Der Kampf um die Zukunft

Was haben Windows 98 und der Film "X Files" gemeinsam?

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Die bescheiden lancierte Markteinführung von Windows 98 scheint, oberflächlich gesehen, untypisch für Microsoft zu sein, besonders wenn man sie mit dem globalen Werbebombardement für Windows 95 vergleicht, für das Bill Gates keine Kosten scheute.

Für Win 95 kaufte er einen Song von den Rolling Stones und bezahlte die Besitzer des Empire State Building dafür, daß sie das Wahrzeichen von New York in denselben Farben erleuchten ließen wie das Microsoft-Logo. Warum also nicht den Nachfolger dieses Betriebssystems mit Fanfaren ankündigen?

Weil das verbesserte Win 98 ähnlich wie die seltsam heruntergefahrene Werbung für es vorwiegend hinter der Szene arbeitet und Dinge unter der Oberfläche des Betriebssystems und jenseits der Wahrnehmung der meisten Benutzer verändert. Überdies muß Gates zur Zeit auf seine Schritte achten. Je mehr er Win 98 in Szene setzt, desto bedrohlicher wird es erscheinen.

Das amerikanische Justizministerium blockierte fast schon den Vertrieb des Produkts, weil es fürchtete, daß es lediglich das Monopol von Microsoft weiter ausbauen würde. Ein nicht abreißendes Geraune über die Rolle des neuen Systems in Gates' Schritt für Schritt erfolgender Aneignung des Internet, der Banken und der TV-Firmen führte, zusammen mit dem merkwürdig gering beworbenen Verkaufsstart, zu einer paranoiden Spekulation, die mit Diskussionen über den anderen großen Start in diesem Sommer, den Film "X Files" (Akte X), konkurrierte. Es gibt tatsächlich mehr Ähnlichkeiten zwischen Win 98 und "The X Files: Fight the Future", als man zunächst meinen könnte. Beide stellen einen Schritt auf eine neue Stufe bereits allgegenwärtiger Programme dar und ihr Erfolg hängt von den Mitteilungen wissender Insider ab.

Verglichen mit den anderen "Kassenschlagern" wie "Godzilla" oder "Deep Impact" erfolgte der Start der "X Files" sehr bescheiden. Im Vertrauen darauf, daß die viele Millionen Menschen umfassende Menge an Fernsehfans schon die Kinos füllen werde, unternahm der Produzent Chris Carter nur einen einzigen Werbeversuch: Er ließ Mitarbeiter bei der Produktion gefälschte Drehbuchseiten im Internet veröffentlichen, wo sie von den besessenen Fans endlos wiederholt und dekonstruiert werden sollten. Diese inszenierten "Verstöße" gegen die angeblich felsenfesten Geheimhaltungsverpflichtungen förderten jene Art der Gerüchte, die Konspirationsfanatiker lieben, während sie gleichzeitig die Illusion entstehen ließen, daß die findigsten Internetfans der Show wirklich auf dem Laufenden seien.

Angesichts des weitverbreiteten Glaubens, daß Bill Gates eine unaufhaltbare Macht ist, die sich die globale Ökonomie unterwerfen wird, endete seine erste öffentliche Demonstration von Win 98 ganz ähnlich in einem noch niemals dagewesenen Desaster. Auf einem riesigen Projektionsschirm stürzte Win 98 vor Hunderten von Zuschauern und Dutzenden von Fernsehkameras ab. Bill Gates' eigene Demo-Version war blockiert und mußte neu geladen werden. War diese verwirrende Panne tatsächlich ein Unglücksfall oder war sie ein sorgfältig inszeniertes Werbeereignis? Wie könnte man einen Mann besser vermenschlichen, der so kalkulierend, arrogant und unaufhaltsam zu sein scheint? Das wäre genauso, als würde man in sein Gesicht eine Torte werfen. Ach so, das ist schon passiert? Traue niemanden.

