Der Patient ist die Sonne
Die Medizin in den Zeiten des Cyberspace
Thema dieses Beitrags ist die Medizin im Zeitalter der Kommunikationstechnologien. Es geht um Grundsätzliches: Wie beeinflussen moderne Techniken der Datenübertragung, Datenverarbeitung und Datenspeicherung in einer vernetzten Welt die Behandlung von Patienten? Wie verändern sie die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten? Und schließlich: Wie wirken sie sich auf die organisatorische Struktur des Gesundheitssystems aus?
Wer über die Medizin der Zukunft redet, muss über die "elektronische Krankenakte" reden. Er muss darüber reden, daß in Zukunft alle medizinischen Informationen über einen Patienten X nicht mehr in verstaubten Archivschränken in Arztpraxen oder Krankenhäusern liegen werden, sondern in Datenbanken, auf die innerhalb eines definierten Netzes ein bestimmter Personenkreis nach einem bestimmten Modus zugreifen kann - um es zunächst maximal allgemein zu formulieren. Die elektronische Krankenakte ist vordergründig also nichts anderes als der Wechsel von einem Medium in ein anderes, aber mit immensen Konsequenzen. Die Frage, wie ein solches Medizinsystem organisatorisch strukturiert sein soll, wird für das Gesundheitswesens eine der zentralen Fragen der nächsten Jahrzehnte sein. Viele Probleme müssen gelöst werden (Zum aktuellen Stand der Debatte über den Einsatz von Telematik im Gesundheitswesen siehe auch das Thesenpapier Forum-Info-2000 der Bundesregierung.)
Was ist mit der Sicherheit der übertragenen Daten? Wie ist es um den Datenschutz bestellt? Ist ein Arztbesuch vor einer Webkamera auch rechtlich ein Arztbesuch? Neben solchen Detailfragen wird es bei der Einführung elektronischer Patientenakten vor allem um eines gehen: Wo sollen sie liegen, und wer darf wann und wie darauf zugreifen? Seit Jahrhunderten besteht der Konsens, dass die Krankenakte Eigentum des behandelnden Arztes ist. Im Zeitalter elektronischer Krankenakten wird sich früher oder später die Frage stellen: Warum eigentlich, wenn die Informationen auch an mehr oder weniger zentraler Stelle für alle zugänglich aufbewahrt werden könnten? Der dritte Abschnitt dieses Beitrags handelt von der elektronischen Patientenakte: Er entwirft ein organisatorisch-technisches Szenario einer Medizin in der Zeit des Cyberspace, bei dem der Patient der unumschränkte Herr über seine zentral gelagerten Akten ist. Die ersten beiden Abschnitte stellen zur Vorbereitung darauf zwei grundlegende Entwicklungen vor, die durch den Einsatz von Kommunikationstechnologien in der Medizin angestoßen oder beschleunigt werden.
Monitoring und Expertensysteme - Krankheit als Zustand jenseits von zwei Standardabweichungen
Stellen Sie sich vor, Sie hätten Bluthochdruck. Sie würden Medikamente nehmen, regelmäßig ihren Blutdruck messen und ihn irgendwo notieren. Sie würden mit Ihren Notizen zum Arzt rennen, der würde sie ansehen, Ihnen dann ein paar Tabletten mehr oder weniger aufschreiben und Sie wieder nach Hause schicken. Wenn Sie Pech hätten, bekämen Sie irgendwann eine Blutdruckkrise. Sie würden dann entweder den Notarzt anrufen oder kollabieren. Wenn Sie im letztgenannten Fall Glück im Unglück hätten, wäre gerade jemand in der Nähe, der das mit dem Notarzt für Sie erledigt.
