"Der Libanon könnte ein neuer Klon der anderen autoritären arabischen Regimes werden"
Der libanesische Drusenführer Walid Jumblatt über die Unabhängigkeit des Libanon, den Einfluss des syrischen Geheimdienstes, ökonomische Sanktionen und den Widerstand im Irak
Am vergangenen Sonntag hat der Syrische Präsident, Bashar Assad, zum wiederholten Male die Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrates kritisiert, welche die Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Souveränität des Libanons fordert. Der Anlass zu dieser Resolution, die syrische Einflussnahme bei der Amtszeitverlängerung des libanesischen Präsidenten (vgl. "Augen zu und durch"), sei nur ein vorgeschobener Grund gewesen. In Wirklichkeit ginge es um strategische Ziele.
Die Forderungen nach dem Abzug aller ausländischer Truppen, sowie die Entwaffnung aller Milizen im Libanon machten das sehr deutlich. "Internationale Institutionen sind auf Kosten kleinerer Staaten zum Werkzeug der Supermächte geworden", erklärte der Präsident.
Im Libanon haben sich mittlerweile die Wellen des Protestes gegen die Amtszeitverlängerung von Emile Lahoud gelegt, die hauptsächlich von Walid Jumblatts "Progressiver Sozialistischer Partei" getragen wurden. Es gibt zwar keine öffentlichen Veranstaltungen mehr gegen die Amtszeitverlängerung, aber eine Regierungsbeteiligung der Sozialisten bleibt weiterhin ausgeschlossen. Hintergrund der öffentlichen Zurückhaltung dürfte das Attentat auf den Ex-Wirtschaftsminister, Marwan Hamade, vor gut einer Woche sein. Eine Autobombe hatte Hamade, der aus Protest gegen die Amtszeitverlängerung aus dem Kabinett zurückgetreten war, und seinen Leibwächter schwer verletzt. Sein Fahrer war dabei ums Leben gekommen.
Marwan Hamade ist Mitglied der "Progressiven Sozialistischen Partei" und wie Walid Jumblatt ein Druse. Allgemein wurde das Attentat als Warnung an die Partei verstanden, in Zukunft bei ihrer Kritik zurückhaltender zu sein. Noch am Tag des Attentats verlas Marwan Hamade eine Erklärung, die alle zur Ruhe aufrief. Ein Lebenszeichen, das etwaige Ausschreitungen von Seiten der Drusen verhindern sollte. Telepolis sprach mit dem Drusenführer Walid Jumblatt.
Sie haben gesagt, die Verfassung sei ein Schritt zum Polizeistaat?
Walid Jumblatt: Ja, langsam aber sicher wird Libanon ein Polizeistaat. Als Lahoud 1998 zum Präsidenten gewählt wurde, habe ich bereits vor der Militarisierung der Gesellschaft gewarnt und jetzt passiert genau das. Der Geheimdienst spielt in vielen Aspekten eine immer größere Rolle. Manchmal spioniert jeder jeden aus. Das ist fast so, wie damals in Ostdeutschland.
Im September wurden bei einer Demonstration gegen den alten und neuen Präsidenten einige ihrer Gefolgsleute verhaftet.
Walid Jumblatt: Ja, was da passierte, ist ein Beweis dafür, dass der Polizeistaat im Libanon überhand nimmt. Jeder von uns kann jeder Zeit vom Sicherheitsapparat aus dem Haus geholt werden. Um einen Vergleich aus der Genetik zu benutzen, Libanon könnte ein neuer Klon der anderen autoritären arabischen Regimes werden. Das wollen wir unter keinen Umständen. Die Existenz des Libanon basiert auf kulturelle Vielfalt, auf Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit. Für die arabische Welt ist es auch ein Gewinn, wenn der Libanon das bleibt, was er ist.
Überzeugung durch Geheimdienst oder Geld
In verschiedenen Zeitungen war zu lesen, dass ein Grossteil der Abgeordneten, die für die Änderung gestimmt hatten, eigentlich nicht dafür waren. Warum stimmen die Leute nicht entsprechend ihrer Meinung ab?
Walid Jumblatt: Viele Abgeordnete sind von Syrien beeinflusst. Präsident Bashar Assad sagt zu Rafik Hariri, dem Premierminister, dass Lahoud der richtige Mann sei, und dann ist er das eben auch. Andere Abgeordnete werden auch von den Geheimdiensten überzeugt oder auch mit Geld.
Bestechung?
Walid Jumblatt: ... Ja, schwarze Schließfächer in Banken oder im Spielcasino du Liban.
So einfach funktioniert das?
Walid Jumblatt: Unglücklicherweise ja. Libanesische Politiker haben sich einfach an den Deal mit dem syrischen Geheimdienst gewöhnt.
