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"Der Staat verzerrt den gesamten Arbeitsmarkt"

Interview mit Helga Spindler über Hartz IV. Teil 1

Wahrscheinlich wird dieses Jahr die Anzahl der Sanktionen gegen Hartz IV-Bezieher erstmals die Millionenmarke erreichen [1]. Weniger bekannt ist, dass diese Sanktionen mehrheitlich nicht wegen Arbeitsverweigerung, sondern harmloser Vergehen wegen wie Meldeversäumnissen ausgesprochen werden und dass sich der Entzug des Existenzminimums über Monate hinziehen kann, weil der Widerspruch dagegen keine aufschiebende Wirkung besitzt.

Mit der Einführung von Hartz IV hat Rot-Grün seinerzeit auf die Zumutungen des Arbeitsmarktes mit Zwangsarbeit und erweiterte Repressionen [2] für Arbeitslose reagiert. Auch dank der funktionierenden Kollaboration der Medien werden die wesentlichen Folgen dieser Politik für die Lohnabhängigen erfolgreich ausgeblendet, während die Sozialpolitik weiter in Richtung Mittelalter zielt. Telepolis sprach mit der Professorin für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Arbeitsrecht Helga Spindler [3].

Wie der Staat jenseits irgendwelcher Sonntagsreden die Menschenwürde in Mark und Pfennig bewertet

Frau Spindler, Sie gehören zu den Kritikerinnen des niedrigen Existenzminimums und haben sogar eine Senkung gegenüber der Sozialhilfe festgestellt. Was hat sich mit Hartz IV geändert und wie wurde das vom Gesetzgeber begründet?
Helga Spindler: Die Bestimmung eines verbindlichen Existenzminimums, das vom Staat garantiert wird, ist immer schwierig. Das war auch schon in der Sozialhilfe so. Damals gab es unter dem sogenannten Warenkorbmodell heftige Auseinandersetzungen - welchen Verbrauch nimmt man an, von welchen Preisen geht man aus.. - und mit dem Übergang zum Statistikmodell, der schon 1990 stattgefunden hat, ging die Auseinandersetzung weiter, obwohl sich die Regelsätze zunächst merkbar erhöhten. Überhaupt wurde jedes Jahr erhöht, wenn auch nicht immer ganz parallel zu den Lebenshaltungskosten.
Mich hat immer interessiert, wie der Staat jenseits irgendwelcher Sonntagsreden die Menschenwürde in Mark und Pfennig bewertet. Ich fand - bei allem Jonglieren mit Zahlen, die es in solchen Verfahren immer geben wird - beeindruckend, wie vergleichsweise redlich man mit dieser Frage umging.
So wurden zum Beispiel Sonderuntersuchungen über Energieverbrauch angesetzt, weil man wusste, dass eine allgemeine und ältere Statistik hier keine genauen Daten liefert. Oder man versuchte Zirkelschlüsse zu verhindern oder empfahl eine Sonderpauschale für Bekleidung von Teenagern, weil erkennbar war, dass da mehr gebraucht wird. Außerdem gab es viele einmalige Beihilfen, die einen niedrigen Regelsatz bei bestimmten Bedarfen ergänzen konnten, allerdings schon um den Preis eines hohen Verwaltungsaufwands und vieler Einzelkonflikte und Willkür. Aber man hat sich wenigstens noch bemüht [4], wobei es Hinweise gibt, dass das auch der Systemkonkurrenz zum Ostblock geschuldet war.
Was hat sich dann seinerzeit mit Rot-Grün geändert?
Helga Spindler: Seit sich die rot-grüne Regierung und damit der Bund der Regelsätze angenommen hat, kam es zu einer neuen Dynamik. Erstmals in der Geschichte wurden im Jahr 2004 die Regelsätze überhaupt nicht angepasst und danach wurden die Sätze von den Lebenshaltungskosten abgekoppelt.
Diese sollten sich - aus Gerechtigkeitsgründen! - wie die Renten entwickeln, die man ja gerade begonnen hatte unauffällig, aber empfindlich abzusenken. Mit der Regelsatzverordnung von 2004 durch Ulla Schmidt wurde der Umgang mit den statistischen Daten immer fragwürdiger. Im Prinzip ist 2004 das Gleiche passiert wie nach der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung 2010, aber damals hat sich kaum jemand dafür interessiert.

