Der Mini-Urknall
Tief unter Hamburg und Schleswig-Holstein soll eines der größten physikalischen Experimente aller Zeiten gestartet werden
In zehn Jahren könnte er 33 Kilometer lang sein und rund vier Milliarden Euro gekostet haben. Doch ob der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt tatsächlich zwischen Hamburg-Bahrenfeld und dem Kreis Pinneberg in Schleswig-Holstein gebaut wird, steht bislang noch immer in den Sternen. Der Wissenschaftsrat will sich erst im Laufe der zweiten Jahreshälfte entscheiden, ob er der Bundesregierung empfehlen soll, den Standort Hamburg zur Hälfte mit zu finanzieren. Derzeit wirbt eine Ausstellung im Berliner Automobil-Forum für das gigantische Projekt, und auch das Deutsche Elektronen-Synchrotron (DESY) rührt als federführendes Forschungsinstitut kräftigt die Werbetrommel.
Für den Bau des "TeV-Energy Superconducting Linear Accelerator", genannt TESLA, spricht laut DESY vor allem der Umstand, dass Deutschland gegenüber den Mitbewerbern Japan und USA etwa vier bis fünf Jahre Planungsvorsprung hat. Das ist nach Auskunft von Petra Folkerts, der Leiterin der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, schon deshalb von Bedeutung, "weil allein die im Zusammenhang mit den Baugenehmigungen erforderlichen Planfeststellungsverfahren ungezählte Aktenordner füllen." Konkret bedeutet das im Verhältnis zur Konkurrenz: "Wenn die Bundesregierung beschließt, TESLA finanziell zu unterstützen, könnten wir in einem Jahr den ersten Spatenstich setzen. Die Amerikaner und Japaner wären dazu erst in sechs Jahren in der Lage."
Unter diesen Umständen könnte TESLA nach einer geschätzten Bauzeit von acht Jahren schon 2012 den Betrieb aufnehmen. Die Realisierung des ehrgeizigen Vorhabens, an dem sich schon im Planungsstadium etwa 3.000 Wissenschaftler aus mehr als 30 Ländern beteiligt haben, würde für den Wissenschaftsstandort Deutschland einen kaum abzuschätzenden Imagegewinn bedeuten, entstände dadurch doch endlich ein lang ersehntes "internationales, interdisziplinäres Kompetenzzentrum" mitten in Europa.
Die Chancen stehen dafür insbesondere deshalb gut, weil TESLA der Grundlagenforschung eine Reihe unterschiedlicher Testfelder anbieten soll. Nach Auskunft des DESY reichen diese "vom Aufbau der Materie und ihrer Entstehung im Urknall bis hin zur Erforschung von Werkstoffen und dem Ablauf der Lebensvorgänge". So wollen die Wissenschaftler mit Hilfe des supraleitenden linearen Beschleunigers für Tera-Elektronenvolt-Energien einerseits Erkenntnisse über die Geschichte der Materie und des gesamten Universums gewinnen, andererseits aber auch die zum TESLA-Komplex gehörenden Freie-Elektronen-Laser einsetzen, um ebenso kurze wie intensive Röntgenblitze mit Lasereigenschaften zu erzeugen. Deren Anwendungsbereiche würden sich dann nicht nur auf die Physik beschränken, sondern auch für mehr oder weniger verwandte Disziplinen wie Chemie, Biologie, Medizin, Geologie und Materialforschung nutzbar gemacht werden können.
Der spektakulärste Teil des TESLA-Projektes ist aber ganz ohne Zweifel der 33 Kilometer lange Tunnel, der das DESY-Gelände in Hamburg-Bahrenfeld mit der Nordgrenze des Kreises Pinneberg verbinden soll. Darin wird sich - sollten alle Planungen entsprechend umgesetzt werden können - der lineare Beschleuniger befinden, der aus reinem, auf minus 271 Grad Celsius gekühlten Niob besteht und daher keinen elektrischen Widerstand mehr aufweist. In seiner Mitte prallen die von Norden kommenden Positronen und die aus südlicher Richtung heranfliegenden Elektronen mit einer Rekordenergie von jeweils 250 Milliarden Elektronenvolt aufeinander.