In Zukunft wird das anders sein. Sie werden Ihren Blutdruck von einem Gerät messen lassen, das eine Mischung aus Blutdruckmessgerät, Handy, Computer und Kleidungsstück ist: ein Armband, ein Ring, ein Gürtel oder auch - frisch aus den Kreativkellern der amerikanischen Medizinprodukteindustrie - ein T-Shirt. Ihr Blutdruckwert wird über eine Internetverbindung an einen Überwachungscomputer geschickt. Ist er mehrmals hintereinander zu hoch, dann wird dieser Computer Ihren behandelnden Arzt informieren, der wird sich bei Ihnen melden und einen Termin verabreden, spätnachmittags vor der Webkamera. Bereits heute existieren drahtlose Überwachungssysteme, die den Blutdruck, die Sauerstoffsättigung, den Puls oder die Blutgerinnung von gefährdeten Patienten überwachen können, etwa das Projekt "Schlaganfall-Teleservice Saar", das vom Fraunhofer-Institut für biomedizinische Technik im November auf der Medizinmesse "Medica" vorgestellt wurde. Projekte wie dieses repräsentieren einen Typ Medizin, der in Zukunft immer wichtiger werden wird: Weil immer mehr Menschen immer älter werden, werden chronische Erkrankungen immer häufiger, der Überwachungsbedarf damit größer. Erste Studienergebnisse, die zeigen, dass ein elektronisches Monitoring den Patienten tatsächlich zugute kommen könnte, findet man zum Beispiel in einem Übersichtsartikel des renommierten Ärztemagazins British Medical Journal .
Werden Krankheitsparameter elektronisch gemessen, dann kann auch die Überwachung, im Extremfall sogar die Behandlung elektronisch verlaufen, etwa wenn ein Überwachungsprogramm einem Bluthochdruckpatienten eine E-Mail schickt, er solle besser eine halbe Tablette mehr einnehmen. Programme dieser Art heißen in der Medizin "Expertensysteme" (siehe dazu auch den Übersichtsartikel im British Medical Journal). Digitale Expertensysteme und ihre analogen Geschwister, die medizinischen Leitlinien, arbeiten mit dem Standardmenschen, der in der medizinischen Statistik traditionell durch einen Bereich innerhalb von zwei Standardabweichungen definiert wird, was grob einem 95 Prozent-Intervall entspricht. Obwohl die medizinische Computertechnik den Standardmenschen natürlich nicht erfunden hat, wird sie ihn über telemedizinische Diagnose-, in fernerer Zukunft auch Therapiegeräte fester in die medizinische Praxis implementieren, als es das traditionelle klinische Studienwesen je gekonnt hätte.
Auch in einer veränderten ärztlichen Ausbildung - in Deutschland noch in den Kinderschuhen, an nordamerikanischen Eliteuniversitäten bereits etabliert - taucht der Standardmensch als Fall (engl.: case) wieder auf: Hervorragend virtualisierbare Durchschnittsindividuen, bei deren Bearbeitung/Untersuchung der Student - in maximaler Nähe zur klinischen Praxis - paradoxerweise zunehmend auf real existierende Patienten verzichten kann. Anders ausgedrückt: Genauso wie Piloten heute das Fliegen an Flugsimulatoren lernen, lernen Medizinstudenten die Medizin in Zukunft an Patientensimulationen (siehe beispielhaft die Webseiten der kanadischen McGill-Universität).
Information, Austausch und Internet-Anonymität - Krankheit ist, was der Patient dafür hält
In einer vernetzten Welt schmilzt der Informationsvorsprung der Ärzte dahin. Waren schwer zugängliche Symposien, komplizierte Zeitschriftenartikel und kaum illustrierte Lehrbücher die Quellen, aus denen sich lange Zeit das Mehrwissen der Ärzte speiste, so bewegen sich Ärzte und Patienten bereits jetzt und in Zukunft immer mehr im gleichen Medium: dem Internet. Und nicht nur das, sie benutzen auch die gleichen Ansprechpartner. So bieten leicht verständliche Behandlungsleitlinien, die zu Hunderten im Netz zu finden sind, den Ärzten Orientierung und den Patienten die Möglichkeit einer simplen Qualitätskontrolle. Amerikanische Medizinportale wie Medscape oder DrKoop versammeln auf ihren Seiten neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, regelmäßig aktualisierte Übersichtsartikel zu allen denkbaren Krankheitsbildern, Fortbildungsangebote und Expertensprechstunden. Im Gegensatz aber zur Leserschaft traditioneller Medizin-Zeitschriften, die fast ausschließlich aus Ärzten besteht, tummeln sich beispielsweise unter den anderthalb Millionen registrierten Benutzern von Medscape eine Million Laien. Wer seinem Hausarzt misstraut, fragt den Professor bei Medscape, den auch der Hausarzt konsultiert, wenn er nicht weiter weiß.