"Lediglich ein geglückter PR-Coup"

Was ist damals konkret geschehen?
Helga Spindler: 2004 gelang es die Öffentlichkeit zu täuschen, weil doch scheinbar im Ergebnis mehr gezahlt wurde als vorher, und der neue Eckregelsatz von 296 € auf 345 € anstieg. Aber der damit finanzierbare Bedarf wurde deutlich gesenkt, weil die meisten einmaligen Beihilfen mit viel zu niedrigen Beträgen pauschaliert wurden. Nicht berücksichtigt wurden die völlig neue Belastung aus der Gesundheitsreform und die Bildungskosten, gekürzt wurden Ausgaben für Energie und Mobilität, für Lebensmittel und Bekleidung - trotz steigender Preise.
Und bei Kindern ab 6 Jahren und Jugendlichen ab 14 Jahren wurden zusätzlich die Regelsätze um 5 beziehungsweise 10 Prozent gesenkt, was sich ebenfalls hinter einer kleinen nominalen Erhöhung des Betrags verstecken ließ und eigentlich der größte Skandal ist. (Bei den Kindern bis 14 Jahren wurde das, um dem Bundesverfassungsgericht zuvorzukommen, freiwillig korrigiert. Bei den erwerbsfähigen Jugendlichen ist man hart geblieben, um sie für Niedriglöhne zu konditionieren).
Statt die damit umgesetzte Senkung des Existenzminimums wenigstens noch politisch zu rechtfertigen und offen auszuweisen, wurde in der Pressearbeit allen Ernstes behauptet, die Situation der betroffenen Menschen "verbessere" sich und die Leistungen für Familien würden gegenüber früher "gerechter verteilt". Bis heute hält sich, auch in wissenschaftlichen Abhandlungen die Behauptung, die ehemaligen Sozialhilfebezieher seien die Gewinner der Hartz-Reform gewesen und nur einige Arbeitslosenhilfebezieher mit überdurchschnittlichen Bezügen hätten etwas verloren.
Das war aber lediglich ein geglückter PR-Coup. Üblicherweise raten neoliberale Berater im Rahmen der Haushaltskonsolidierung Leistungen nominal einzufrieren, um keinen Widerstand in der Bevölkerung zu erregen, von der man hofft, dass sie die schleichende Entwertung erst mit Verspätung bemerkt. Hier wurde eine Senkung erfolgreich als Erhöhung verkauft [5].

"Lächerliche Erhöhung von 5 Euro"

