu nutzen, um eine Auslieferung von Osama Bin Laden zu erreichen. So verkündete die US-Botschafterin bei der UNO am 12. Februar 2001, dass die USA mit den Taliban einen dauerhaften Dialog auf "humanitärer" Basis aufnehmen wollten. Die Amerikaner waren damals so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen überzeugt, dass das FBI seine Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS Cole am 12. Oktober in Aden (Jemen) auf Veranlassung des US State Department einstellen musste.

Tatsächlich wurden entsprechende Verhandlungen am Rande der Zwei-plus-Sechs-Gespräche geführt. Diese Gesprächsrunde hatte die UNO am 19. Juni 1999 initiiert, um einen Friedensschluss in Afghanistan zu erzielen. Beteiligt waren die beiden "Supermächte" Amerika und Russland und die sechs Nachbarstaaten Afghanistans: Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, VR China, Pakistan und Iran. Wiederholt traf man sich zu Beratungen, u. a. vom 17. bis 21. Juli 2001 in Berlin. Beteiligt waren u. a. der Außenminister der Taliban-Regierung Wakil Ahmed Muttawakil, der Vertreter der gegnerischen Nordallianz Abdullah Abdullah, der frühere pakistanische Außenminister Niaz Naik und der frühere US-Botschafter in Pakistan Tom Simons.

Neben einer Friedensregelung für Afghanistan ging es am Rande der Gespräche auch um die Auslieferung von Osama Bin Laden. Schon damals drohten [5] die Vertreter der US-Regierung der Delegation der Taliban mit einer Militäroffensive. Um eine Eskalation zu vermeiden und größeren Schaden von Afghanistan abzuwenden, ließ Muttawakil Mitte Juli 2001 dem amerikanischen Generalkonsul in Peschawar, David Katz, eine Warnung zukommen, dass die al-Qaida einen großen Anschlag auf amerikanischem Gebiet vorbereitete, aber die Warnung wurde ignoriert [6]. Zum Dank dafür nahmen die US-Streitkräfte Muttawakil im folgenden Jahr gefangen und internierten ihn vier Jahre lang in Guantánamo.

Am 2. August 2001 traf sich die Staatssekretärin im US State Department und frühere CIA-Agentin Christina Rocca in Islamabad mit dem Botschafter der Taliban, um noch einmal erfolglos über eine Auslieferung von Osama Bin Laden zu verhandeln.

Mit dem Anschlag von 11. September änderten sich die politischen Rahmenbedingungen. Die Führung der Taliban war zunächst noch bereit, mit der US-Regierung weiter zu verhandeln, um Osama Bin Laden auszuliefern. Als Vermittler diente die pakistanische Regierung. Aber Mullah Mohammed Omar wollte Beweise dafür, dass die al-Qaida in die Anschläge vom 11. September verwickelt war. Anscheinend wollte oder konnte die Regierung von Präsident George Bush die Beweise damals nicht vorlegen, vielmehr setzte sie unbedingt auf eine Militäroffensive. Erneut platzten alle Verhandlungen und der US/NATO-Krieg gegen Afghanistan begann.

Afghanische Gesprächskontakte seit 2008

"Wenn Amerika unser Haus angreift, dann müssen alle Moslems, vor allem die Afghanen, einen heiligen Krieg führen", hatte der Regierungschef der Taliban, Mullah Mohammed Hasan, am 17. September 2001 gewarnt. Als die US-Regierung am 7. Oktober 2001 mit ihrer OPERATION ENDURING FREEDOM begannen, verfügten die Taliban über rund 50.000 Kämpfer. Hinzu kamen 12.000 Dschihadisten aus anderen Ländern und 2.000 Mann der al-Qaida.

Zwar bot UN auf ihrer Afghanistan-Konferenz im Dezember 2001 in Bonn den (gemäßigten) Taliban eine politische Integration an, aber entsprechende Gespräche in den Jahren 2002 und 2004 verliefen im Sande, zumal die Amerikaner die Sicherheit der Emissionäre der Taliban nicht garantieren wollten. So wurde Ibrahim Haqqani im Jahr 2002 gefangen genommen und gefoltert. Dennoch unternahmen die UN und die EU in den folgenden Jahren wiederholt Versuche, mit den Taliban ins Gespräch zu kommen. Da dies ohne die Zustimmung der afghanischen Regierung erfolgte, ließ "Präsident" Hamid Karzai im Jahr 2007 Vertreter beider Organisation ausweisen [7]. Allerdings war der Einfluss der UN auf den Konflikt immer gering gewesen. Erst am 8. Januar 2010 kam es erneut zu einem Treffen [8] der Taliban mit dem UN-Unterhändler Kai Eide im Emirat Dubai.

