Der Löwe in Ketten

Saddam Hussein und sein Tribunal

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Am 3.Dezember 1792 hielt Maximilien Robespierre eine bemerkenswerte Rede, wie mit dem Bürger Louis Capet, vulgo: Ludwig XVI., zu verfahren sei. Robespierre erregte sich über die grassierenden Vorschläge, dem entmachteten Monarchen einen Prozess zu machen, ihm Verteidiger zur Seite zu stellen, die das Volk aufwiegeln könnten und Richter zu gewähren, die den Tyrannen sogar gegebenenfalls frei sprechen könnten. Denn, so der Prozessprofi Robespierre, wenn man ein Verfahren nicht zur Farce verkommen lassen will, müsse auch die Möglichkeit eines Freispruchs bestehen. Der Ruf nach dem Prozess sei ein Irrtum, weil die gesellschaftlichen Konventionen, die Justizförmigkeit von Verfahren gegen die Widersacher des Volkes nur dann gewährt werden können, wenn überhaupt der Gesellschaftsvertrag noch gelten würde. Hier aber herrsche der Kriegszustand. Die Entmachtung des Tyrannen sei bereits der Prozess gewesen. Diese Gerechtigkeit des Volkes respektive der Geschichte ginge über die Gerechtigkeit der Gerichte hinaus.

Der Prozess gegen Saddam Hussein droht einer dieser Schauprozesse zu werden, bei denen allenfalls das Strafmaß, entweder die gerade wieder im Irak unseligerweise eingeführte Todesstrafe oder lebenslängliche Haft, umstritten sein könnte. Robespierre hielt solche Tyrannenprozesse für "Betrug und Intrige". Die Römer hätten richtig gehandelt, wenn es darum ging, mit Tyrannen kurzen Prozess, d.h. keinen Prozess zu machen - jenseits der bürgerlichen Gerechtigkeit und der Achtung des Tyrannen als eines rechtsfähigen Individuums.

Das mag in unseren Ohren höchst krude klingen, weil sich doch gerade der Rechtsstaat als ein integrales Moment unseres Demokratiekonzepts gegen Despotenwillkür bewähren soll und dem staunenden Irak demokratiepraktischer Vorschulunterricht gewährt werden soll. Doch bei näherem Zusehen markiert der wütende Ausfall Robespierres gegen die Apologeten eines rechtsstaatlichen Verfahrens auch die gegenwärtige Situation, welche Risiken mit einem Prozess gegen den einstigen Zwingherrn von Bagdad verbunden sind.

In der nordirakischen Stadt Samarra gab es bereits Sympathieveranstaltungen, bei denen bislang nur Hunderte von Anhängern des Diktators skandierten: "Mit unserem Blut, mit unserer Seele, wir werden Saddam Hussein verteidigen." Das droht nach den Erfahrungen der letzten Monate mehr als bloße Rhetorik zu sein. Solidarisierungseffekte mit dem prominentesten Gefangenen des Irak werden kaum zu verhindern sein, zumal dieser Prozess in besonderem Maße den Hautgout von Siegerjustiz nicht loswerden wird. Denn längst wird Washingtons offizielle Version, Hussein habe sich dem irakischen Volk gegenüber zu verantworten, von den posthumen Legitimationsversuchen eines vom Zaun gebrochenen Kriegs der USA überschattet.

Dieser Prozess bestätigt wiederum die Fragilität der von den Alliierten angerichteten Situation, ohne dass wir nach unzähligen Anschlägen solche Anschauungsbeispiele noch benötigten. So wenig die Ent-Nazifizierung in Deutschland ein schneller Prozess war, so wenig wird die Ent-Saddamisierung des Irak, die politische Neuorientierung das Ergebnis einer forcierten Demokratie sein, deren paradoxe Souveränität mehr oder weniger explizit von Amerikas Gnaden abhängt. Und die historischen Voraussetzungen der Nürnberger Prozesse sind nicht mit jenen des nun begonnenen Verfahrens zu verwechseln. Für die Verteidiger Saddam Husseins ist ohnehin der ganze Prozess illegal.

Saddams Prozesssituation ist schon deshalb nicht so schlecht, wenngleich das Ergebnis mehr oder weniger feststeht, weil die Legitimitätsressourcen dieses Gerichts nicht hoch anzusetzen sind. "Die irakische Justiz ist illegal, genauso wie die Übergangsregierung, die sich nur auf die USA stützt", erklärte bereits Saddam Husseins Chefverteidiger Mohamed Raschdan. "Seine Exzellenz Saddam Hussein ist nach wie vor der gesetzliche Präsident Iraks." Rein legalistisch gesprochen existiert überdies nach wie vor das stupende Wahlergebnis von 2002, das "seine Exzellenz" mit 100% der Stimmen bei 100% Wahlbeteiligung als Wahlsieger verkündete (Der demokratische Triumph des Willens).