Was hat sich dann nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geändert?
Helga Spindler: Von einer Indexbindung von Sozialleistungen an die Lebenshaltungskosten schreckt die Politik zurück, weil sie dann sofort auf die Verschlechterung der Lage reagieren und die Menschen unterstützen müsste. Will man aber eine menschenwürdige Existenz sichern, kommt man um die Indexbindung nicht herum. Das bestätigte auch das Bundesverfassungsgericht.
Ursula von der Leyen hatte deshalb nicht mehr ganz so viele Gestaltungsspielräume und musste schon offener die Absenkung einzelner Bedarfsbestandteile darlegen. Die statistischen Werte und Bezugsgruppen hat sie aber, wo es ging, nach wie vor nach vor allem nach unten bemessen 1 [6], indem sie eine ärmere Vergleichsgruppe wählte und eine Reihe von Verbrauchspositionen gestrichen hat. Das hat dann zu der lächerlichen Erhöhung von 5 Euro geführt, während man bei den Kindern nominal gleich blieb und dieses kleine, durch viele Hürden schwer zugängliche Bildungspaket aufsattelte. Das hat zwar Aufmerksamkeit gefunden und viele Menschen empört.
Aber die Kontrolle dieser Statistiktricks ist vielen, allen voran den einschlägigen Gerichten, Landessozialgerichten und dem Bundessozialgericht, schon viel zu kompliziert, weshalb sie dem "armen Staat" einen nicht kontrollierbaren Spielraum nach unten zugestehen wollen [7]. Und auch die Grünen haben ihre Forderung nach einer Erhöhung auf mäßige 420 Euro schon wieder zurückgestellt. Das wäre kein großes Geschenk, sondern nach meiner Schätzung heute niedriger als das Sozialhilfeniveau Ende der 1990er Jahre.
So richtig weit unten, wie manche Ökonomen das wollen (30 bis 50 Prozent niedriger), ist der Regelsatz noch nicht, aber es gibt seit 2003 eine stetige Abwärtstendenz. Und wenn die Pläne der kommunalen Träger aufgehen, zusätzlich zu den vielen Aufrechnungsmöglichkeiten einen wachsenden Teil ihrer Unterkunftskosten davon zahlen zu lassen, dann hat man trotz kleiner, nominaler Erhöhungen eine solide Absenkung erreicht.
Welche Entwicklung wurde mit dieser Politik in Gang gesetzt?
Helga Spindler: Das Tückische liegt darin, dass sich speziell in Deutschland die ganze Diskussion um das Existenzminimum auf die Regelsätze von Menschen ohne Arbeit konzentriert, statt auf existenzsichernde Löhne. Armutslöhner beziehen deshalb die Auseinandersetzung nicht auf sich, sondern denken, das betreffe nur Arbeitslose oder Randgruppen und werden sogar abgeschreckt, aufstockende Leistungen zu beantragen.
Dabei würden sie bei höheren Regelsätzen durch viele Freibeträge, besonders den Steuerfreibetrag, auch profitieren, was ihnen aber nicht erklärt 2 [8] wird. So gibt es zu viele Möglichkeiten, die insgesamt wachsende Armutsbevölkerung politisch gegeneinander auszuspielen. Deswegen werden Protagonisten, die 5 Euro in der Stunde verdienen und beteuern, sie würden sich schämen, dem Staat auf der Tasche zu liegen, zwar doppelt ausgebeutet, aber von Politik und vielen Medien sehr geschätzt.

"Wie im Mittelalter"

Wie passen diese Maßnahmen mit dem Konzept der Eigenverantwortung zusammen und beißt sich dieses Prinzip mit der landesweiten Errichtung sogenannter "Tafeln" nicht in den Schwanz?
Helga Spindler: Das passt hervorragend zusammen, es kommt nur drauf an, wie man Eigenverantwortung definiert! Die Eigenverantwortung ist Teil des staatlichen Aktivierungskonzepts, "unabhängig" von der staatlichen Existenzsicherung zu werden und bedeutet nur, dass man sich sein Existenzminimum irgendwo anders in der Gesellschaft zusammensuchen soll, ob in der Familie, durch Flaschensammeln, durch Prostitution, durch prekäre Selbstständigkeit oder durch niedrigen Arbeitslohn. Das alles ist aus staatlicher Sicht - wenn es knapp wird, verbunden mit Tafelspeisungen - eigenverantwortlich.
Statt sich "passiv" durch Sozialleistungen "alimentieren" zu lassen und damit unerkannt wie jeder andere einkaufen zu gehen, muss man sich bei den Tafeln "aktiv" um seine Lebensmittel kümmern. Gleichzeitig werden Ehrenamtler und vor allem Unternehmen und Privatspender aktiviert, die das zum Imagegewinn nutzen können und denen man gern eine Spendenquittung zukommen lässt, auch wenn sie die Steuereinnahmen , aus denen die Existenzsicherung finanziert werden muss, vermindert. Und weil sich diese Sachspenden statistisch im Ausgabeverhalten niederschlagen, gewinnt man jedes Jahr eine bessere Begründung, den Regelsatzanteil für Lebensmittel niedriger zu bemessen.
Hier wird mit ganz langem Atem und tatkräftiger Unterstützung von Mc Kinsey der Gesellschaft ein Teil der eigenverantwortlichen Versorgung der Armen zurückgegeben, die sie im Mittelalter auch schon wahrgenommen hat. Hinter der Tafelbewegung mögen gute Absichten stecken, aber die Kombination mit den zu niedrigen Regelsätzen und Löhnen macht sie für mich obszön [9].

