Der Schein muss gewahrt bleiben

Eine Tagung in München ist der Frage nachgegangen, warum sich AIDS in Osteuropa so ausbreitet.

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Die Zahl der AIDS-Neuinfektionen in ehemaligen Sowjetrepubliken wächst unaufhaltsam und ist weltweit die höchste: 1,4 Millionen HIV-Positive und an AIDS Erkrankte schätzt UNAIDS. Zwei Drittel aller AIDS-Infizierten Europas leben in Russland, der Ukraine und den baltischen Staaten (Eine rote Schleife für die Welt).

Da in diesen Ländern die Erkrankungen nicht verlässlich erfasst werden, liegt die Zahl irgendwo zwischen 920.000 und 2,1 Millionen Betroffenen. Schon dies ist ein Indiz dafür, wie der gesellschaftliche Umgang mit diesem Thema in Russland und der Ukraine aussieht: Tabus und Ignoranz verschärfen die Situation der Betroffenen und fördern gleichzeitig die Verbreitung. Ein Symposium der Universität München hat sich mit dem Problem beschäftigt.

Eine Krankheit, die es nicht gibt

Stefan Zippel ist Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Allergologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Hier erhalten Infizierte eine HIV-Kombinationstherapie und psychosoziale Betreuung. Zu seinen Klienten gehören auch Spätaussiedler aus Russland und der Ukraine. Und so hat er erfahren, mit welchen Vorurteilen AIDS in diesen Ländern befrachtet ist. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Therapiegespräche, dass die Erkrankung mit Unmoral gleichgesetzt wird. AIDS bedeutet soziale Isolierung, das Schweigen der Erkrankten verhindert eine erfolgreiche Präventionsarbeit.

Die osteuropäischen Patienten kommen in der Regel vom Hausarzt, weil sie irgendwelche diffusen Hauterkrankungen aufweisen, die darauf schließen lassen, dass etwas mit dem Immunsystem nicht in Ordnung ist. Wir bitten sie, einen Test zu machen. Da gibt es keine Widerstände, denn AIDS ist für sie kein Thema, die Krankheit existiert ja nicht. Wenn die Diagnose dann ‚positiv‘ lautet, sind die Betroffenen zuerst schockiert, versteinert – gleichzeitig ist es für die Betroffenen enorm wichtig, nicht als homosexuell oder drogensüchtig eingeschätzt zu werden. Sie wollen als anständige Mitbürger eingestuft werden, die durch einen dummen Zufall mit HIV in Kontakt gekommen. Der Schein muss unbedingt gewahrt bleiben, auch im therapeutischen Gespräch. Die Krankheit wird völlig ausgegrenzt. Erst nach Monaten fasst so ein Patient vielleicht Vertrauen und erzählt Dingen, die er vorher verschwiegen hat. Glücklicherweise haben wir hier an der Klinik einen russischen Gastarzt und seine Frau, die als Doktorandin an der Klinik arbeitet. Beide sind gute Ansprechpartner und dolmetschen.

Stefan Zippel im Gespräch mit Telepolis

Tragisches Schweigen

Sehr häufig trifft die Erkrankung die ganze Familie: Wenn einer positiv sind, steckt er die restlichen Mitglieder an. Nach Zippels Beobachtung betreuen sich Aussiedler untereinander sehr gut, doch das Thema AIDS wird nie angesprochen. Darüber kann nur im engsten Kreis der Betroffenen gesprochen werden. Sexualität ist kein Gesprächsthema, und auch nach langen Kontakten muss Zippel extrem aufpassen, mit welchen Formulierungen er das Thema anschneidet.

Dieses Schweigen kann tragische Folgen Haben: Bei einer von Zippels Patientinnen wurde in der Schwangerschaft vom behandelnden Frauenarzt nicht intensiv genug nachgefragt, ein HIV-Test unterblieb und so hat die Mutter ihr Kind angesteckt.

„Positiv“ in Osteuropa

Die Spätaussiedler tragen nach Deutschland, was sie in ihrer Heimat erfahren haben: Wer HIV-infiziert ist, wird diskriminiert, und nicht nur er, sondern die ganze Familie. Da die Leute über Infektionsmöglichkeiten nicht informiert werden, fürchten sie, sich über jeden Händedruck anstecken zu können. Mit Unterstützung internationaler Organisationen stehen zwar Medikamente zur Verfügung, doch sie erreichen die Betroffenen nicht. So kommt es, dass nach Angaben der WHO seit 2004 in der Ukraine 170 Patienten eine Therapie erhielten – bei offiziell 69.000 Erkrankten.