Aber nach dreißig Jahren (Bürger-)Krieg ist das Land mittlerweile ausgelaugt. Der Verlauf der Kämpfe in den letzten zehn Jahren hat zu einem "strategischen Patt" geführt: Die NATO-Truppen beherrschen die Städte, die Taliban das Land. Allmählich dämmert es beiden Kriegsparteien, dass eine Fortsetzung der Kämpfe auf die Dauer keinen weiteren "Erfolg" bringt. Daher ist eine Friedenslösung umso dringender.

Schon im Herbst 2008 nahm der amtierende "Präsident" Hamid Karzai mit saudischer Unterstützung Gespräche mit Vertretern der Taliban auf, die im Frühjahr 2009 fortgesetzt wurden. Außerdem trafen sich vom 24. bis 27. September 2008 Vertreter der Taliban und der saudischen Regierung in Mekka (Saudi-Arabien) zu vertraulichen Gesprächen. Die Delegation der Taliban wurde von Mulla Agha Jan Mutassim geleitet. Schon damals erklärten die Beauftragten von Mullah Mohammed Omar, dass ihr Führer nicht länger ein Verbündeter von Osama Bin Laden und seiner al-Qaida wäre.

Diese Gespräche führten dazu, dass auch die Regierung von US-Präsident George Bush gegen Ende seiner Amtszeit Gespräche mit "gemäßigten" Taliban nicht mehr ausschließen wollte, sollte dies durch die Lageentwicklung nötig werden.

We all agree on the need for the people of Afghanistan to come together it they are going to succeed in creating a lasting and viable state. (...) It remains to be seen if some in the Taliban will really renounce violence and extremism and play a constructive role in Afghanistan.

Der damalige Sprecher des Weißen Hauses, Gordon Johndroe [9]

Kurz nach seiner Amtsübernahme als US-Präsident erklärte [10] Barack Obama am 6. März 2009, dass die USA den Krieg in Afghanistan militärisch nicht gewinnen könnten und bot "gemäßigten" Taliban Gespräche über eine Konfliktbeilegung an. So glaubt die US Regierung, dass sie drei Viertel der Kämpfer aus den Taliban herauslösen kann und hat dafür schon 2009 einen Etat von 1,3 Milliarden Dollar bereitgestellt [11].

Demgegenüber bestritten die Taliban, dass eine Unterscheidung in "gemäßigte" und "radikale" Taliban möglich wäre, lehnten eine Gesprächsaufnahme aber nicht ab. So erklärte [12] Taliban-Sprecher Sabibullah Mudschahed:

Obama hat gesagt, er wolle sich an gemäßigte Taliban wenden, doch solche Taliban gibt es nicht in Afghanistan. (...) Unsere Kämpfer und Kommandanten gehorchen den Befehlen von Mullah Mohammed Omar und werden nicht verhandeln. (...) Die internationalen Truppen müssen vollständig abziehen, erst dann kann es Gespräche geben.

Immerhin gab es zur damaligen Zeit die ersten erfolgreichen Geheimverhandlungen mit dem Ziel, eine Rückkehr von Gulbuddin Hekmatyar aus dem iranischen Exil zu ermöglichen.

Im Januar und im Mai 2010 trafen Vertreter der amtierenden afghanischen Regierung mit Emissären der Taliban und der "Hezb-e Islami" auf den Malediven zusammen. Rund 50 Personen sollen an den Gesprächen teilgenommen [13] haben. Außerdem weilte [14] "Präsident" Hamid Karzai im Mai und im Oktober 2010 zu Staatsbesuchen in Washington, um sich von US-Präsident Barack Obama das Plazet für seine weiteren Gespräche mit den Taliban abzuholen. Um sich im eigenen Lager abzusichern, lud Präsident Karzai seine Anhänger Ende Mai in Kabul zu einer "Friedens-Dschirga". Dabei wurden Ideen für eine Friedenslösung in Afghanistan gesammelt und beraten. Die Taliban waren nicht eingeladen.