Die DESY-Experten gehen davon aus, dass ihre Energie im Augenblick des Zusammenstoßes so hoch ist wie in der ersten Billionstel Sekunde nach dem Urknall und erhoffen sich von diesen Experimenten deshalb mit einigem Recht entscheidende Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte des Universums. Mit Spannung wird aber auch die bei dem Mini-Urknall zu erwartende spontane Entstehung unterschiedlicher Elementarteilchen erwartet. TESLA soll unter anderem Aufschluss darüber geben, inwieweit die Higgs-Felder die Massenbildung der einzelnen Teilchen beeinflussen oder ob supersymmetrische Phänomene die strikte Trennung von Materie und physikalischen Kräften tatsächlich ad absurdum führen.
Kaum weniger Aufsehen erregend könnten die Ergebnisse der durch den Elektronenbeschleuniger angetriebenen Röntgenlaser sein. Deren Leuchtdichte soll die Leistung der bislang für modern gehaltenen Röntgenquellen gleich um das Zehnmilliardenfache übersteigen. 80.000 Röntgenblitze pro Sekunde würden sogar Vorgänge auf atomarer Ebene sichtbar machen und die Forscher in die Lage versetzen "regelrechte Filme aus dem Mikrokosmos aufzunehmen, etwa zu verfolgen wie eine chemische Reaktion abläuft, wie Feststoffe entstehen oder wie eine lebende Zelle von einem Virus infiziert wird." Mit den Röntgenlasern wäre es schließlich möglich, unterschiedlichste Materialien auf Nanoebene "maßzuschneidern".
Konkurrenz bekommt das TESLA-Projekt vom amerikanischenStanford Linear Accelerator Centre und dem japanischen KEK-Institut, und da wegen des immensen Kostenaufwands weltweit vermutlich nur ein Teilchenbeschleuniger dieser Art gebaut werden kann, ist das Rennen für DESY auch international noch nicht gelaufen. Gleichwohl haben die Hamburger der Konkurrenz nicht nur einen Planungsvorsprung, sondern auch die supraleitenden Beschleunigungsstrecken und die eben beschriebene "Doppelnutzung" voraus.
Davon abgesehen will das DESY sein Projekt ohnehin nicht als nationale Angelegenheit verstanden wissen. Petra Folkerts erklärt Telepolis, "dass 50% der Investitionen vom Ausland getragen werden müssen, um TESLA überhaupt möglich zu machen." Die ausländischen Partner sollen Teile der Anlage in ihrem eigenen Land erstellen und als Gesellschafter Mitverantwortung übernehmen. Nur so kann garantiert werden, dass die verschiedenen Nationen "an dem technologischen und wissenschaftlichen Ertrag der neuen Anlage uneingeschränkt teilhaben."
Zu guter Letzt hat sich das Forschungsinstitut auch auf die Umwelt- und Sicherheitsstandards bestens vorbereitet. Schließlich betreibt das DESY bereits seit 1992 rund um die Uhr den 6,3 Kilometer großen HERA-Beschleuniger, der in einem Tunnelsystem gebaut wurde, über dem sich nicht nur der Hamburger Volkspark, sondern auch Wohn- und Gewerbegebiete befinden. Bislang liegen seine an der Erdoberfläche gemessenen Strahlungswerte deutlich unter denen einer natürlichen Strahlungsquelle. Das Projekt TESLA soll ebenso umweltfreundlich funktionieren und gegen Störfälle mit einem Strahlabsorber gesichert werden. In diesem mit 11 Kubikmeter Wasser gefüllten Titan-Tank, der von dicken Betonwänden umgeben wird, können "flüchtige" Teilchen abgebremst und aufgefangen werden. Laut Folkerts geht aber auch von dem Projekt selbst keinerlei Gefahr aus: "Wir experimentieren schließlich nur mit einzelnen Teilchen. Das unterscheidet TESLA grundsätzlich von den Rahmenbedingungen des 'echten' Urknalls."
Hier ist eine Flash-Animation der geplanten Experimente zu sehen.