Rafik Hariri hatte ein paar Tage vor der Abstimmung ein Gespräch mit dem syrischen Geheimdienstchef, Rustom Ghazaleh, der ihn überzeugte, doch für die Amtszeitverlängerung des Präsidenten zu stimmen.
Walid Jumblatt: Hariri war gegen die Verfassungsänderung, jedenfalls hatte er das mehrfach gesagt. Aber offensichtlich konnte er einigen Angeboten nicht widerstehen.
Welche Angebote können einen milliardenschweren Politiker, zu dessen Freunden internationale Staatsmänner wie Jacques Chirac zählen, dazu bringen, das Gegenteil von dem zu tun, was er für richtig hält?
Walid Jumblatt: Er hat einfach seine Meinung geändert, das ist nicht meine Angelegenheit. Da müssen Sie ihn am besten selber fragen. Er wird Ihnen schon eine Erklärung geben. Obwohl wir in sehr vielen Punkten anderer Meinung sind, privat ist er ein guter Freund. Ich weiß nur, dass er unter großem Druck gestanden hat. Aber natürlich ist es inakzeptabel, dass der Premierminister mit dem syrischen Geheimdienstchef diskutieren muss, was auf die Agenda einer Kabinettsitzung kommt und wie er im Parlament abzustimmen hat.
Von Regierungsseite wird Ihnen vorgeworfen, sie seien gegen die nationale Einheit, würden ihr arabische Identität aufgeben.
Walid Jumblatt: Das ist doch alles ein Witz. Unsere Regierung ist alles andere als national. Wir wollen nur nicht, dass der Libanon eine totalitäres Regime wird, mit einer Partei.
Die Verfassungsänderung ist durch die UN-Resolution 1559 nun auch ein internationales Thema geworden...
Walid Jumblatt: ... Stop, die Leute, die dagegen gestimmt haben, wollen nicht in internationale Angelegenheiten verwickelt werden. Das ist ein großes Handicap für uns. Ganz automatisch könnte man uns als Verräter, Imperialisten, amerikanische Agenten bezeichnen. Folglich wollen wir mit diesen internationalen Einmischungen nichts zu tun haben.
Ökonomische Sanktionen können ein großes Problem werden
Ob Sie wollen oder nicht, Ihre Proteste gegen die Änderung sind Wasser auf den Mühlen der amerikanischen Politik gegen Syrien.
Walid Jumblatt: Das ist nicht wahr. Ich habe mehrfach gesagt, dass ich nur für eine Re-Positionierung syrischer Truppen bin, nicht für einen kompletten Abzug. Es gibt ein strategisches Interesse, da noch kein Friedenvertrag mit Israel unterzeichnet ist. Außerdem bin ich für die Anwesenheit von Hisbollah, gegen ihre Entwaffnung und für ihr Weiterbestehen im Libanon. Das steht komplett im Widerspruch zur amerikanischen UN-Resolution.
In der UN-Resolution steht auch, dass "Maßnahmen zur Durchsetzung" ergriffen werden können. Sehen Sie darin eine Gefahr für den Libanon?
Walid Jumblatt: Sanktionen, ökonomische Sanktionen können gut möglich sein. Das alte, ungleiche Spiel eben. Wenn man fair wäre, müsste man eingestehen, dass UN-Resolutionen nicht nur gegen eine Seite angewandt werden können. Es hat Hunderte von UN-Resolutionen zum israelisch-arabischen Konflikt gegeben und nicht eine einzige wurde angewandt.
Für Syrien sind die Sanktionen ein kleines Problem, der Handel mit den USA ist verschwindend gering. Im Falle des Libanons wäre das aber anders. Die Libanesische Lira ist an den Dollar gekoppelt, große Teile der Bankeinlagen im Libanon sind in amerikanischer Währung.
Walid Jumblatt: Ja, ökonomische Sanktionen können ein großes Problem werden.
Glauben Sie, dass die USA so weit gehen werden?
Walid Jumblatt: Ich kann dazu nur sagen, dass ich gegen jede Einmischung der USA in unsere Angelegenheiten bin. Aber die Syrier hätten dieses ganze Problem vermeiden können, indem sie die Libanesen einfach hätten frei wählen lassen. Für mich war diese Verfassungsänderung eine Falle. Von wem weiß ich nicht, aber die Syrier sind darauf reingefallen.
Der Maronitische Erzbischof sagte in einer Erklärung, dass die syrische Regierung den Libanon wie eine ihrer Provinzen behandelt.
Walid Jumblatt: Mit dem Erzbischof habe ich natürlich große Differenzen, aber in diesem Punkt hat er recht.
Warum ist die Präsenz syrischer Truppen im Libanon so wichtig für Sie?