Vom 24. bis 27. September 2010, während des Fastenmonats Ramadan, trafen [15] sich erneut elf Taliban-Vertreter und ein Vertreter der "Hezb-e Islami" mit saudischen Unterhändlern in Mekka (Saudi-Arabien). An dem Treffen nahmen außerdem zwei Beamte der afghanischen Regierung teil. Im Hintergrund wirkte auch der saudische Geheimdienst "General Intelligence Directorate" (GID) am Aufbau der Gesprächsverbindungen mit.

Im Verlauf des Jahren 2010 kam es zu weiteren Gesprächen der afghanischen Regierung mit den Taliban. Zunächst traf [16] man sich mit Mullah Gul Agha, Amir Abullah, einem weiteren Taliban und Nasiruddin Haqqan, der zur Gruppierung von Jalaluddin Haqqani gehört. Allerdings brachten diese afghanisch-afghanischen Runden zunächst kein nennenswerten Ergebnis, zumal die US-Regierung die drei Unterhändler nach den Gesprächen auf ihre Terror-Liste setzte. Nicht zuletzt fiel die Karzai-Regierung zeitweise auf den Hochstapler "Mullah Akhtar Mohammed Mansour" herein, der sich vom Kabuler Regime fürstlich bewirten ließ, ohne überhaupt ein Mitglied der Taliban zu sein. Tatsächlich war der vermeintliche Warlord nur ein abgebrühter Händler aus der pakistanischen Stadt Quetta, der sich ein bisschen bereichern wollte, wie sich im November 2010 herausstellte (Der Taliban-Kommandeur, der keiner war [17]).

Um die weiteren Friedensaussichten zu diskutieren, lud die afghanische Regierung am 7. Oktober 2010, dem zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns, zu einer Friedenskonferenz [18] nach Kabul ein, bei der ein "High Peace Council" (HPC) institutionalisiert wurde. Zum Leiter der rund 70 Mitglieder dieses staatlichen Friedensrates wurde ex-"Präsident" Buhanuddin Rabbani bestimmt. Allerdings besteht dieses Gremium aus den Hardlinern unter den Taliban-Gegner, so dass dieser Friedensrat bei den tatsächlichen Gesprächen keine Rolle spielen wird und wohl eher zur gesellschaftlichen Legitimation der Regierungsbemühungen dienen soll. Im Anschluss an die Friedenskonferenz traf [19] sich Hamid Karzai Mitte Oktober 2010 erneut mit drei Vertretern der Taliban: Maulvi Abdul Kabir, Sedre Azam und Anwar ul-Haq Mujahed, der dazu eigens aus einem pakistanischen Gefängnis (vorrübergehend) entlassen wurde.

Da die Gespräche in Kabul stattfanden, mussten [20] die Unterhändler der Taliban ihre Schlupflöcher in Pakistan verlassen und durch das von den NATO-Truppen kontrollierte Gebiet reisen. Dabei durften die NATO-Soldaten die Terroristenführer nicht nur nicht angreifen, sie mussten sie auch noch beschützen. So wurde die Identität der Taliban-Vermittler – nach Möglichkeit - geheim gehalten, um zu verhindern, dass sie später als "Verräter" einem Mordanschlag zum Opfer fallen würden. Mittlerweile hat die "UN Assistance Mission in Afghanistan" (UNAMA) angeboten, die Unterhändler mit ihren Flugzeugen und Hubschraubern nach Kabul zu bringen und dort wieder abzuholen.

Nachdem der inner-afghanische Dialog im Aufbau begriffen war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die US-Regierung erneut bilaterale Kontakte zu den "terroristischen" Taliban aufnehmen würde. Im Jahr 2010 war es der US Sonderbotschafter für Afghanistan, der kürzlich verstorbene Richard Holbrooke, der die Wiederaufnahme direkter Gespräche zwischen der US-Regierung und den Taliban anregte. Daraufhin signalisierte [21] der Taliban-Führer Mullah Mohammed Omar im September 2010 wiederum seine Verständigungsbereitschaft:

Wir wollen unsere Außenpolitik nach dem Prinzip ausrichten, dass wir niemandem Schaden zu fügen und niemanden erlauben, uns zu schaden. Unsere entstehendes Regierungssystem wird sich an allen regionalen und globalen Anstrengungen beteiligen, die auf die Herstellung von Frieden und Stabilität ausgerichtet sind.

