Der Geheimdienstchef als Oberarchäologe
In Namibia macht die regierende Swapo eine Fundstelle von 57 Skeletten zu knöchernen Wahlkampfhelfern - Überreste eines deutschen Gefangenenlagers?
Ein mysteriöses Knochenfeld mitten in der Wüste sorgt in Namibia für politische Aufregung. Obwohl Archäologen die insgesamt 57 Skelette bei dem Küstenort Lüderitz schon seit einiger Zeit untersuchen, interessieren sich die Politiker erst jetzt dafür. Nationalisten spekulieren über ein Massengrab - wahlweise der Beweis eines Verbrechens durch südafrikanische oder deutsche Besatzungstruppen. Nun ermittelt sogar der Geheimdienst.
Die Stelle sieht aus wie der Schauplatz eines unglaublichen Verbrechens. In einer kargen Wüstenlandschaft im Süden Namibias, unweit der Hafenstadt Lüderitz, verteilen sich zahllose Menschenknochen über das Areal. Schädel, Beckenknochen, Beine, Rippen - soweit das Auge reicht. Archäologen haben ausgerechnet, daß die von der Sonne des südlichen Afrikas gebleichten Gebeine einst zu 57 Menschen gehörten. Diese Zahl ist jedoch fast schon der einzige sichere Fakt, der im Zusammenhang mit dem Knochenfeld existiert. Davon abgesehen gibt es nur Spekulationen, Gerüchte und Streitereien um die Skelette von Lüderitz. Jetzt ist der Fall sogar zu einem Politikum geworden.
Die namibischen Medien staunten nicht schlecht, als im Juni Staatspräsident Sam Nujoma persönlich seinen Geheimdienstchef Peter Sheehama mit der Untersuchung der Angelegenheit beauftragte. Der Boß des "Namibia Central Intelligence Services" (NCIS) als Archäologe? Denn bis dato waren sich alle einig, daß es sich bei den Skeletten um historische Funde handele, die nicht einem Verbrechen aus der jüngeren Vergangenheit Namibias zuzuordnen seien. Auch den namibischen Oberschlapphut läßt der Auftrag offensichtlich recht ratlos. Alles was ihm bislang dazu eingefallen ist, war ein Appell an die Öffentlichkeit: Jeder, der etwas zu der Herkunft der Knochen wisse, solle sich bei den Staatsbehörden melden. Auf eine heiße Spur hat dies den Geheimdienstler bisher nicht geführt.
Hinter der plötzlichen Aufregung wird ein politischer Schachzug vermutet. Die Skelette waren schon 1996 von einem südafrikanischen Fernsehteam entdeckt worden. Eine Reaktion gab es damals bestenfalls bei Historikern, Archäologen und den lokalen Medien. Doch 1999 ist in Namibia Wahlkampfjahr, und Präsident Nujoma würde es allem Anschein nach gerne sehen, wenn die Skelette stumme Zeugen eines weiteren Massakers aus der Kolonial- und Besatzungszeit Namibias wären. Nujomas Regierungspartei, die Swapo, steht nämlich immer stärker in der Kritik. Vorwürfe über Selbstgefälligkeit, Nepotismus und Korruption überschatten Nujomas Vorhaben, für seine dritte Amtszeit wiedergewählt zu werden. Da kämen dem ehemaligen Befreiungskämpfer die Überreste eines Massakers gerade recht. Ohnehin versteht sich Nujoma in nichts so gut, wie dem Aufwärmen alter Widerstandsparolen, mit denen er immer noch beim älteren schwarzen Wahlvolk punkten kann. So könnten die Skelette von Lüderitz zu knöchernen Wahlkampfhelfern der regierenden Swapo werden.
Doch bislang ist Nujomas Kalkül noch nicht aufgegangen. Es ist schon nahezu ausgeschlossen, daß jenes Massengrab in der Wüste die Folge eines Massakers der südafrikanischen Besatzungstruppen ist. Dafür sind die Knochen einfach zu alt, argumentieren Archäologen. Also muß nun die ältere Kolonialmacht herhalten: Neue Theorien verweisen auf den Herero-Aufstand im Jahre 1904 gegen die deutschen Schutztruppen im damaligen Deutsch-Südwestafrika. Der Historiker Horst Drechsler vermutet, daß die Skelette aus dem deutschen Gefangenenlager Shark Island stammen können, einer Halbinsel vor Lüderitz, die nur wenige Kilometer von der Fundstelle entfernt liegt. Dort hatten die Deutschen rund 1800 aufständische Nama interniert. Mehr als 1000 von ihnen fanden auf Shark Island den Tod. "Es ist die wahrscheinlichste Erklärung, daß die Leichen von Shark Island stammen", sagt auch Jeremy Sylvestre, Historiker an der Universität von Namibia.
Aber auch in dieser Theorie gibt es Widersprüche. "Die Skelette sind einfach zu unversehrt, um von einem Verbrechen stammen zu können", argumentiert der Lüderitzer Konservator Dieter Noli. Die Knochen zeigten kaum Spuren von Gewaltanwendung, es fehlten Einschußlöcher, Frakturen oder andere Verletzungen. So behutsam seien die deutschen Kolonialtruppen mit ihren Gefangenen nicht umgegangen. Noli favorisiert eine völlig undramatische Version: "Es könnte sich einfach um einen vergessenen Friedhof handeln." In der Tat soll genau in dem Bereich des Knochenfeldes, rund 5 Kilometer innerhalb des namibischen Diamant-Sperrgebietes, zu deutschen Zeiten das Örtchen Charlottenthal gestanden haben. Die Kleinstadt soll später aufgegeben und dann von der Namib-Wüste wieder verschluckt worden sein. "Und Charlottenthal hatte bestimmt einen Friedhof", sagt Noli.
Auch Universitätshistoriker Sylvestre muß einräumen, daß es neben der These vom deutschen Todeslager noch andere Möglichkeiten gibt: "In diesem Gebiet gab es starke Diamantförderung. Die Leichen könnten auch während einer großen Grippe-Epidemie im Jahre 1918 in der Wüste vergraben worden sein, weil die Menschen Angst vor einer Ansteckung durch die Toten hatten."
So liegt die Chance für die Swapo, mit einer weiteren Kolonialtragödie in den Wahlkampf gehen zu können, momentan noch in einiger Ferne. Aufgegeben hat Geheimdienstchef Sheehama aber noch nicht. "Das ist nicht die einzige Stelle. Ein Archäologe hat mir gesagt, daß es noch bis zu 30 weitere Massengräber in der Gegend geben kann", sagt der Schlapphut, der in dieser Information den Beweis für einen organisierten Massenmord sehen will. Es könnte aber auch nur der Beweis für viele vergessene Gräber sein - in einer Gegend, in der während des Diamantfiebers Jahr für Jahr Ortschaften entstanden und wieder verschwanden. Die DNA-Untersuchungen eines Archäologen-Teams an den Knochen sollen in einigen Wochen helfen, das Rätsel der Lüderitz-Skelette aufzuklären.