Walid Jumblatt: Sie sind berechtigt ihre Hauptstadt zu schützen. Man darf nicht vergessen, dass die Israelis, als sie 1982 den Libanon besetzten, quasi vor den Toren Damaskus standen. Die Syrier können im Libanon militärische Positionen haben, um sich zu verteidigen. Das ist keinerlei Problem für mich. Die Syrier sollten sich nur nicht in jeden Aspekt der libanesischen Belange einmischen.
Wie bewerten Sie den Abzug der 3000 syrischen Soldaten im letzten Monat?
Walid Jumblatt: Das macht keinen großen Unterschied. Wie schon gesagt, wir haben kein Problem mit syrischen Truppen im Libanon, nur mit der syrischen Einmischung in interne Angelegenheiten.
Hisbollah als Waffe gegen Israel
Es gibt für Sie also keinen Zweifel, dass nach einem kompletten Abzug syrischer Truppen die Israelis erneut den Libanon besetzen würden?
Walid Jumblatt: Das habe ich nicht gesagt. Aber ich darf Sie daran erinnern, für die Israelis, auch wenn wir sie später besiegten, war die Invasion damals eine sehr einfache militärische Unternehmung. Jetzt haben wir eine formidable Waffe gegen Israel und das ist Hisbollah, die Israel schon einmal hinaus gejagt hat. Wenn Israel noch einmal mit Hisbollah spielen möchte, ich würde es ihnen nicht raten.
Gewöhnlich wird gesagt, dass die Hisbollah von Syrien mit Waffen und Geld ausgestattet wird.
Walid Jumblatt: Das ist nicht mein Problem, woher die Hisbollah ihr Geld oder ihre Waffen bekommt. Ich weiß nur, ich bin ein Unterstützer von Hisbollah.
Weil sie so etwas wie Widerstand repräsentiert?
Walid Jumblatt: Ja, ganz klar. Für mich ist es der einzige Weg wie wir Araber die israelische Okkupation loswerden können. Auch der einzige Weg gegen die amerikanische Okkupation des Iraks.
Das wird seine Zeit dauern.
Walid Jumblatt: Wir haben es nicht eilig. Und bis jetzt ist die amerikanische Besatzung des Iraks nicht gerade erfolgreich.
Zustände im Irak schlimmer als im libanesischen Bürgerkrieg
Erinnert Sie die Situation im Irak mit Entführungen und Milizen an den Bürgerkrieg im Libanon?
Walid Jumblatt: Im Irak ist noch schlimmer. Die Libanesen haben Ausländer entführt, aber nicht getötet. Na ja, stimmt nicht ganz. Einige wenige wurden getötet, weil sie angeblich Spione waren. Einer davon war der Amerikaner Buckley. Aber es wurde nicht so bedingungslos getötet wie jetzt im Irak. Diese Entführungen werfen ein sehr schlechtes Licht auf den Widerstand. Libanesen, Ägypter, Italiener sind ermordet worden, wer weiß, was jetzt mit den Franzosen passiert. Widerstand gegen die Okkupation ist eine Sache, aber solche Morde, das ist etwas ganz anderes.
Sehen Sie Unterschiede zwischen sunnitischem und schiitischem Widerstand im Irak, wie er in den Medien immer wieder präsentiert wird?
Walid Jumblatt: Ich halte das für eines der vielen Klischees. Hier das Sunnitische Dreieck, dort die Schiiten. Es gibt einen genuinen irakischen Widerstand. Zusammensetzung und Struktur ist sehr komplex. Auch ein Muktada al Sadr ist organisatorisch und politisch mit anderen Gruppierungen verbunden, auch auf einer Stammesebene. Und die Stämme selbst bestehen oft aus Sunniten und Schiiten. Man kann den Irak nicht in die drei Teile "Kurden, Sunniten und Schiiten" sortieren. Im Irak gibt es ein übergreifendes nationales Gefühl, das den Widerstand bestimmt.
Gibt es nicht Unterschiede in der Methodik der kämpfenden Gruppen? Schiiten köpfen keine Entführten.
Walid Jumblatt: Niemand weiß, wer das macht. Das sind extremistische Fundamentalisten. Unglücklicherweise sind es Sunniten. Aber man weiß wenig darüber, vielleicht sind es nur Gangster.
Sie unterstützen Hisbollah, also müsste auch Muktada al Sadr ihr Mann sein.
Walid Jumblatt: Ich unterstütze politisch den irakischen Widerstand gegen die amerikanische Okkupation. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Ist es als Sozialist nicht ein wenig komisch, religiöse Bewegungen zu unterstützen?
Walid Jumblatt: Wir leben nicht in Europa, sondern im Mittleren Osten. Hier gibt es andere Präferenzen.
