Der Reichstagsbrand
Über 70 Jahre danach ist der Reichstagsbrand noch immer ein vermintes Gelände: Jedem, der sich darauf wagt, drohen Ruhm und Gesichtsverlust zugleich
Die Geschichte um den Reichstagsbrand ist höchst emotional. Es gibt keine neutralen Historiker und kaum neutrale Beobachter. Die Beteiligten unterscheiden nur in „Freund“ und „Feind“, sie beschimpfen sich und überziehen sich gegenseitig mit Prozessen. Noch immer gilt in der offiziellen Geschichtsschreibung die Alleintäter-These. So ist in den meisten Schulbüchern und Lexika vom Alleintäter van der Lubbe die Rede. Nur wenige Veröffentlichungen erwähnen, dass dies umstritten ist. Gleichwohl gibt es immer mehr Historiker und Rechtswissenschaftler, die die Alleintäterthese für überholt halten. Deshalb ist die Geschichte um den Reichstagsbrand auch eine Geschichte darüber, welche Anstrengungen nötig sind, um Geschichte zu definieren. Und welche Anstrengungen nötig sind, fest geschriebene Definitionen wieder umzuwerfen. Er ist damit nicht nur ein Lehrstück dafür, wie Geschichte gemacht wird, sondern auch wie Medien mit Geschichte umgehen.
Die Rollen waren von Anfang an - nach dem Motto „cui bono“ - verteilt: Die Nationalsozialisten behaupteten, die Kommunisten wären die Brandstifter. Die Sozialdemokraten waren sich sicher, die Nationalsozialisten wären es gewesen. Bis in die 50er Jahre war dies auch allgemeine Meinung. Doch dann veröffentlichte Rudolf Augstein in seinem Magazin „Der Spiegel“ 1959/1960 eine Serie, die behauptete, der linksradikale Niederländer Marinus van der Lubbe sei Alleintäter gewesen. Autor der Serie war Fritz Tobias.
In einem Beitrag für den „Bayerischen Rundfunk“ ( Der Reichstagsbrand - Ein Kriminalfall aus der Nachkriegszeit vom 23.2.2006 in Bayern2Radio) griffen die Autoren Tobias Hübner und Gerhard Brack erneut die Vorgänge um die damalige Spiegel-Berichterstattung auf - und stießen damit prompt auf Widerstand aus Hamburg. Der zuständige Redakteur im BR berichtete dem „Kölner Stadtanzeiger“ von „Druck“, den er so in seiner 15-jährigen Redakteurstätigkeit „noch nicht erlebt“ habe. Warum sich der „Spiegel“ mit der Geschichte noch immer so schwer tut, ist nur bei genauerer Betrachtung nachvollziehbar. Der BR-Beitrag untersucht die Genese der Alleintäterthese - und erinnert dabei an die frühen Verwicklungen des „Spiegels“ mit ehemaligen Funktionären der Nationalsozialisten, die bereits der Medienexperte Lutz Hachmeister aufarbeitete.
Die Alleintäterthese wurde wesentlich von ehemaligen Gestapo-Angehörigen und SS-Offizieren lanciert. Wenn die Bedeutung der Unterstützung und Bestätigung dieser These durch führende Massenmedien klein geredet wird, dann läuft die Geschichtsschreibung Gefahr die Legendenbildung dieser NS-Funktionäre mit dem Siegel der Wissenschaftlichkeit zu versehen.
Historiker Wigbert Benz in dem BR-Beitrag
Ende November 2000 sollte Herausgeber Rudolf Augstein den Ludwig-Börne-Preis erhalten. Doch der Termin wurde abgesagt. Der Sponsor des Preises hatte aus einem Beitrag in der Schweizer „Weltwoche“ erfahren, dass die wissenschaftliche Überprüfung der Serie von Fritz Tobias durch das renommierte Institut für Zeitgeschichte nicht nach den üblichen Regeln der wissenschaftlichen Zunft erfolgt worden war. Er kündigte eine Verschiebung um mehrere Monate an und riet dem Spiegel, sich mit dem Thema erneut auseinanderzusetzen. Im April 2001 setzte sich „Der Spiegel“ mit der Kritik an der Serie in dem Artikel Flammendes Fanal auseinander - ließ aber wichtige Anhaltspunkte, die die Alleintäterthese nachhaltig erschüttert hätten, außer Acht. So war vom offenkundigen Anstoß für diesen Artikel, den Vorgängen im Institut für Zeitgeschichte, keine Rede.
Erst seit 2004 lassen sich die Vorgänge auch für Nicht-Wissenschaftler nachvollziehen. Damals publizierte die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler in ihrer Publikation Neues vom Reichstagsbrand ein Manuskript aus dem Archiv des staatlich finanzierten Instituts für Zeitgeschichte, das 1962 die Serie von Fritz Tobias regelrecht demontiert hatte. Unter dubiosen Umständen war es fast vierzig Jahre lang nicht veröffentlicht worden. Der Historiker Hans Schneider hatte in seiner Arbeit für das Institut für Zeitgeschichte nachgewiesen, dass die Alleintäterthese wissenschaftlich nicht haltbar ist.
Hans Schneider fällte damals ein vernichtendes Urteil:
Tobias erreicht die faszinierende Geschlossenheit seiner Argumentation durch eine völlig einseitige, entgegenstehende Aussagen einfach unterdrückende Auswahl, dazu die Einfügung weiterer, nur in der Vorstellung des Autors existenter Scheinbeweise, die mit größter Bestimmtheit als Fakten präsentiert werden. Die Verfälschung des objektiven Tatbestands nimmt Ausmaße an, die weder der Laie noch der Fachmann für möglich halten würde.
Doch Mitarbeiter des Instituts verhinderten eine Veröffentlichung. Das Institut übte sogar Druck auf Schneider aus und verbot ihm, aus seinen Quellen zu zitieren. Aus - vorgeschobenen Urheberrechtsgründen - sollte er seine Ergebnisse auch anderswo nicht veröffentlichen dürfen. Der damalige Institutsmitarbeiter und inzwischen renommierte Historiker Hans Mommsen hingegen bestätigte später die Tobias-These 1964 in den Vierteljahreshaften für Zeitgeschichte des Instituts und verhalf ihm damit zum wissenschaftlichen Ritterschlag.
Der Zeithistoriker Hermann Graml wertete Mommsens Arbeit gegenüber dem BR folgendermaßen:
Hans Mommsen hat auch nur das Buch von Tobias rezensiert. Er hat praktisch keine eigene Forschungsarbeit geleistet. Es hat den Fall nicht geklärt, im Gegenteil, im Grunde genommen stehen in dem Aufsatz von Mommsen noch zusätzliche völlig unbeweisbare Thesen und Behauptungen drin und - um es ein bisschen übertrieben zu sagen - er ist einfach auf die Seite von Tobias getreten und mit ungenügendem Material und mit ungenügender Argumentation, meiner Meinung nach.
Heute bezeichnet die Institutsleitung das damalige Verhalten unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten als „völlig inakzeptabel“. Direktor Horst Müller bezeichnet die Täterfragen als „wieder offen“, die Alleintäterschaft van der Lubbes sei unwahrscheinlich. So ist es nicht abschließend geklärt, wer für den Anschlag verantwortlich war. Für die Täterschaft gibt es nur mehr oder minder starke Indizien - unter anderem verfolgten Bahar und Kugel die These, die SA stünde hinter dem Anschlag. Gerhard Brack hingegen präsentiert in seinem BR-Beitrag einen Gestapo-Agenten, der Lubbe in den Niederlanden aufgesucht und zur Tat animiert haben soll.