Das Internet bietet Patienten außerdem die Möglichkeit, andere Patienten mit gleichen Beschwerden kennen zu lernen und sich mit ihnen auszutauschen. Online-Selbsthilfegruppen und Newsgroups erreichen dabei auch Menschen, die in der realen Selbsthilfe außen vor bleiben: Patienten mit seltenen Erkrankungen, Patienten, die in abgelegenen Gegenden wohnen oder Patienten, die aufgrund von Gebrechen ihre Wohnung nur mit großem Aufwand verlassen können. Auch Männer, eine andere große Problemgruppe der traditionellen Selbsthilfe, verlieren online ihre Hemmungen und sind entsprechend häufiger in der Internetselbsthilfe zu finden. Die sogenannte "Internet-Anonymität", die vielen Menschen das Reden über ihre Krankheit erleichtert, ist auch therapeutisch nutzbar.
Ein Beispiel: Kinder, die nachts oder auch tagsüber einnässen, haben oft Schamgefühle, die eine kontinuierliche Patienten-Arzt-Beziehung verhindern - und das ausgerechnet bei einem Krankheitsbild, das nach gängiger Lehrmeinung vor allem dadurch besser wird, dass sich die Kinder gedanklich mit ihrem Problem auseinander setzen, es also möglichst nicht verdrängen. Der amerikanische Kinderarzt Robert Pretlow hat nun im August eine Webseite für Bettnässer eröffnet, die bei den teilnehmenden Kindern eine Art corporate identity erzeugen soll. Die Kinder melden sich nur mit ihrem Vornamen an. Sie sind angehalten, sich täglich einmal einzuloggen und zu berichten, ob ihr Bett in der vergangenen Nacht nass war und ob die Klingelmatratze (ein gängiges therapeutisches Utensil für Bettnässer, das anfängt zu klingeln, sobald die Matratze feucht wird) benutzt wurde. In einer Art Ruhmeshalle werden all die Kinder aufgeführt, die längere Zeit trocken waren - als Belohnung und als Ansporn für die anderen. Einen Chatroom gibt es natürlich auch, genauso bebilderte und animierte Informationstafeln für verschiedene Altersklassen und, um die Kinder bei der Stange zu halten, Computerspiele und Videos. Das Projekt kommt an: Die Kinder (im Schnitt etwa zwanzig) kommen regelmäßig und beschäftigen sich so zwangsläufig mit ihrem Leiden. Ohne Scham, ohne Peinlichkeiten.
Abschied vom "Führer of the patient": Monitoring, Patientenemanzipation und die Struktur eines Medizinsystems in der Zeit des Cyberspace
Um die Wende zum 19. Jahrhundert, als die Infektionskrankheit Tuberkulose das wichtigste medizinische Problem in Europa war, entstand vor allem in Deutschland das Ideal eines omnipotenten Arztes, das in der angloamerikanischen medizinhistorischen Literatur noch heute mit dem wenig schmeichelhaften Begriff "the Führer of the patient" umschrieben wird. Von dieser Licht- und Leitgestalt ist dem Arzt heue zumindest eines geblieben: die absolute Vollmacht über die Krankenunterlagen der Patienten. Und wenn Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer davon träumt, dass der Arzt der Zukunft für die Patienten zum "Lotsen durch das Gesundheitssystem" (Verlagsbeilage der FAZ zur Medica 99 vom 13. November) werden soll, dann klingt unfreiwillig noch immer dieses - in seinen Ursprüngen in die Romantik zurück reichende - Bild des Arzt-Vaters durch alle Fortschrittlichkeitsrhethorik hindurch.
Es spricht nun einiges dafür, dass in einem vernetzten Gesundheitswesen genau das nicht passieren wird. Wenn wir annehmen, dass telemedizinisches Home-Care (siehe Punkt 1) langfristig für die Patientenversorgung einen derartigen Fortschritt bedeutet, daß nicht darauf verzichtet werden kann (worauf zwar einiges hindeutet, was allerdings alles andere als bewiesen ist), wenn wir ferner annehmen, dass die neuen Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des Informationsaustauschs, die das Internet den Patienten bietet (siehe Punkt 2), tatsächlich zu einem Mehr-Wissen und zu mehr Selbständigkeit seitens der Patienten führen werden, ist es dann nicht viel wahrscheinlicher, dass sich das Handlungszentrum im Gesundheitssystem vom Arzt weg und hin zu den Patienten selbst verschiebt?
