Der Kaiser ist tot - es lebe die Kaiserin
Ganz offensichtlich zementiert sich der November als Deutschlands "Schicksalsmonat". Wann sonst, wenn nicht in diesem Monat, hätte die erste gesamtdeutsche Kaiserin, pardon: Kanzlerin, gekürt werden können?
Am 9. November 1918 stahl sich der letzte deutsche Kaiser heimlich, still und leise ins holländische Exil. Dort starb er dann auch weitgehend unbeachtet im Jahre 1941. Mit seiner Flucht und der sich anschließenden, bald darauf erstickten Novemberrevolution, begann im 20ten Jahrhundert die Reihe der deutschen "November-Schicksalsmonate", die in der Reichspogromnacht 1938 ihre Fortsetzung fand und mit dem Mauerfall 1989 dann doch noch ein Happy End gefunden zu haben schien. Was bedeutet in diesem Lichte die Wahl von Angela Merkel zur ersten Kanzlerin?
Um es gleich am Anfang zu sagen: Ich glaube nicht an Schicksalsmonate oder an Vorherbestimmungen. Ich bin mir jedoch sicher, dass das Walten des puren Zufalls in der Geschichte weit größere Auswirkungen hatte, hat und haben wird, als die vermeintlich bewussten Entscheidungen und Willensäußerungen aller Menschen zusammengenommen. Nur leider sind wir Menschen durch und durch den kausalen Wenn-Dann-Denkschemata verhaftet. So können wir den Zufall weder erkennen, noch wollen wir akzeptieren, dass er eine unbeeinflussbare Größe jenseits von Determinismus und freiem Willen darstellt.
Wenn es also den "Schicksalsmonat November" gar nicht gibt - was kann man dann von der Frage lernen, wieso in Deutschland denn ausgerechnet im November umwälzende Ereignisse stattfanden?
Zunächst einmal ist auffällig, dass der herannahende Winter in Zeiten einer existentiellen Krise – im vierten Kriegsjahr 1918 und in der zunehmend verarmenden und verfallenden DDR im Jahre 1989 – revolutionäre Potentiale freisetzt. Das war auch schon bei der russischen Oktoberrevolution 1917 so, die "in Wahrheit", d.h. nach dem julianischen Kalender, eine Novemberrevolution gewesen war. Zwar ist heute in Deutschland schon seit langem von einer Dauerkrise die Rede – vor allem, was das wirtschaftliche Wachstum, die Zahl der Arbeitslosen und die Wissensgesellschaft angeht –, aber dass Angela Merkel gerade im November Kanzlerin wurde, ist, verglichen mit den Zuständen 1918, wohl doch nur reiner Zufall. Doch die Koinzidenz lädt ein zu der Frage, was sich denn in Deutschland getan hat, seit dem denkwürdigen November vor 87 Jahren.
Vordergründig natürlich sehr viel. Aber eine Tatsache ist auffällig unverändert: Deutschland ist weiterhin ein Land der kleinlichen, machtbesessenen Landesfürsten und der kleinkarierten, besitzstandswahrenden Beamten. Sogar die Welt am Sonntag bemängelte jüngst, dass dem neuen Bundestag immer noch viel zu viele Beamte angehörten, aber noch weniger Unternehmer, als seinem Vorgänger.
Blockadeinstrument Bundesrat
So erscheint der deutsche Hang zur Selbstatomisierung in globalisierten Zeiten und mit Blick auf ein immer größer werdendes Europa als geradezu offensichtlich suizidal – aber auf der politischen Agenda finden sich weit und breit keinerlei Gegengifte zum letalen Trend. Zwar mahnte selbst der Bundespräsident föderale Reformen an, aber die jüngst schnell durchgewunkenen Änderungen im Verhältnis von Bund und Ländern verstärkten die Position der Länder sogar noch. Zudem sorgte Anette Schawan, inzwischen neue Bundesbildungsministerin und schon vor Amtsantritt als "Anette ohne Land" verspottet, als profilierte Landespolitikerin vor ihrem Wechsel nach Berlin noch eigenhändig dafür, dass der Bund im Bereich der Bildung noch weniger zu sagen haben wird als bisher. Manch Universitätsprofessor sieht dies mit Grausen, denn nun sind die Universitäten, fast so wie in der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts, wieder stärker von den jeweiligen Landesfürsten abhängig, Bundes-Exzellenzprogramm hin oder her.
Der starke Bundesrat war schon Konrad Adenauer ein Dorn im Auge (Schröders Entmächtigungsgesetz, oder: die Catch 22-Republik). Durchgedrückt wurde der Bundesrat in seiner heutigen Form nach dem Zweiten Weltkrieg von den Westalliierten gegen Adenauers erklärten Willen, weil sie starke Ministerpräsidenten wollten, damit die deutsche Zentralregierung nicht zu machtvoll würde. Adenauer wollte stattdessen einen Senat nach US-amerikanischen Vorbild. Der existierende, unausgegorene Antagonismus zwischen Bundesrat und –tag erklärt jetzt die offensichtliche politische Zückhaltung der Ministerpräsidenten in den letzten Wochen. Praktisch keiner war bereit, trotz eigener vergangener Appelle an die gesamtdeutsche Verantwortung, in Berlin mittel- oder unmittelbar Verantwortung zu übernehmen. Bestes Beispiel ist ausgerechnet der deutsche Vorzeigepatriot aus Bayern. Als sich ihm die erstbeste fadenscheinige Gelegenheit bot, gab der Beinahe-Superminister Edmund Stoiber rasant-überlichtschnell den Lafontaine.