"Besonderer Druck auf die Kinderregelsätze"

Aber es sollen doch vor allem niedrigere Löhne ermöglicht werden?
Helga Spindler: Ja, es gibt noch einen weiteren "Aktivierungsaspekt" und das ist der Anreiz niedrigere Löhne anzunehmen. Bisher hat in Deutschland noch kein Regelsatz, ob er niedrig oder hoch war, die Etablierung eines Niedriglohnsektors verhindert. Die staatliche Aufstockung und damit die ebenfalls teure Subventionierung von Niedriglöhnen wird auch von Ökonomen durchaus begrüßt, die ansonsten die Arbeitskraft möglichst dem freien Spiel der Weltmarktpreise überlassen wollen. Aber ein höherer Regelsatz gefährdet die Akzeptanz dieser Niedriglöhne durch den Vergleich.
Deshalb sollen die Nichtarbeitenden so wenig pauschale Geldmittel wie möglich erhalten, damit "ihre Selbsthilfekräfte stimuliert" werden und sie sich beim Lohn "konzessionsbereiter" zeigen. Wie schnell man sie dahin bekommt, wird bereits durch viele Forschungsaufträge untersucht. Wenn sie dann schon aus Zeiten der Arbeitslosigkeit den Weg zur nächsten Tafel kennen, wird das Leben mit Niedriglohn auch erträglicher und alle Beteiligten sind optimal aktiviert.
Alle, die diese "Selbsthilfe" durch niedrige Regelsätze stimulieren wollen, haben ein großes Problem, wenn sich die Regelsätze bei Familien mit Kindern addieren und damit in der Summe die Niedriglöhne erreichen und übertreffen. Das erklärt den besonderen Druck auf die Kinderregelsätze [10]. Aber so weit wie in Großbritannien, wo man bereits laut nachdenkt, ab dem dritten Kind nichts mehr zu zahlen, sind wir noch nicht.

Sanktionen: "sehr rasch und ohne größere Prüfung ausgesprochen"