US-Geheimverhandlungen 2011

Und tatsächlich haben mittlerweile die ersten Gespräche stattgefunden, wie der Journalist Steve Coll in der amerikanischen Zeitschrift The New Yorker jüngst berichtete [22]:

The Obama Administration has entered into direct, secret talks with senior Afghan Taliban leaders, (...) The discussions are continuing; they are of an exploratory nature and do not yet amount to a peace negotiation.

Diese Meldung über eine Wiederaufnahme der Gespräche wird unterstützt durch eine Äußerung [23] der US-Außenministerin Hillary Rodham Clinton bei einem Treffen der "Asia Society” am 18. Februar 2011 in New York:

Now, I know that reconciling with an adversary that can be as brutal as the Taliban sounds distasteful, even unimaginable. And diplomacy would be easy if we only had to talk to our friends. But that is not how one makes peace. President Reagan understood that when he sat down with the Soviets. And Richard Holbrooke made this his life’s work. He negotiated face-to-face with Milosevic and ended a war.

Als einzige afghanische Gruppierung verweigert lediglich die "Hezb-e Islami" noch ihre Dialogbereitschaft, obwohl diese Gruppierung schon heute zwei Minister im Kabinett Karzai stellt. Nachdem es im Januar 2010 zu ersten Gesprächen der afghanischen Regierung mit Feroz Hekmatyar und Qutbuddin Hilal gekommen war, bezeichnete Gulbuddin Hekmatyar im September 2010 das Friedensangebot der afghanischen Regierung als "Täuschungsmanöver". Ausgenommen von den Verhandlungen sind die drei "ausländischen" Aufstandsbewegungen "al-Qaida", "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) und "Islamische Dschihad-Union" (IJU).

Die so genannten Vorgespräche mit den Taliban werden zweigleisig geführt – mal unter Führung der afghanischen Regierung, mal unter amerikanischer Ägide. So setzte die afghanische Regierung ihre Gespräche mit den Taliban und dem Haqqani-Netzwerk fort. Zuletzt traf man sich Mitte Februar 2011 im Kings College (London). Beteiligt waren der frühere Taliban Mullah Abdul Salaam Zaeef, der in Kabul unter Hausarrest steht und dessen Namen erst im Sommer 2010 von der UN-Terrorliste gestrichen wurde, sowie Vertreter der USA, Großbritanniens, Pakistans und Indiens. Zu seiner Gesprächsteilnahme erklärte [24] Mullah Zaeef vorsichtig:

I want to make it clear on all that I am leading a normal life and in my current position, I can only represent myself not a group or party. Neither will I represent the current Afghan government or any other group of Afghans in the peace process. I have kept myself distant from the current process of negotiations for peace in Afghanistan. All of my visit should be considered as my personal activity.

Die Gespräche wurden am 1. März 2011 an einem geheimen Ort in Europa fortgesetzt.

Für die US-Seite kommt es bei ihren "Vorgesprächen" zunächst darauf an, die verschiedenen Fraktionen der Taliban auszuloten, um zu sondieren, mit wem und unter welchen Umständen offizielle Verhandlungen aufgenommen werden könnten. Die US-Regierung glaubt offensichtlich, sie könne nicht nur die Tagesordnung der Gespräche bestimmen, sondern zugleich den Verhandlungspartner, damit ein Verhandlungserfolg zu den eigenen Gunsten gleich vorprogrammiert ist. Im Nachhinein betrachtet hatten die amerikanischen Militärs nie eine Strategie für ihren Krieg in Afghanistan und nun stellt sich die Frage, ob wenigstens die amerikanischen Politiker eine Strategie für den Frieden haben.