Mit dem Bundesrat lassen sich Bundesregierungen stürzen, zumindest aber blockieren. Das hatte Adenauer glasklar erkannt, Lafontaine eiskalt vorexerziert und genau letzteres hatte die Union nach Schröders Wiederwahl erfolgreich kopiert. Gerhard Schröder wusste Anfang des Jahres daher genau, dass sein politisches Stündchen geschlagen war - und warf das Handtuch. Kluger Mann. Nur leider war der damalige Bundeskanzler, ehemalige Ministerpräsident und geschätzte Großkommunikator nicht in der Lage oder nicht Willens, die wahren Gründe seiner Niederlage der Bevölkerung mitzuteilen. Und genau deshalb ist eine wirkliche Föderalismusreform in Deutschland auch unmöglich: Der Bundesrat ist das effektivste Instrument, um eine Bundesregierung in Bedrängnis zu bringen. Warum sollten die Landesfürsten sich dieses Machtinstrumentes selbst berauben? Deutscher Corpsgeist: Schröder war nicht einmal fähig, diesen Mechanismus klar zu beschreiben, als dieser ihn selbst das Amt gekostet hatte. Einmal Ministerpräsident, immer Ministerpräsident.
Beamtenparlament
Weniger leicht auszumachen ist der subtile Einfluss der Beamten auf die bundesdeutsche Politik. Allerdings blitzen doch immer wieder irritierende Indizien auf. Als beispielsweise kurz vor Merkels Inauguration Stimmen in der aufziehenden Koalition laut wurden, die einen Verzicht der Beamten auf das Weihnachtsgeld forderten. Der Aufschrei dagegen war bemerkenswert schnell und schrill. War die sich gerade formierende große Koalition nicht angetreten, schmerzliche Einschnitte für jedermann zu fordern? Aber ist der Verzicht auf das Weihnachtsgeld nicht schon seit Jahren angeblich unverzichtbares, arbeitsplatzsicherndes Element in vielen Betrieben? Und über die rein formale Ausweitung der wöchentlichen Arbeitszeit für Bundesbeamte von 40 auf 41 Stunden können von Überstunden geplagte Arbeiter und Angestellte sowieso nur müde lächeln – ganz zu schweigen von den sog. Selbstständigen.
An dieser Stelle enthüllt sich in aller Klarheit der kapitale Fehler, den Angela Merkel während ihres Wahlkampfes machte, und der sie nicht nur ihres sicher geglaubten, schwarz-gelben Sieges beraubte. Gemeint ist der "Überfall des Radikalreformers Kirchof" (so Bernd Ulrich in DIE ZEIT). Ihr Fehler hat eine fatale politische Langzeitwirkung. Laut dem ARD-Wirtschaftsmagazin Plusminus schätzen Wirtschaftsinstitute die gesamtwirtschaftlichen Einsparpotentiale eines weitgehend vereinfachten Steuerrechts auf etwa 80 Milliarden Euro. Das sind weit mehr als die lächerlichen 35 Milliarden Euro, die uns zu Beginn der Koalitionsverhandlungen als schicksalsträchtige Finanzlücke verkauft wurden - lächerlich gemessen am jährlichen deutschen Bruttoinlandsprodukt von mehr als 2.100 Milliarden Euro im Jahr 2004. Nur sitzen in der Finanzbürokratie selbstverständlich vor allem Beamte, deren Brüder und Schwestern im Bundestag natürlich alles andere im Sinn haben, als die Zahl der Beamten zu reduzieren. Wahrscheinlich war für sie der durchgeknallte "Radikalreformer" ein lange herbeigesehnter Glücksfall. Denn durch ihn hat es Merkel geschafft – wahrscheinlich sogar völlig unbeabsichtigt -, dass das Thema Steuervereinfachung auf Jahre hinaus vermintes Gebiet sein wird.
So wie 1918 haben wir also eine zweigeteilte Gesellschaft: Die politische verbeamtete Elite, die sich im Wesentlichen aus sozial perfekt Abgesicherten zusammensetzt, die jedoch von "denen da unten" vollkommene Flexibilität verlangt. Das wird, so wie in den USA, ohne Probleme funktionieren, wenn den Unterschichten, also dem "Abschaum" (frei nach Sarkozy), nur intensiv genug eingehämmert wird, dass sie selbst ihre eigenen Chancen nicht genutzt hätten, dass sie also letztlich an ihrem Elend und ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld seien. Indizien dafür, dass das funktioniert, gibt es hierzulande schon lange.