Die finanzielle Degradierung der Arbeitslosen geht mit einer dramatischen Entrechtung einher. Welche Rolle spielen dabei die Verschärfungen der Zumutbarkeitsregelungen für Arbeit und die sogenannten "Sanktionen"?
Helga Spindler: Hinter der Diskussion über das Existenzminimum wird die Debatte um die Entrechtung der Arbeitslosen, den Abbau ihrer Gestaltungsspielräumen, Mitsprachemöglichkeiten und die Demütigung durch Verwaltungsprozeduren und "Helfer", denen sie völlig ausgeliefert sind, oft vergessen. - Das erscheint zunächst plausibel, denn so eine Rechtsschutzkultur wie in Deutschland und spezielle Sozialgerichte haben die wenigsten Länder. Aber auch Gerichte müssen sich an gesetzliche Regeln halten und so werden die für Arbeitslose strukturell benachteiligenden Bestimmungen in regelmäßigen Abständen verschärft.
Die Menschen werden beispielsweise durch die Zumutbarkeitsregel strukturell benachteiligt. Sie ist zwar im Wortlaut der in der Sozialhilfe sehr ähnlich, über die sich 40 Jahre lang niemand besonders beschwert hat. (Man hat nur die Berücksichtung von Pflichten der Haushaltsführung gestrichen, damit auch traditionelle Hausfrauen durch volle Arbeitsverpflichtung endlich "emanzipiert" werden können). Aber mit der Sozialhilfe wurden weniger und eher arbeitsmarktferne Bezieher versorgt, während mit den ehemaligen Arbeitslosenhilfebeziehern Menschen mit Arbeitserfahrung und Ausbildung in das neue System kamen, deren Fähigkeiten durch den Zwang, jede Arbeit annehmen zu müssen, völlig entwertet werden.
Auch Sanktionen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit gab es damals bereits sowohl in Form von Sperrzeiten im SGB III (in der Arbeitslosenversicherung und damit auch bei der Arbeitslosenhilfe fiel auch früher schon bei sogenannten versicherungswidrigem Verhalten der Anspruch bis zu zwölf Wochen weg), als auch als Wegfall des Rechtsanspruchs in der Sozialhilfe [11].
Aber Letzteres wurden nur sehr vorsichtig und erst nach Konsultationen eingesetzt und vor allem nicht, wenn weitere Familienmitglieder von dieser Maßnahme betroffen waren, weil man sich der Brisanz der Streichung des Existenzminimums bewusst war. Damals konnte man auch während einer Sperrzeit, die ja schon immer eine befristete hundertprozentige Sanktion war, einen verminderten Sozialhilfesatz bekommen, um zu überleben. Das ist jetzt alles abgeschafft.
Heutzutage werden Sanktionen sehr rasch und ohne größere Prüfung ausgesprochen und die häufigeren Behördenkontakte werden offenbar nicht vornehmlich zur Beratung und Unterstützung genutzt, sondern bewirken als sichtbarstes Ergebnis nur deutlich mehr Sanktionen. Zusätzlich hat man auch Familienmitglieder, die für sich selbst genug verdienen, aber nicht alle in der Bedarfsgemeinschaft ernähren können, gesetzestechnisch mit hilfebedürftigen Langzeitarbeitslosen gleich gestellt, um auch sie mit Pflichten und Sanktionen konfrontieren zu können.
Durch alle diese Änderungen hat sich die Anwendung und Auswirkung der Regel verschärft, was noch dadurch verstärkt wird, dass heute Firmen, die sich wegen ihrer unattraktiven Arbeitsangebote früher bei einem Jobcenter nicht gemeldet hätten, übereifrig "beliefert" werden, da diese Vermittlungserfolge produzieren.

"Widersprüche haben keine aufschiebende Wirkung mehr"

Welche Folgen hat diese Praxis für den Arbeitsmarkt?
Helga Spindler: Es kann nicht beruhigen, dass nur wenige Sanktionen wegen Verweigerung zumutbarer Arbeit ausgesprochen werden, wobei sogar schon Versuche einen höheren Lohn zu fordern als sanktionswürdig eingestuft werden. Denn schlimmer sind die Auswirkungen da, wo Stellen nur wegen dieses Sanktionsdrucks angenommen werden. Dort unterbindet der Staat einseitig das Aushandeln der Arbeitsbedingungen und verzerrt damit den gesamten Arbeitsmarkt.
Wenn wir heute das Anwachsen von Hungerlöhnen, Befristungen, tarifloser Beschäftigung beklagen, dann ist das nicht der Globalisierung geschuldet ist, sondern dem staatlichen Druck, der dazu geführt hat, dass solche Stellen auch mit qualifizierten Kräften besetzt werden konnten.
Die in Deutschland traditionell unbeliebte Leiharbeit ist so nicht nur ausgebaut, sondern auch von staatlicher Seite davor geschützt worden, attraktivere Arbeitsbedingungen auch nur andenken zu müssen. Gestaltungsfreiheit und Mitsprachemöglichkeiten werden den Menschen allerdings auch auf anderen Ebenen genommen [12]. Denn alle Fördermaßnahmen, mit denen doch eigentlich geholfen werden soll, stehen unter Sanktionsdrohung.
So werden Maßnahmen, wie die immer gleichen Ein-Euro-Jobs, wiederholte Bewerbungstrainings und von bestimmten Firmen systematisch ausgenutzte unbezahlte Praktika, die viele nicht freiwillig wählen würden, den Hartz-IV-Beziehern in vorgedruckten sogenannten "Eingliederungsvereinbarungen" vom Jobcenter aufgenötigt. Weiterbildung und regulär bezahlte geförderte Arbeit sind praktisch aus dem Förderkatalog verschwunden. Statt Zugang zu seriöser Berufsberatung zu erhalten wird man fragwürdigen Profiling-Techniken unterworfen, die nach beruflichen und persönlichen Defiziten fahnden.
Beschäftigungsträger dürfen sich anmaßen, das Existenzminimum zu kürzen und beliebig Arbeit zuzuweisen oder auch weiterzuverleihen. Vorher klar umschriebene Leistungen zur Unterstützung der Bewerbung sind in einem Vermittlungsbudget verschwunden, das - gesetzlich nach Ermessen, praktisch unter Sparvorgaben und nach Gutdünken - vom Sachbearbeiter verteilt wird. Anders als im übrigen Rechtsverkehr haben Widersprüche keine aufschiebende Wirkung und den Arbeitslosen sind empfindliche Beweislasten aufgebürdet worden.