Bisher zeichnet sich ab, dass es innerhalb der US-Regierung verschiedene Fraktionen gibt. Die Diplomaten vom State Department sind allein schon deshalb für Verhandlungen, um selbst wieder stärkeren Einfluss auf den Konfliktverlauf in Afghanistan zu bekommen. Demgegenüber setzt das Pentagon mit Verteidigungsminister Robert M. Gates, Generalstabschef Admiral Michael Mullen und dem Kommandobefehlshaber General David Howell Petraeus erst einmal auf eine Fortsetzung der Militäraktionen, um möglichst "vorteilhafte" Ausgangsbedingungen für eine Aufnahme von Friedensverhandlungen herbeizubomben. In gleicher Weise erklärte [25] NATO-Generalsekretär Anders Fogh Ramussen am 14. Oktober 2010:

I think we should continue our military operations. I do believe that the best way to facilitate the reconciliation and reintegration process is to keep up the pressure on the Taliban.

So hat Präsident Barack Obama – gemäß amerikanischer Militärlogik – die US-Truppen im Jahr 2010 personell aufgestockt, um die Bedingungen zu schaffen, damit sie ab 2011 um so mehr reduziert werden können. Die messbare Folge war eine Eskalation der Kriegführung mit verstärkten Sonderoperationen der "Special Forces", Luft- und Drohnenangriffen im vergangenen Jahr. (Mullah Omar setzt weiter auf Zermürbungskrieg [26]) Wie die UNAMA am 9. Juli 2011 mitteilte [27], forderten die Kämpfe im letzten Jahr 2.777 Todesopfer und 4.440 Verwundete unter der "unbeteiligten" Zivilbevölkerung, das entspricht einer Steigerung um 15 Prozent bei den Todesfällen gegenüber dem Vorjahr.

Nach dem Prinzip "Zuckerbrot und Peitsche" werden die verhandlungswilligen Kräfte geschont und die radikalen Kräfte um so stärker bombardiert, während gleichzeitig die afghanischen Sicherheitsbehörden weiter ausgebaut werden, um die Regierungsmacht abzusichern. Allerdings unterminiert diese Politik die Glaubwürdigkeit von Barack Obama, der seine Präsidentschaft mit dem Versprechen angetreten hatte, die aggressive Piff-Paff-Puff-Politik von Amtsvorgänger George Bush nicht länger fortsetzen zu wollen.

Die Taliban wiederum haben sich durch diese Militäroffensive nicht beeindrucken lassen. Es heißt [28], sie würden zwar nicht mehr daran glauben, dass sie jemals die Macht über ganz Afghanistan erringen könnten, dennoch wären sie weiterhin davon überzeugt, dass die Zeit für sie arbeiten würde und dass sie am Ende – mit Hilfe Allahs – siegen würden.

Demgegenüber hat sich US-Präsident Barack Obama selbst unter Zeitdruck gesetzt. Er hat den Beginn des US-Truppenabzugs absichtlich auf den 1. Juli 2011 festgelegt, damit er mit der Heimkehr der ersten Soldatenkontingente im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf auftrumpfen kann. Nur noch bei 50 Prozent der US-Bevölkerung ist der Afghanistankrieg "populär" – Tendenz fallend. Die Wähler glauben nicht mehr an einen Sieg, beklagen die hohen Kosten angesichts der klammen öffentlichen Kassen und mokieren sich über den Tod von über eintausend Soldaten. Je nach dem wie die Taliban in den nächsten Monaten agieren, kann dies Obamas Chancen zur Wiederwahl am 4. November 2012 begünstigen oder schaden.

Aber für die USA steht mehr auf dem Spiel als nur die nächste Präsidentenwahl, sie sind dazu verdammt zu "siegen":