Wäre ein unverhohlener Akt der Siegerjustiz, den nun die Verteidiger des Despoten im Rahmen des Verfahrens verhindern wollen, nicht die moralisch bessere Lösung, ohne einen inszenierten Prozess vorzuschieben? Denn Siegerjustiz ist nicht per se verwerflich, wenn sie ein pathologisches Machtmonstrum trifft, das ohnehin nicht mehr in eine irakische Bürgergesellschaft zu integrieren wäre. Worin liegt überhaupt der Sinn einer Strafe, wenn die Spezialprävention gegenüber der Abschreckung und Vergeltung kein Thema dieses Prozesses sein kann?

Als ein vermummtes Schnelltribunal 1989 den rumänischen Diktator Ceausescu ohne irgendwelche Kritik der Sachwalter des Weltgewissens kurzerhand exekutieren ließ, ging es vor allem darum, die Volksbefreiung nicht dadurch zu riskieren, dass alte Machtbündnisse den historischen Sieg revidieren könnten. Und im Fall Saddam Husseins tönen auch bereits die Gerüchte, dass "Rebellen" von Auslandsregimen gestützt werden, denen Amerikas erzwungene Demokratie ein Dorn im Auge ist, weil sie Angst haben, zu den Dominosteinen zu gehören, die demnächst auch noch fallen könnten.

Forensischer Rollentausch

Denn längst haben wir das Ende der Fährnisse nicht erreicht, die mit diesem Prozess verbunden sind: Die Gefahr von Solidaritätseffekten für einen vermeintlich zahnlosen Tyrannen, der nun an der Kette geführt und gedemütigt wird, besteht nicht nur im Blick auf unverbesserliche Anhänger, sondern auch bei jener großen diffusen Gruppe, die auf Grund ihres schlechten Gedächtnisses Mitleid mit dem Mitleidslosen haben. Vor allem aber droht nun eine Instrumentalisierung des Prozesses, die seinerzeit dem Advokaten Robespierre größte Sorge bereitete. Längst steht nicht fest, wer hier wem den Prozess macht.

Slobodan Milosevics Prozessgeplänkel (Von der juristischen Austreibung des Kriegs), der nun seit über zwei Jahre in Den Haag seine Show abzieht (Der Angeklagte als Ankläger), könnte im vorliegenden Fall noch lässig überboten werden. Saddam Hussein hat sein prozessstrategisches Leitmotiv schon intoniert: "Das hier ist doch alles Theater. Der wahre Verbrecher ist Bush."

Und das ist selbst in den Augen der kritischen Weltöffentlichkeit nicht allzu weit hergeholt: Bush führte einen illegitimen Krieg, besorgte im Irak das Nachkriegschaos, seine Soldaten bis in die höchsten Ränge hinein lassen foltern und Saddam Hussein wird der Prozess gemacht. Ist der ein Schelm, der Böses dabei denkt? Dass Demokratie, Wahlen und Justiz Theater sind, ist dem narzisstischen Herrscher von Bagdad freilich noch nie fremd gewesen. In dem Stück, das nun gegeben wird, wird Saddam Hussein jedenfalls höchst selbst die Chefrolle als Ankläger reklamieren. Die Illegitimität dieses Krieges, die zur Entmachtung Saddams führte, ist gutes Verteidigungskapital und könnte bei einem weiterem Machtverfall Bushs bis hin zu seiner Nichtwiederwahl noch Zins und Zinseszinsen für den machtgeschulten Potentaten abwerfen.

Zwar wird eine Missetat nicht durch ein andere gesühnt oder vergolten. Aber Saddam Hussein hat nichts zu verlieren und ist kaltblütig genug, seine Chance zu nutzen - jene Chance, die Robespierre "seinem König" nie gewährt hätte. Dieser Führer, den Hans Magnus Enzensberger weiland mit einem noch berühmteren Führer verglich, scheint zwar ein bisschen müde geworden sein, aber sieht nun fast schon wieder smart aus, nachdem zuletzt nur die Troglodyten-Bilder seiner Kellerlochexistenz um die Welt gingen.

Zwar mag man grübeln, warum sich Saddam Hussein diese Schmach überhaupt zufügen lässt, wo doch allein der Selbstmord des Tyrannen ein drehbuchgerechter Abgang gewesen wäre. Aber diese neue Rolle - nach einer Generation Potentatenherrlichkeit - fügt sich nicht nur in Saddam Husseins früheste Kindheitserfahrungen als geprügelter Hund ein, sondern auch in seine übrige Biografie, dass er auch in bedrängten bis hoffnungslosen Situationen weiterkämpft.

