Der Neokapitalismus zerstört

SC-Freiburg-Trainer Christian Streich. Bild: Steven Schaap/CC BY-SA 4.0

Mediensplitter (22): Über den enormen Druck in unserer Gesellschaft. Wenn Fußball die Gesamtgesellschaft spiegelt - eine unverblümte, politische Systemkritik von Christian Streich, Trainer des SC Freiburg.

Wer ist der Beste um den Widerstand der Dinge zu übersteigen, die Unbeweglichkeit der Natur? Wer ist der Beste, um die Welt zu bearbeiten? … Das ist es, was der Sport zu sagen hat. Manchmal möchte man ihn andere Dinge sagen lassen, aber dafür ist der Sport nicht gemacht.

Roland Barthes, über Profisport

Wenn ihr wissen wollt, was politisch los ist in Deutschland, braucht ihr nur den Sportteil lesen.

Klaus Theweleit

"Wir leben im Neokapitalismus. Und der Neokapitalismus zerstört." In den Tageszeitungen vom heutigen Ostersamstag wird man diese Sätze vergeblich suchen: Da geht es nur um "die maximale Herausforderung" (Streich), die der FC Bayern heute Nachmittag zum zweiten Mal in dieser Woche für die Spieler des immer noch etwas anderen Bundesligavereins SC Freiburg darstellt, die Christian Streich seit zwölf Jahren trainiert.

Sportredaktionen sind seit jeher konservativ und bieder, und sie glauben von sich selbst, dass sie "unpolitisch" sind, bloß weil sie Sätze wie diese lieber betreten totschweigen, als sie zu zitieren und das Großspektakel des Profisports in einen politischen Zusammenhang zu stellen.

Vielleicht lag es am Nachhall der Siegesstimmung vom Dienstag nach dem Pokalsieg über den FC Bayern. Jedenfalls verweigerte sich Christian Streich, der eben auch ein denkender, ehrlicher Mensch ist, zumindest einmal für fünf Minuten den Konventionen der Fußballpressekonferenz und ihrer Art von Kollaboration mit der Macht und kam unverblümt auf "die Infamie des Bestehenden" (Georg Lukacs) zu sprechen.

Weil Fußball selbstverständlich immer ein Spiegel der Gesellschaft ist, holte der Coach des SC Freiburg zu einer generellen System- und Gesellschaftskritik aus. In einem gut fünfminütigen Monolog prangerte Streich den immensen Druck in unserer Gesellschaft und die Auswüchse des westlichen Wirtschaftssystems an, bei dem die Großkonzerne die Staaten "erpressen".

Zerbrochene Verbindungsketten: Es ist alles individualisiert

Bei der Pressekonferenz am Donnerstag, die man komplett auf der Vereinsseite nachhören kann, beschrieb Streich eine andere "maximale Herausforderung", als ihn ein Lokaljournalist nach dem Druck fragte, dem er und seine Mannschaft ausgesetzt seien:

Der Druck ist immens. Aber der Druck in der Gesellschaft ist immens. Alle lieben den Fußball, auch wenn es Erscheinungen gibt im Fußball, die katastrophal sind, katastrophal. Aber die sind eben auch gesamtgesellschaftlich.

Der Druck ist enorm. Fragen Sie die Menschen, die in Hotels für die Sauberkeit zuständig sind, in welcher Zeit die wie viele Zimmer machen müssen. Es ist alles individualisiert, es gibt in vielen Bereichen kaum noch Verbindungsketten; mit Verbindungsketten meine ich: Früher war es so, da waren Hotels in Familienbetrieben, dort haben Leute gearbeitet, die man gekannt hat, da gab es Verbindungen über Jahrzehnte – das ist alles anders.

Christian Streich

"Großkonzerne machen den Wohlstand kaputt"

Da saß er dann, vor einer roten Sponsorentafel mit den Logos der "Schwarzwaldmilch", des "Rothaus" Tannenzäpfle-Biers, der Fenster und Türen von "Hilzinger", dem "Weberhaus", der Lotto-Gesellschaft Baden-Württemberg und des Energiekonzerns "Badenova", neben ihm auch noch ein paar Flaschen des unvermeidlichen amerikanischen Brausekonzerns und – "Wir sind auch ein Unternehmen, wenn man ehrlich ist. Das hört sich jetzt nicht schön an" – insofern selbst ein Ausdruck des gesamtgesellschaftlichen Widerspruchs.

Vor dieser roten Tafel sprach Streich in seiner Rundumanalyse der weltgeschichtlichen Lage von "brutalsten Problemen" und erklärte, dass wir "in einer Welt von Großkonzernen" leben, und warum eben diese Großkonzerne unsere Wohlstandsverhältnisse zerstören. Es beginne mit dem Mittelstand:

Wir reden immer vom Mittelstand. Die mittelständischen Unternehmen haben es heute wahnsinnig schwer. Dabei hat uns der Mittelstand diesen unglaublichen Wohlstand und Reichtum gebracht – und nicht die Großkonzerne. Die machen es oft kaputt. Machen den Wohlstand kaputt. Die haben sich verselbständigt. Und im Fußball kann man es direkt sehen. Die Entwicklung ist extrem schwierig. ...

Es gibt ein riesige Unternehmen heutzutage. Die Kleinen zahlen Steuern, weil sie die Gesellschaft tragen müssen, und die Mega-Großkonzerne zahlen kaum Steuern. Und wenn sie mal ein bisschen Steuern zahlen sollen, gehen sie weg und erpressen die Länder. Das ist die Situation. Das ist Neokapitalismus.

Christian Streich

Ähnlich klare, offene Aussagen vermisst man selbst von vielen Politikern der Linkspartei.

"Fußball ist immer Ausdruck der Gesamtgesellschaft gewesen"

Was Streich genau mit diesem "Neokapitalismus" meint, bleibt hingegen etwas unklar. Einerseits wohl eine Kombination aus dem deregulierenden "Neoliberalismus", der eher ein sozialdarwinistischer Neokonservatismus ist, und der oft antistaatlichen Entgrenzungsmaschine der Globalisierung.

Zugleich zielt Streich aber auch auf einen soziokulturellen Befund: Die psychischen Probleme, unter denen "wahnsinnig viele Menschen" leiden, fehlende zwischenmenschliche "Wärme", Stress und Überlastungssymptome.

In den sozialen Medien genügten zwei, drei Niederlagen, um Aggressionen und persönliche Attacken auszulösen, die jedes früher gekannte Maß sprengen.

Auch im Fußballbetrieb nehme der Druck auf Sportdirektoren zu, Trainer würden trotz guter Arbeit schon nach wenigen Monaten entlassen.

Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das ist aus meiner Sicht besorgniserregend. Das macht einem Angst. Fußball ist immer Ausdruck der Gesamtgesellschaft gewesen. ... Der Neokapitalismus zerstört.

Christian Streich

Man versteht, was Streich meint, zugleich ist dies alles eben doch auch ein gehöriges Maß politische Romantik.

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