Wie soll man das verstehen?
Walid Jumblatt: Dank Hisbollah und der nationalen Bewegung des Libanons sind wir zwar die Israelis losgeworden. Aber Palästina ist seit Jahren besetzt und nun auch der Irak. Im Mittleren Osten gibt es dringlichere Probleme, als sich den Kopf über das Verhältnis von Religion und Sozialismus zu zerbrechen.
Die Zukunft des Mittleren Ostens sieht momentan nicht sehr rosig aus ....
Walid Jumblatt: Dank der bedingungslosen Unterstützung Israels durch der USA sind wir in einer Sackgasse.
Ein Grund für Sie pessimistisch zu sein?
Walid Jumblatt: Nein, ganz im Gegenteil. Wir werden nicht aufgeben. Wir müssen kulturell und politisch weiterkämpfen. Das ist ein langer Weg, der vielleicht Jahrzehnte dauert. Und was den Irak betrifft, die USA sind dort nicht sehr erfolgreich. Der Pentagon hat zugegeben, dass sie 1000 Tote und 7000 Verwundete haben. In Bagdad gibt es keine zentrale Regierung, es gibt dort nichts. In Afghanistan kontrollieren die US-Truppen die Hauptstadt Kabul, aber auf dem Land regieren die Warlords. Von dem Versuch, den Mittleren Osten zu demokratisieren, ist außer Chaos nicht viel übrig geblieben.
Ist der Kampf um den Irak entscheidend für die politische Zukunft des gesamten Mittleren Ostens?
Walid Jumblatt: Unter diesem Gesichtspunkt sehe ich das Ganze nicht. Es ist nicht das erste Mal, dass eine ausländische Macht ein Land im Mittleren Osten besetzt. Nun gibt es einen Widerstand gegen diese Besatzung. So einfach ist das. Wie das ausgehen wird, werden wir sehen.
Zurück zum Libanon. Den Staat drücken fast 40 Milliarden Schulden und gehört damit zu den höchst verschuldeten Ländern der Welt. Wie kann man aus dieser Misere kommen?
Die Linke und die nationale arabische Bewegung haben verloren
Walid Jumblatt: Wir haben uns zu lange auf die Sektoren Tourismus und Bankenwesen konzentriert. Das ist nicht schlecht, aber bei weitem nicht genug. Man muss auf andere Bereiche, wie die Landwirtschaft und Industrie ausweiten. Auch Hightech wäre gut. Die gibt es so gut wie gar nicht im Libanon, deshalb verlassen hochqualifizierte Fachkräfte das Land. Ich bin für eine zentrale Planwirtschaft. Bisher hat ein wilder Kapitalismus den Libanon regiert. Vier oder fünf Prozent der Bevölkerung kontrollieren die gesamte Wirtschaft.
Ein Journalist der Tageszeitung von Al Nahar sagte, die wahre Regierung des Libanon sei ein Verbund aus Superreichen und dem Geheimdienst.
Walid Jumblatt: Ja, das ist leider richtig. Man hat die Gewerkschaften, die normalerweise ein Werkzeug für sozialen und politischen Wandel sind, neutralisiert. Dort gibt es, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nur Puppen, die der Geheimdienst installiert hat.
Trotzdem gab es im Mai Demonstrationen gegen die Regierung. In Hay al Sellom wurden fünf Menschen vom Militär erschossen, als man das Arbeitsministerium anzündete.
Walid Jumblatt: Die Leute in diesem Stadtteil kommen aus dem Bekaa Tal und aus dem Süden. Dort hat die Regierung keinerlei Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaft gemacht. Also kommen die Leute nach Beirut, aber da geht es ihnen auch nicht viel besser. Hay al Sellom ist eine völlig andere Welt.
40 % der libanesischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Glauben Sie da nicht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zu weiteren sozialen Protesten kommt?
Walid Jumblatt: Dazu braucht man echte Gewerkschaften und Parteien, die große Bevölkerungsteile repräsentieren. Bis heute gibt es das nicht im Libanon. Politische Bewegungen sind konfessionsabhängig, das ist das Problem. Früher war das besser, als es noch eine starke Linke gab. Aber das ist ja schon lange vorbei.
Nun hat der Islam die Linke emanzipatorisch beerbt.
Walid Jumblatt: Jede Lücke muss eben gefüllt werden. Die Linke und die nationale arabische Bewegung haben verloren. Zu Gunsten des Islam, der das entstandene Vakuum aufgefüllt hat.
Bereitet Ihnen diese Entwicklung keine Kopfschmerzen oder Sorgen?
Walid Jumblatt: Man muss die Dinge so akzeptieren, wie sie sind.