"Ständige Ohnmachts- und Abwertungserfahrung"

Wie haben sich im Zuge dieser Entwicklung die Funktionen der Sachbearbeiter verändert?
Helga Spindler: Untersuchungen zeigen, dass Behördenmitarbeiter offenbar nicht mehr darauf ausgerichtet werden zu beraten und zu betreuen (was zwar durchaus noch praktiziert, aber als veraltete Fürsorge- oder Sozialarbeitermentalität abgetan wird), oder gar Arbeit zu vermitteln - was nun der "Kunde" selber oder ein von Prämien abhängiger Dienstleister machen soll -, sondern dass sie sich auf die Kontrolle und Veränderung der Haltung ihrer "Kunden" konzentrieren sollen, nach dem Motto: "Arbeit ist genug da. Wenn Sie noch keine gefunden haben liegt es daran, dass Sie sich nicht flexibel und mobil genug auf die Anforderungen der Arbeitgeber eingestellt haben."
Oder, wie in einem Fall in NRW, wo sich ein "Ü-50er" über das 3. Bewerbungstraining in einem Interview beschwert hat und der Leiter des Jobcenters kühl reagiert hat, er haben ja immer noch keine Arbeit gefunden, das zeige doch wie wichtig die Wiederholung der Maßnahme sei.
Das alles führt zusammen mit Ignoranz und häufig stur weiterlaufenden Verstößen gegen bereits anderslautende Rechtsprechung zu einer ständigen Ohnmachts- und Abwertungserfahrung und nimmt selbst qualifizierten, motivierten und kreativen Arbeitslosen jede Gestaltungsmöglichkeit.

"Akzeptierendere Grundhaltung ist gefragt"