  1. Je länger der Krieg in Afghanistan andauert, umso mehr wird die Stabilität des Nachbarlandes und Atomstaates Pakistan durch die fortschreitende "Talibanisierung" unterminiert. So hat der Afghanistankrieg bisher eher zur Destabilisierung Pakistans, als zur Stabilisierung Afghanistans beigetragen. Ein US-Politiker brachte [29] dies auf folgenden Nenner: "Man kann in Afghanistan nicht gewinnen, ohne zuerst Pakistan in Ordnung gebracht zu haben. Aber selbst wenn man Pakistan in Ordnung bringt, reicht dies nicht aus." * Nach eigener Überzeugung haben die Taliban die einstige "Supermacht" Sowjetunion besiegt und den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes ausgelöst. Daher muss Präsident Barack Obama verhindern, dass die Taliban in Zukunft propagieren können, sie hätten auch noch die andere "Supermacht" besiegt, was sonst einen islamistischen "Hype" auslösen würde.
  2. Der Einsatz in Afghanistan ist der erste und einzige Landkrieg der NATO seit ihrer Gründung am 4. April 1949. Sollte die NATO ihren Krieg "verlieren"; würde dieses antiquierte Militärbündnis fortan auf Schrumpfgröße dahin vegetieren.

Aber was hat die amerikanische Regierung den "Terroristen" von den Taliban anzubieten? Nach dem Willen der USA dürfen die Taliban in Zukunft weder an der afghanischen Regierung noch an den afghanischen Streitkräften beteiligt sein. Vielmehr sollen sie in die Moscheen zurückkehren, aus denen sie 1994 gekrochen sind. Warum sollten die Taliban, die immerhin von 1996 bis 2001 die Regierung in Kabul gestellt haben, an ihrer eigenen Zerstörung mitwirken? Wäre die Verhandlungspositionen der US-Regierung relativ klar erscheinen, kann man nicht sagen, mit welchen Minimalforderungen sich die Taliban am Ende schon zufrieden geben würden. Dafür ist die Literaturlage etwas zu einseitig und dünn.

Mögliche Agenda für Friedensgespräche

Irgendwann müssen die Vorgespräche in reguläre Verhandlungen münden. Im Gegensatz zu den beiden früheren US-Taliban-Unterredungsrunden geht es diesmal nicht mehr um die Auslieferung von Osama Bin Laden, denn wo der in Pakistan untergetaucht ist, wissen wohl nicht einmal die Taliban. Aber die Agenda für diese zukünftigen Friedensgespräche wäre lang:

Um den eigenen Verhandlungswillen deutlich zu machen, müssten die Gespräche von Anfang an durch "vertrauensbildende Maßnahmen" flankiert werden. Hierzu zählen eine Einstellung der Luft- und Drohnenangriffe, ein Stopp aller Folterungen und die Freilassung von Gefangenen durch die USA bzw. ein Verzicht auf Selbstmordanschläge durch die Taliban.

Nicht zuletzt wäre zu fragen, welche negativen Auswirkungen ein Scheitern der Verhandlungen für den weiteren Kriegsverlauf oder das Verhältnis zwischen afghanischer und amerikanischer Regierung hätte.

Und was wird aus al-Qaida?

Unterschwellig wäre das wichtigste Ziel der amerikanischen Verhandlungsführung zwischen Taliban und al-Qaida einen Keil zu treiben: "For the United States, the overarching goal of such negotiations would be to persuade at least some important Taliban leaders to break with al-Qaeda", erklärte dazu Steve Coll. Schon berichten Strick und Kuehn über Szenarios, in denen die Amerikaner die Taliban einsetzen, um die al-Qaida-Guerilla durch Taliban-Guerillas zu bekämpfen:

One such vision – recently suggested in private by a senior Taliban political strategist – is that Taliban forces could conduct counterterrorism operations, including operations together with "U.S. Special Forces”, against al-Qaeda and possibly its affiliates along the Afghanistan-Pakistan border.”

Diese Vorstellung ist keineswegs so abstrus, wie sie zunächst erscheint, schließlich haben in der dreißigjährigen Geschichte des afghanischen Bürgerkrieges einzelne Warlords (z. B. der Usbeken-General Abdul Raschid Dostum) gleich mehrfach die Seiten gewechselt. Zwar darf ein gläubiger Moslem einen anderen gläubigen Moslem eigentlich nicht verraten, aber letztendlich ist alles eine Interpretationsfrage. Werden die Taliban ihre Freundschaft zu Osama Bin Laden für einen "Deal" mit Barack Hussein Obama eintauschen?