Diese Atmosphäre von Geheimnis und unbeantworteten Fragen zwingt die Fans von "X Files" dazu, sich den ersten Kinofilm der Science-Fiction-Kriminalgeschichte anzusehen. Die letzten Folgen führten tatsächlich neue Handlungsstränge und Spannungsmomente ein - Was ist dieser schwarze Schleim, und was wollen die Aliens wirklich? -, die nur im Film beantwortet werden. (Und wir greifen Microsoft an, weil das Unternehmen Windows gegen das Internet einsetzt!)

Wenn Zuschauer einmal süchtig sind auf die kostenlose Fernsehserie "X Files", bemerken sie wirklich, "daß die Wahrheit da draußen liegt" - und den Preis für eine Kinokarte kostet. Ganz ähnlich erwarten diejenigen gierig den Vertrieb von Win 98, die von den Störungen und Abstürzen von Win 95 genervt sind. Wir hoffen verzweifelt, da wir leider auf das langsame und instabile Betriebssystem angewiesen und genauso abhängig von unseren Internetdiensten und Textprogrammen sind, daß Win 98 die nagenden Fragen beantworten wird, die sein Vorgänger gestellt hat: Lassen sich wirklich alle Überbleibsel alter Programme entfernen? Gibt es eine Möglichkeit, länger als sechs Minuten ohne Absturz mit dem Internet verbunden zu sein? Werden 16-Bit und 32-Bit Programme jemals wirklich zusammen funktionieren? Wird Microsoft eine wirkliche "Plug and play"-Routine zum Finden von neuer Hardware entwickeln?

Nachdem ich jetzt Win 98 installiert und die "X Files: Fight the Future" gesehen habe, kann ich all diese Fragen und noch viele mehr beantworten. Die wichtigste Frage ist, wie ich glaube, wer für eines von beiden wirklich Geld ausgeben muß. Die einfache Antwort ist, daß Sie es selbst wissen werden, wenn Sie das müssen. Wenn Win 95 auf Ihrem Computer mit einem Minimum an Abstürzen läuft und Sie keine neue Hardware wie Kameras oder Video installieren wollen, dann bleiben Sie bei dem, was Sie haben. Wer, ehrlich gesagt, Win 98 benötigt, der weiß das bereits. Das Upgrade ist wirklich nur Win 95, Version 3.

Man mußte so viele Flickarbeiten ausführen und lose Enden verbinden, um Win 95 tauglich fürs Internet zu machen, daß verschiedene Programme und ihre Erweiterungen miteinander in Konflikt traten, was zu Abstürzen führte. Es war an der Zeit, eine Version herauszubringen, die alles von Beginn an integriert.

Der Film "X Files" leistet genau dasselbe. Ein Freund von mir, der bis vor kurzem als Drehbuchautor für die Fernsehserie arbeitete, bekannte einmal, daß sie wirklich niemals eine Vorstellung gehabt hätten, worauf die Geschichte eigentlich zulaufen sollte. Sie schufen einfach noch mehr Schleifen und Handlungsstränge und stellten sich vor, daß sie diese irgendwann schon zusammenbinden würden. Der Film erfüllt dieses Ziel und integriert die in Konflikt stehenden Geschichten in einen einzigen Plot mit einer gewissen Richtung. Der wirkliche Zweck von "X Files: Fight the Future" besteht einzig daran, um die Zukunft der Serie in einem neuen Medium zu kämpfen, so daß die Stars weiterhin ihren Tagesgeschäften nachgehen können.

Ganz ähnlich ist Windows 98 ein einfacher Platzhalter, der das Universum im Stil von Windows 95 aufrechterhält und lange genug funktionieren soll, bis Microsoft die nächste wirklich neue Generation eines PC/Internet-Betriebssystems entwickeln kann, das wahrscheinlich eine hybride Form von Windows NT sein wird. Der Film und das Betriebssystem bügeln einige Sünden der Vergangenheit aus, aber ihr wirklicher Zweck ist, einen Claim für die Zukunft abzustecken. Zahlen Sie für keines von beiden etwas, es sei denn, Sie brauchen es jetzt.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer

Copyright 1998 by Douglas Rushkoff
Distributed by New York Times Special Features

Siehe auch Shirley Shor: Smart House - Version 2.0. Das Haus von Bill Gates als Modell für das Haus der Zukunft.