Wie könnte das aussehen? Weil telemedizinische Produkte aller Voraussicht nach teuer und wartungsintensiv sein werden, könnte man sich vorstellen, dass Monitorzentren entstehen, Verleihzentralen für Telemedizinequipment. Die Überwachungscomputer mit ihren selbständig arbeitenden Expertensystemen würden in diesen Monitorzentren stehen, die dann aus praktischen Gründen auch die entsprechende Ärzte beherbergen würden. Sie müssten die Arbeit der Programme medizinisch überwachen und bei Problemen dafür sorgen, dass ein Arzt-Patienten-Gespräch zustande kommt, entweder von Angesicht zu Angesicht oder auch vor der Webkamera. Weite Bereiche der Therapie chronischer Krankheiten würden so aus dem regulären (ambulanten) Praxisbetrieb ausgegliedert. Die akute Versorgung könnte - dank drahtlosen Internettechnologien, Fortschritten in der Mikroelektronik und der Einführung einer elektronischen Krankenakte - von "fliegenden Ärzten" erledigt werden: Allgemeinmediziner für die Grundversorgung, die keine feste Praxis mehr hätten, sondern permanent auf Hausbesuch wären, begleitet von einem Handy zur Kommunikation mit der elektronischen Akte und einem Diagnosekoffer, der zumindest EKG abnehmen, Laboruntersuchungen durchführen und Ultraschalls erstellen können müsste. Die Koordination zwischen ambulanter Medizin, Therapieeinrichtungen und dem Krankenhausbereich würde weitgehend von medizinischen Call-Centern erledigt: Von Versicherungen oder anderen Einrichtungen gesponsorte Expertentelefone, die Gesundheitsberatung und Vorsorge betreiben, die außerdem die Vermittlung der Patienten an Kliniken, Spezialisten oder Rehabilitationseinrichtungen übernehmen.
Ein Gesundheitssystem dieser Art allerdings ist mit dem herkömmlichen Dokumentationswesen nicht zu machen. Wer vom Bett eines Patienten Zugriff auf dessen Papiere haben möchte, der benötigt zumindest eine elektronische Dokumentation. Wenn außerdem Monitorzentren, Call-Center oder andere Einrichtungen Zugriff auf die medizinischen Daten benötigen, wenn aufgrund der Zunahme chronischer Erkrankungen und der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin immer mehr verschiedene Ärzte oder auch Nicht-Ärzte an der Versorgung beteiligt werden, dann kann die elektronische Patientenakte nicht Eigentum des behandelnden Arztes sein. Die einzige denkbare Alternative dazu ist die mehr oder weniger zentral gelagerte Akte, auf die jederzeit und von überall zugegriffen werden kann, etwa in regionalen Krankenaktenarchiven, die über Internetverbindungen erreichbar sind. Der Eintritt in ein solches Archiv wäre dann (chipkarten- oder biosensorgesteuert) von der Zustimmung des Patienten abhängig, vielleicht mit Ausnahme einiger Notfalldaten. Wenn der Patient es für angebracht hält, gestattet er den Zugriff auf seine Daten, wem immer er diesen Zugriff gestatten möchte: Ärzten, Therapeuten, Call-Centern, Versicherungen, in ferner Zukunft vielleicht auch reproduktionsmedizinischen Zentren oder sogar der Unterhaltungsindustrie. Diese könnte über die Erzeugung virtueller Realitäten in Bereiche gelangen, die therapeutisch nutzbar sind, oder sie könnte für ihre virtual-reality-Unterhaltungstempel Zugangskontrollen benötigen, weil die Illusionen so real werden, dass eine angegriffene Gesundheit zum Risiko des Konsumenten werden könnte.
Auch wenn es die Gesundheitspolitiker und auch die meisten Ärzte noch nicht wahrhaben wollen: Die Einführung der elektronischen Dokumentation in der Medizin, telemedizinische Innovationen und die verschwimmenden Grenzen zwischen Medizin und Unterhaltungsindustrie werden zur Entstehung zentraler Krankenarchive führen, und zwar deswegen, weil der Druck der Patienten, die Kontrolle über ihre eigenen Daten zu erlangen, früher oder später groß genug sein wird.