Die Versorgung klappt schlecht, weil die Verteilung der Medikamente nicht funktioniert und die Zahlen, mit denen gearbeitet wird, viel zu gering sind. Hinzukommt, dass die meisten Patienten drogenabhängig sind und zusätzlich Hepatitis C oder Tuberkulose haben, viele Medikamente sind damit nicht mehr anwendbar. Außerdem sind die Ärzte entweder zu schlecht ausgebildet oder zu spezialisiert. Da gibt es einen HIV-Arzt mit mäßigem Wissen, aber der behandelt keine Tuberkulose, das macht der Tuberkulosearzt. So werden die Patienten hin- und hergeschoben bis sie sterben, ohne jemals behandelt worden zu sein.

Stefan Zippel

Viele Infizierte lassen sich nicht testen, weil sie dann registriert werden und das enorme Nachteile bringt. Sie werden diskriminiert und fallen aus dem sozialen Netz. Die gesellschaftliche Ächtung trifft sogar behandelnde Ärzte und Krankenschwestern. Also betreuen sich die HIV-Infizierten untereinander.

Forschungsprojekt gegen Unwissen und Vorurteile

Der Staat ignoriert das Problem und so kann sich die Krankheit ungehindert ausbreiten. Substitutionsprogramme werden nicht einmal diskutiert. Die Sucht wird kriminalisiert. Wer mit einer Spritze erwischt wird, landet im Gefängnis. Das Fazit ist, dass die Spritzen untereinander getauscht werden, und sich die Krankheit üppig vermehrt.

Zippel und sein Team versuchen nun, wenigstens hierzulande gegen das Schweigen anzugehen:

Wir wissen, wenn wir in einem Aufnahmelager eine Veranstaltung machen, kommt niemand, weil er sich damit ja den Verdacht aussetzen würde, er hätte mit HIV/AIDS etwas zu tun. Also versuchen wir, über einen Fragebogen herauszubekommen, was die Spätaussiedler über AIDS wissen und was und wie wir Informationen vermitteln müssen. Nach einem ersten Fehlversuch, bei dem wir die Fragebogen in Aussiedlerunterkünften einfach verteilt haben, wissen wir jetzt auch, dass wir nur Antworten erhalten, wenn die Heimleitung oder schon länger hier ansässige Aussiedler die Fragebogen ausgeben. Dann stammt es von einer Autorität und wird ernst genommen.

Nach einer ersten Durchsicht der Fragebögen hat sich bestätigt, dass der Wissensstand der Befragten von enormen Vorurteilen durchzogen ist: Händeschütteln, husten oder aus dem gleichen Glas trinken gelten als infektiös. Sexualkontakte hingegen werden als wenig risikoreich eingestuft. „In Russland ist es so, dass sich 80 Prozent der Infizierten über intravenösen Drogengebrauch angesteckt haben. Die Leute glauben also, dass sie, wenn sie keine Drogen nehmen, auch kein HIV bekommen“, erklärt Zippel.

Dass er die desolate Situation in Russland und der Ukraine von Deutschland aus nicht beeinflussen kann, weiß Stefan Zippel. Immerhin fördern Veranstaltungen wie das Symposium in München den Erfahrungsaustausch unter engagierten Einrichtungen und Institutionen. Organisationen wie die Deutsche AIDS-Gesellschaft und Connect plus sind bereits dabei, ein Netzwerk nach Osteuropa aufzubauen. Auch deutsche Städte mit Partnerschaften in Russland und der Ukraine sollen dieses Thema in die Zusammenarbeit verstärkt mit einbeziehen. Und es sollen künftig Versuche unternommen werden, durch Aufklärungsunterricht in Aussiedlerunterkünften dem Schweigen entgegenzutreten und die Problematik auch verstärkt in den Deutschunterricht einzubauen. Auf Anfrage gibt Dr. Stefan Zippel gern weitere Informationen zum Thema unter stefan.zippel (at) med.uni-muenchen.de