Auf dem Kriegsschauplatz in Afghanistan spielt die al-Qaida keine nennenswerte Rolle, da sie hier nur noch über rund hundert Mann verfügen soll, die auf kleinere Zellen verteilt sind, um Sprengstoffanschläge zu verüben und Selbstmordattentäter gelegentlich zu unterstützen. Außerdem verfügt die al-Qaida im benachbarten afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet über die "Schwarze Garde" zum Schutz der Führungsspitze der al-Qaida und die Nominalbrigade 313 unter dem Kommando von Muhammad Ilyas Kashmiri. Diese Brigade ist mit mindestens 300 Mann der eigene Beitrag der al-Qaida zum gemeinsamen Truppenkontingent der verschiedenen aufständischen Gruppierungen. Diese "Schattenarmee" Lashkar al Zil soll aus sechs Nominalbrigaden mit angeblich rund 12.000 Kämpfern bestehen, allerdings lassen sich diese Militärangaben [35] nicht überprüfen.

Es ist kaum zu glauben, dass al-Qaida einfach zuschauen wird, wenn die US-Regierung ihre weitere Isolierung anstrebt. Als Gegenreaktion könnte sich die Gruppierung – trotz aller oben genannten Differenzen - möglicherweise erstmals wirklich mit den Taliban vereinigen, zumindest mit dem radikalen Flügel, der einen Verhandlungsfrieden mit den "ungläubigen" Amerikanern ablehnt. So weisen Strick und Kuehn darauf hin, dass die jüngeren Taliban-Führer der mittleren Leitungsebene heute viel politischer und militanter sind, als die alten Führungskader des Führungsrates ("Rahbari Shura") um Mullah Omar. Die US Streitkräfte haben diese Entwicklung selbst ausgelöst, indem sie gemäß ihrer "Enthauptungs"-Strategie die ehemaligen Kader liquidierten. Außerdem könnte al-Qaida ihre Beziehungen zu den militanten Warlords Jalaluddin Haqqani und Gulbuddin Hekmatyar in Waziristan weiter festigen.

Außerdem wäre eine Einigung zwischen Amerikanern und Taliban nicht das Ende von al-Qaida. Die Zellen in den USA, Europa und Asien können zwar ihre Mitglieder zur Mudschahed-Ausbildung nach Waziristan schicken, aber erhalten ansonsten keinerlei operative Unterstützung. Außerdem hat al-Qaida bereits vor Jahren eigene Regionalorganisationen gegründet: "Al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQIM) unter der Führung von "Drukdal" alias Abdalmalik Darduqal und "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAP) unter der Leitung von "Abu Bashir" alias Nasir Abdalkarim Abdallah al-Wuhaishi. Diese Unterorganisationen haben eine Gesamtstärke von 2.000 bis 3.000 Mann. So ist der weitere Verlauf des "arabischen Frühlings" in Tunesien, Libyen, Ägypten etc. für die Zukunft der al-Qaida wahrscheinlich viel bedeutender, als der Ausgang des Krieges in Afghanistan. Dazu schreibt [36] der Spiegel-Journalist Yassin Musharbash:

Die Volksaufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen haben machtvoll gezeigt, wie wenig Dschihadisten in den arabischen Gesellschaften zu sagen haben. Entgegen ihrer seit Jahrzehnten vorgetragenen Propaganda ist ihr Mobilisierungspotential gleich null. Ihr ureigenstes Ziel, der Sturz der säkularen Regime in der arabischen Welt, haben andere verwirklicht. Darunter sind Gruppen, die auch noch zu den erklärten Feindbildern von al-Qaida und Co. gehören: Laizisten, westlich orientierte Studenten, politische aktive Frauen, Demokraten, moderate Islamisten. Nicht al-Qaida hat sich als Avantgarde erwiesen, sondern die weltliche, internetaffine Jugend der arabischen Welt. Und einen talibanösen Gottesstaat, al-Qaidas Vision für die islamische Welt, hat niemand auf den Plätzen und Straßen von Tunis bis Bengasi gefordert.

Nicht zuletzt würde ein Friedenschluss in Afghanistan die Rückkehr der fast 5.000 Bundeswehrsoldaten ermöglichen und positive Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland haben. Immerhin hat das Afghanistanabenteuer dem deutschen Steuerzahler seit 2001 schon 7,3 Milliarden Euro gekostet [37] - davon waren 5,7 Milliarden für ISAF und OEF und 1,6 Milliarden Euro für die Wiederaufbauhilfe.