Die Leiden der Tyrannei

Gerade die Prozessinstrumentalisierung der anderen Seite, denn viel mehr ist es nicht, könnte ins Auge gehen. Saddam steht "just in time" vor Gericht, jetzt nachdem formal ein Machtwechsel stattgefunden hat, der seine rechtsstaatliche Glasur wohl dadurch erhalten soll, dass dem Volk der Tyrann überantwortet wird. Doch ist die Verurteilung des Tyrannen mehr als die selbstgefällige Oberflächenbehandlung einer gesellschaftlichen Dauerkrisis des Irak, die tiefere Ursachen hat als nur die erfolgreiche Machtgier eines skrupellosen Despoten.

Saddam Hussein und seine mitangeklagten Paladine sind Produkte dieser ethnisch wie religiös disparaten Gesellschaft, die nur dem Namen nach eine Nation ist. "Die Tyrannis, das ist nicht nur der Tyrann, allein oder seine Komplizen, sondern das sind auch die Untertanen, seine Opfer, die ihn zum Tyrannen gemacht haben." Manès Sperber knüpft mit dieser Dialektik an einen alten platonischen Diskurs an, dass der Tyrann ein Opfer seiner Leidenschaften, der Machtgier und der Umstände ist, darin ebenso unfrei ist wie die ihm scheinbar Unterworfenen. Kurzum: Wer Tyrannen zulässt, ist nicht reif für die Demokratie.

Und Saddam Hussein wird in dem anstehenden Prozess zynisch darauf verweisen können, dass während seiner Herrschaft und ungeachtet der rücksichtslosen Verfolgung von ethnischen Gruppen wie den Kurden oder religiösen Gruppen wie den Schiiten, von der er selbstverständlich jetzt nichts mehr wissen will, zumindest die innere Sicherheit besser gewährleistet war als in einem von den USA dominierten Irak, der auf unabsehbare Zeit im Nachkriegschaos versinkt. Saddam Hussein wurde ja gerade von den Amerikanern zuvor umschmeichelt und durfte lange danach immer noch regieren, weil er für Ruhe, Totenruhe in der Region sorgte.

Seine unstillbare Kriegslüsternheit war die älteste, schon in der Antike beklagte Strategie von Diktatoren, ihre Macht zu erhalten und auszubauen. Er spielte das sattsam bekannte Spiel der Macht, den potenziellen Widerstand innerer Feinde nicht nur durch alltäglichen Terror, sondern vor allem durch äußere Widersacher abzulenken. Saddams düstere Machtglocke reicht zwar zum wenigsten gegenüber der Weltöffentlichkeit als plausible Selbstrechtfertigung seiner Schreckensherrschaft, aber derlei demagogische Finten sollten gerade bei jenen Irakis auf fruchtbaren Boden fallen, die zumindest gegenwärtig für sich weder Sicherheit noch Zukunft in ihrem Land erkennen können. Und wer hat überhaupt Lust auf Zukunft in diesem Land?

Durch solche Prozesse wird die Erkenntnis nicht wachsen, dass Demokratie und Rechtsstaat überlegene Staatsziele sind. Von der Lehren der Geschichte war ohnehin noch nie viel zu erwarten, handelte es sich zumeist doch nur um mehr oder weniger schamhaft verdrängte Erinnerungen. Echte Erkenntnisprozesse brauchen viel Zeit und können nur über gesellschaftliche Machtverteilungen anschaulich gemacht werden, die institutionell stark abgesichert sind und nicht mit den permanenten Hypotheken ihrer Genesis belastetet sind.

Bushs Krieg ist kein guter Auftakt für ein knospendes Demokratiebewusstsein gewesen. Denn letztlich zeigt dieser brachiale Akt nur, dass eine unbedingte Gewaltanwendung erfolgreich ist, so diffus eigennützig und machtorientiert die Zielsetzungen der Menschheitsretter auch sind. Bush hat sich selbst als Potentat seines Krieges und seiner rücksichtslosen Doktrin des amerikanischen Internationalismus aufgeführt, unberührbar von demokratischer Kritik und unlösbaren Legitimationsproblemen, tyrannisch bis heute in der Verfolgung seines Ziels.

Immerhin wäre Robespierre über die alt-römischen Worte hoch zufrieden gewesen, die der irakische Justizminister Malek Dohan el Hassan angeblich an einen der zwanzig Verteidiger des Löwen von Bagdad richtete: Wenn er in den Irak komme, werde er "nicht nur getötet, sondern in Stücke gerissen." Allerdings ist längst nicht prognostizierbar, wer für solche barbarischen Akte zuständig zeichnen würde. Denn wenn auch vieles im Irak mangelhaft ist, einen Mangel an Terroristen dürfte es seit Bushs Antiterrorkampf weder im Irak noch sonst wo in der Welt geben.