Am 26.9. wurde eine junge Sachbearbeiterin in einem Job-Center bei Neuss umgebracht [13]. Welchen Hintergrund hatte Ihrer Einschätzung nach diese Tat und wie kann in Zukunft dergleichen verhindert werden?
Helga Spindler: Der Vorfall ist erschreckend und tragisch, wie im übrigen viele andere körperliche Angriffe und Bedrohungen gegenüber Jobcentermitarbeitern, durch die gerade die Engagierten zermürbt werden. Über den Hintergrund kann ich nur spekulieren und leider werden solche Vorfälle meist nicht zufriedenstellend aufgeklärt, weil dabei auch die Vorgeschichte des Umgangs mit dem Betroffenen offengelegt werden müsste.
Aber an den Aktivitäten, wie man dergleichen in Zukunft verhindern will, kann man erkennen, von was diese spektakulären Fälle ablenken sollen. Statt Großraumbüros, Hausverboten und mehr Sicherheitskräften benötigen die Mitarbeiter seit Anfang der Reform mehr Zeit und es ist vor allem eine andere, eine akzeptierendere Grundhaltung in Jobcentern gefragt, die unter der gegenwärtigen Herrschaft der Controller und Leistungsvereinbarungen nicht möglich ist [14].
Sinnvoll erscheint mir der Vorschlag eines ehemaligen Mitarbeiters, im Jobcenter unabhängigen Beratungsstellen Räume zur Verfügung zu stellen, Anlaufstellen, bei denen Frust und Resignation genauso ernst genommen werden wie fachliches Wissen und mehr Begleitung bei den Terminen zuzulassen. Das wäre ein guter Anfang, so lange man bei den Mitarbeitern keine andere Arbeitshaltung gegenüber den "Kunden" fördert.
Häufig eskaliert die Situation einfach durch die Existenzangst. Das liegt daran, dass man die Leistungsabteilungen sehr schlecht besetzt hat (von der Gesetzesidee her bewusst, weil die Geldleistung als zweitrangig gilt), die mit ständigen Softwareproblemen ohnehin dauernd lahm liegt. Die oft juristisch und kommunikativ nicht erfahrenen Mitarbeiter werden in unzugänglichen "back- offices" versteckt, wo sie sogar ihre Telephonnummern unterdrücken müssen. Wenn dann die Überweisung ausbleibt oder Unterlagen verschwinden und keine Empfangsbescheinigungen erteilt werden, bricht eben Panik aus.
Statt meist inhaltsleerer Deeskalationstechniken für den einzelnen Mitarbeiter zu schulen, ist eine Deeskalation durch den Gesetzgeber angebracht: Sanktionen reduzieren (und zur Vorbereitung dazu ein Sanktionsmoratorium voranbringen), Zumutbarkeitskriterien ändern, den Datenschutz garantieren (gerade sehr persönliche Daten aus Untersuchungen und Beratung sind nicht verlässlich geschützt), Freiwilligkeit bei Fördermaßnahmen einführen, verlässliche Geldüberweisungen und Auszahlungen in Notfällen. Verhindern kann man einen Angriff nie, aber es sollte zu denken geben, dass solche Vorfälle weder aus der Arbeitslosenhilfe noch aus der Sozialhilfe - wo die Verwaltung auch viel kritisiert wurde - bekannt sind.

In Teil 2 [15] des Interviews äußert sich Helga Spindler unter anderem über die rechtliche Situation der Hartz IV-Empfänger und die Initiierung der Reform durch die Bertelsmann-Stiftung.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.welt.de/newsticker/news2/article109876013/Zahl-der-Hartz-IV-Sanktionen-steuert-auf-Millionengrenze-zu.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Aushungern-und-Fordern-3382678.html
[3] http://www.uni-due.de/edit/spindler/
[4] http://www.uni-due.de/edit/spindler/Geschichte_Sozhilfe_Spindler_2007.pdf
[5] http://www.nachdenkseiten.de/?p=228
[6] https://www.heise.de/tp/features/Der-Staat-verzerrt-den-gesamten-Arbeitsmarkt-3503540.html?view=fussnoten#f_1
[7] http://www.uni-due.de/edit/spindler/Diakonie_Spindler_2009.pdf
[8] https://www.heise.de/tp/features/Der-Staat-verzerrt-den-gesamten-Arbeitsmarkt-3503540.html?view=fussnoten#f_2
[9] http://www.uni-due.de/edit/spindler/Sozialarbeit_und_Armut_Spindler_2007.pdf
[10] http://www.nachdenkseiten.de/?p=1668
[11] http://www.nachdenkseiten.de/?p=10250
[12] http://www.uni-due.de/edit/spindler/entrechtung_2009.pdf
[13] https://www.heise.de/tp/features/Der-Tod-von-Irene-N-im-Jobcenter-Neuss-war-auch-ein-Unfall-3395901.html
[14] http://www.ak-sozialpolitik.de/doku/01_aktuell/ticker/2007/2007_08_07_spindler.pdf
[15] https://www.heise.de/tp/features/Eine-Erpressungsmaschine-3396109.html