Der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Staffan De Mistura, gab sich besonders optimistisch. Am 30. September 2010 erklärte er, er halte ein Friedensabkommen bis Juli 2011, dem Beginn des von US-Präsident Barack Obama angekündigten Abzugs seiner rund 95.000 GIs, für möglich. Die Taliban planen [38] zunächst einmal die Eröffnung eines eigenen Büros in der Türkei, einem NATO-Staat.

Allerdings zeigt der Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern, dass vertrauenswürdige Friedensverhandlungen mit "Ungläubigen" manchmal etwas länger dauern. Hätte man sich vor zehn Jahren etwas mehr Zeit für Verhandlungen genommen, dann wäre der Kriegskrampf in Afghanistan vielleicht schon nach 20 statt nach 30+x Jahren beendet worden, und das ebenso sinnlose wie überflüssige Gemetzel des letzten Jahrzehnts wäre einfach ausgefallen.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit [39]


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[1] http://www.swp-berlin.org/de/produkte/swp-studien-de/swp-studien-detail/article/eskalation-im-raum-kunduz.html
[2] http://www.cic.nyu.edu/afghanistan/docs/gregg_sep_tal_alqaeda.pdf
[3] http://www.afghanwire.com/
[4] http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Terrorismus/usa-taliban.html
[5] http://whatreallyhappened.com/WRHARTICLES/preplanned.html
[6] http://www.commondreams.org/cgi-bin/print.cgi?file=/headlines02/0907-08.htm
[7] http://online.wsj.com/article/SB122515124350674269.html
[8] http://www.zeenews.com/news600036.html
[9] http://online.wsj.com/article/SB122515124350674269.html
[10] http://www.nytimes.com/2009/03/08/us/politics/08obama.html?
[11] http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2010_S11_rdf_ks.pdf
[12] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,612190,00.html
[13] http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=3856&Alias=wzo&cob=494950
[14] http://www.dawn.com/2010/10/21/obama-expresses-desire-to-expand-strategic-relations.html
[15] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,582351,00.html
[16] http://www.nytimes.com/2010/10/20/world/asia/20afghan.html
[17] https://www.heise.de/tp/features/Der-Taliban-Kommandeur-der-keiner-war-3387688.html
[18] http://www.csmonitor.com/World/Asia-South-Central/2010/1006/Taliban-in-secret-talks-with-Afghan-President-Karzai
[19] http://archives.dawn.com/archives/6609
[20] http://www.nytimes.com/2010/10/20/world/asia/20afghan.html
[21] http://www.cic.nyu.edu/afghanistan/docs/gregg_sep_tal_alqaeda.pdf
[22] http://(www.newyorker.com/talk/comment/2011/02/28/110228taco_talk_coll
[23] http://www.state.gov/secretary/rm/2011/02/156815.htm
[24] http://www.rediff.com/news/report/not-involved-in-afghan-peace-talks-mullah-abdul-zaeef/20110217.htm
[25] http://in.reuters.com/article/2010/10/14/idINIndia-52195220101014
[26] https://www.heise.de/tp/features/Mullah-Omar-setzt-weiter-auf-Zermuerbungskrieg-3387613.html
[27] http://unama.unmissions.org/Portals/UNAMA/human%20rights/march092011_UNAMA%20PRESS%20CONFERENCE_TRANSCRIPT_ENG.pdf
[28] http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=124543299
[29] http://www.nytimes.com/2008/12/07/washington/07policy.html
[30] http://armed-services.senate.gov/statemnt/2009/December/Gates%2012-02-09.pdf
[31] http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2010A30_sbg_wgn_wmr_ks.pdf
[32] http://unama.unmissions.org/Default.aspx?tabid=1783&ctl=Details&mid=1882&Itemid=10704
[33] http://www.zeenews.com/news600036.html
[34] http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2010A30_sbg_wgn_wmr_ks.pdf
[35] http://www.longwarjournal.org/archives/2009/02/al_qaedas_paramilita.php
[36] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,747495,00.html
[37] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/020/1702026.pdf
[38] http://www.tolonews.com/en/afghanistan/2023-afghanistan-welcomes-taliban-office-in-turkey
[39] http://www.bits.de